Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Julias Söhne
Von Torsten Houben
Schon wieder acht Uhr morgens. Widerwillig setzte ich mich an meinen
Schreibtisch in der Abteilung Verkauf des Großhandels "Geschenke-Franken". Seit
Generationen belieferte die Firma Warenhäuser und kleine Läden mit
Geschenkartikeln - von teuren Porzellan- und Glaswaren bis hin zu billigem Kitsch. Ich war mal wieder als Erster von fünf kaufmännischen Angestellten, die zusammen im Verkauf arbeiteten, am Arbeitsplatz erschienen. Minuten später trudelten auch
die anderen Kollegen ein.
"Moin.", begrüßten sie mich knapp und fragten noch, ob ich ein schönes
Wochenende gehabt hätte. "Ja, ja.", erwiderte ich missgelaunt. Ich war schon immer
ein Montagsmuffel. Bis heute habe ich mich nicht an diesen Tag gewöhnen
können, obwohl ich mich mittlerweile mit meinem besten Freund, von dem unter
anderem diese seltsame Geschichte handelt, selbstständig gemacht habe. Als letztes
erschien, wie immer schon morgens total abgehetzt, unsere Vorgesetzte Frau
Schulte. "War das ein Wochenende. Ich habe mich nicht eine Sekunde ausruhen
können. War das ein Stress." Wie immer fing sie an uns vollzutexten, während
sie ihre immer prall gefüllte Riesentasche auf das Schränkchen neben ihren
Tisch knallte und sich auf ihren Stuhl fallen ließ, der unter der extremen
Belastung hörbar ächzte.
Gleich würde mir die morgendliche Predigt entgegenschallen - und da war sie
auch schon. Unbemerkt flüsterte ich Lippensynchron mit: "Das sieht aber gar nicht gut aus für heute. Wie sollen wir das denn alles schaffen?"
Eigentlich mochte ich die Schulte, aber für dieses Gelaber hätte ich sie
manchmal an die Wand klatschen können, wenn ich mir dabei nicht einen Bruch
gehoben hätte, denn die Schulte war ebenso breit wie hoch. Das heißt mittlerweile
war sie mehr breit als hoch und die Ausmaße waren steigerungsfähig, wie das
knisternde Schokoladenpapier verriet. Die erste Tafel des Tages war fällig.
Ich schaltete meinen Computer an und schnappte mir den Stapel Aufträge, die
ich zu bearbeiten hatte.
Die Tür ging auf und der Personalchef kam in Begleitung eines jungen Mannes
herein.
"Darf ich ihnen unseren neuen Mitarbeiter, Herrn Lehmann, vorstellen. Er wird
in der Exportabteilung tätig sein, also eng mit ihnen zusammenarbeiten, da es
ja eine Unterabteilung des Verkaufs......" Es folgte ein längerer Vortrag,
der mich zum gähnen brachte.
Herr Lehmann machte seine Runde durch unser Büro.
Zuletzt stand er neben meinem Schreibtisch und reichte mir die Hand.
"Lehmann.", stellte er sich selbst noch einmal vor. Ich sah mir den Neuen
etwas näher an. Er war ein gutaussehender Junge, das konnte ich selbst als
Mann erkennen. Seine Augen blickten freundlich und er lächelte etwas schüchtern.
Entweder hatte ihn mein an diesem Tag besonders grimmiger Blick
verunsichert, oder es lag an meiner ehrfurchtgebietenden Größe von knapp zwei Metern. Ich war aufgestanden, um ihn zu begrüßen und schüttelte ihm nun die Hand.
"Huber.", sagte ich wieder mal kurz angebunden. Smalltalk war im Hinblick
auf den inzwischen noch mehr angewachsenen Papierberg nicht drin. Außerdem
winkte der Personalchef Herrn Lehmann wieder zu sich. "Wir machen dann mal weiter die Runde und dann bringe ich sie in ihr neues Büro."
Die Abteilung, die sich um Auslandskunden kümmerte, eine Geldquelle, welche
die Geschäftsleitung erst vor wenigen Jahren für sich entdeckt hatte, lag am
anderen Ende des großen Gebäudekomplexes. Die Tochter des Chefs, Sandra
Franken, würde sicher schon auf ihr neues Opfer warten. Bisher hatte sie noch
jeden neuen Mitarbeiter aus ihrer Abteilung vertrieben. Sie war eine Zicke, wie
man sie sich schlimmer nicht vorstellen kann. Lehmann tat mir jetzt schon
leid. Für mich hieß das nur einen weiteren Namen für ein paar Wochen oder Monate
zu behalten, bis auch dieser Typ das Handtuch geworfen hatte, doch ich irrte
mich.
Sobald die Türe sich hinter Lehmann geschlossen hatte, ging das Getratsche
los.
"Der ist aber komisch.", sagte Frau Schulte kauend.
"Der ist voll die Schlaftablette.", urteilte Kollege Brand.
"Der bleibt nicht lang'", meinte Herr Pollmann.
Mein Gegenüber, Michael Breiter, schwieg. Auch ich sagte nichts.
Mir missfiel die Art, wie schon nach zwei Minuten über einen Fremden geredet wurde. Das konnte ja noch heiter werden. Das Todesurteil für Lehmann war schon
unterschrieben. Mobbing nennt man das wohl.
An diesem Tag sahen wir den neuen Kollegen nicht mehr. Er musste ja auch einiges lernen, bevor er seine Arbeit normal
erledigen konnte.
Ich erinnerte mich an die Zeit vor drei Jahren, als ich der
Neue war. In die verschworene Gemeinschaft des Verkaufs aufgenommen zu
werden, war nicht leicht. Wie musste Lehmann sich fühlen? Er saß in seinem Büro
allein mit der Tochter vom Chef, der Königin der Zicken und musste weite Wege
zurücklegen, um zu unserem Büro zu kommen. Das musste er fast ständig tun,
denn der Austausch zwischen den beiden Verkaufsbüros war notwendig. Wann immer er unser Büro wieder verließ, wurde gelästert. Ich gebe zu, auch ich regte
mich ab und an über den Kollegen auf, der nun einer von vielen war, die mich mit
Aufträgen eindeckten, die ich oft wütend auf den übrigen Haufen Papier
knallte. Wenn ich es heute überlege, muss Lehmann nicht gerade den besten Eindruck von mir bekommen haben. Zum Glück hatte ich bald Gelegenheit diesen zu
korrigieren.
"Nun haben sie sich gefunden. Jetzt müssen sie sich nur noch erkennen.",
dachte Julia, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Ein knappes Jahr später verließ nicht Lehmann die Firma, sondern Sandra
Franken. Sie erwartete ihr erstes Kind. Ich hatte einen recht angenehmen
Arbeitstag. Es wurde viel mit den Kollegen gelacht und herumgealbert, als mein
Telefon klingelte. "Lehmann", zeigte mir das Display an. Schon wieder! Ich konnte
verstehen, das Herr Lehmann, der nun mit allem allein dastand, nicht wirklich
einen Durchblick hatte. Sicherlich hatte die Franken ihm nur das
Allernötigste in der ganzen Zeit erklärt, um ja nicht einen Teil ihrer Verantwortung an
einen Mitarbeiter zu verlieren. Ich war wie gesagt guter Laune und meldete
mich spontan mit den Worten: "Hier katholischer Hundefriedhof -
Beschwerdestelle." Ich hörte ein Lachen am anderen Ende und die Erwiderung: "Hier Planet der
Affen. Ich brauche Hilfe."
"Was kann ich für dich tun?", fragte ich, ohne zu merken, dass ich vom
distanzierten "sie" zum "du" gewechselt hatte.
"Ich finde die Artikelnummer für die Glasschale "Neapel" nicht. Kannst du
mir die vielleicht sagen?"
Auch Lehmann duzte mich nun. Ich gab ihm die
gewünschte Auskunft. Ich musste schmunzeln, als ich den Hörer auflegte. Lehmann,
dessen Vornamen ich immer noch nicht kannte, rief an diesem Tage noch öfter an
und immer meldeten wir uns mit albernen Bemerkungen. Das Eis zwischen uns
beiden war gebrochen.
Es vergingen zwei weitere Jahre, ohne dass wir uns wirklich mal näher kennen
gelernt hätten. Ich sah Lehmann nur ein paar Minuten in der Woche, wenn er
mir Aufträge brachte. Telefonieren taten wir deutlich öfter, aber immer nur
rein beruflich. Inzwischen waren die Büros mit neuen PCs ausgerüstet worden
und wir verfügten nun über eigene E-Mail-Adressen. An diesem Tag ging es mir
besonders gut. Urlaub stand vor der Tür und ich musste nur noch wenige Stunden
ausharren, dann wäre ich für eine ganze Woche von meinem täglichen Leiden
erlöst. Mir machte die Arbeit zwar Spaß, aber die hausinternen Intrigen und
Lästereien der Büros untereinander konnten nervenaufreibend sein.
"Hier Schweine im Weltall.", meldete ich mich, als ich den inzwischen mehr
als vertrauten Namen "Lehmann" auf dem Telefon blinken sah.
"Planet der Affen. Ich maile dir gleich mal die Adresse eines neuen Kunden.
Der möchte heute Ware abholen. Geht das?"
"Na klar, für dich mache ich doch fast alles.", scherzte ich und mein Herz
sagte mir, dass es nicht nur ein Scherz war.
"Natürlich machst du alles für ihn! Er ist wie du! Wann erkennt ihr euch
endlich! Helft mir!"
Kurz darauf leuchtete die Meldung "Sie haben Post" auf meinem Bildschirm.
Die Mail enthielt die Adresse des Kunden. "Aha,", dachte ich, "Absender
'Christoph Lehmann'. So heißt er also."
Ich konnte mir nicht verkneifen eine Antwort zurückzusenden. "Hallo Christoph,", mailte ich, "Auftrag für Kunden ist erledigt. Ich bin
auch erledigt, aber habe zum Glück ab Montag Urlaub. Übrigens heiße ich Thomas,
wo wir uns doch schon die ganze Zeit duzen."
Ich bekam eine sehr nette Mail zurück, in der ich erfuhr, dass Christoph
ebenfalls Urlaub hatte. Es gingen noch so einige Bildschirmnachrichten hin und
her, in denen wir uns über unsere Reiseziele unterhielten. Schließlich schien
Christoph endgültig davon überzeugt zu sein, dass ich nicht der mürrische
Kollege war, den er in mir gesehen hatte. Er erzählte mir von einem Streit
zwischen Frau Schulte und ihm, den ich natürlich mitbekommen hatte. Christoph
fühlte sich mies. Er hatte Angst Unfrieden gestiftet zu haben. "Seid ihr sauer
auf mich?", fragte er in der Mail. In diesem Moment hatte ich das erste Mal ein
echtes Gefühl der Zuneigung zu ihm. Der Junge tat mir leid. Der Streit lag
schon einige Wochen zurück. Hatte er die ganze Zeit diese Sorgen mit sich
herumgetragen? Wenn ich ihm doch nur schon vorher gezeigt hätte, dass er mit mir
über alles reden kann, dass ich sein Freund sein könnte, wenn er mich nur
ließe. Ich schickte eine tröstende Nachricht zurück. Sauer waren die Leute in
meinem Büro wirklich nicht auf ihn. Na ja, die Schulte hatte ihn seitdem
allerdings endgültig gefressen, aber dass teilte ich ihm nicht mit.
"Habt Vertrauen zueinander! Ihr müsst zusammenhalten!", Julias Aura
leuchtete. Sie zwischen Himmel und Erde gefangen. Seit vielen Jahren wartete ihr
Geist auf Rettung.
Nach meinem Urlaub erhielt ich direkt nach Arbeitsbeginn neue Post von
Christoph auf meinem Computer. Er fragte mich, wie die Reise gewesen wäre und so
schrieben wir wieder einmal hin und her. Fast wurde es mir lästig, neben dem
Schreiben der Mails, die immer länger wurden, noch meine gewohnte Arbeit zu
erledigen. Wir erfuhren immer mehr von einander. Wir hatten erfreulicherweise
nicht nur das selbe Alter, sondern auch die selben Interessen. Wir waren beide
Hobby-Schriftsteller. Nicht das wir schon etwas veröffentlicht hätten, aber
es machte uns Spaß, Geschichten zu erfinden. Beide schrieben wir bevorzugt
Fantasy-Storys. Während Chris, wie ich ihn inzwischen nennen durfte, mehr
Richtung Sciene-Fiction, Zeitreisen usw. ging, erfand ich märchenhafte Welten mit
Monstern und Elfen. Wir träumten beide von einer Karriere als Autor. Ich
hatte das Bedürfnis, meinem neuen "Brieffreund" alles über mich mitzuteilen. Ich
schrieb ihm, dass ich bei meinen Großeltern aufgewachsen war, weil meine
Eltern sich hatten scheiden lassen und keiner von beiden das Sorgerecht haben
wollte. Unglaublich aber wahr, waren Christophs Eltern bei einem Autounfall ums
Leben gekommen, als er noch ein Baby war und er war ebenfalls von seinen
Großeltern aufgezogen worden. Zufall? Ich glaube inzwischen nicht mehr an
Zufälle, denn es kam noch mehr.
An einem der nächsten Tage trafen wir uns zufällig während der Mittagspause.
Wir liefen uns einfach so über den Weg und beschlossen spontan die Pause
gemeinsam zu verbringen. Es gab einen schönen Waldweg in der Nähe der Firma und auf diesem wollten wir bei Sonnenschein ein bisschen spazieren - auch eine
unserer Lieblingsbeschäftigungen, wie sich herausstellte. Bei diesem Spaziergang unterhielten wir uns das erste Mal in den drei Jahren, die wir nun Kollegen
waren, so richtig privat und über alles mögliche.
Für den nächsten Tag verabredeten wir uns zum gemeinsamen Mittagessen in
unserer Pause und einen Tag später beschlossen wir, uns abends in einem Lokal in
der Stadt zu treffen.
"Ein Tonic!", bestellten wir wie aus einem Mund. Wir sahen uns nur an und
lachten.
"Ach ne,", sagte Chris, "das hätte mich jetzt auch gewundert. Wir lesen die
selben Bücher, hören die selbe Musik, lieben die selben Filme, sind beide
Hobby-Schreiberlinge, sind Tonic-Trinker.... Habe ich was vergessen?"
"Ne Menge, glaube ich. Ich habe noch nie so jemanden wie dich getroffen. Wenn
zwei Menschen etwas gemeinsam haben, ist das ja schön, aber SO viel Gemeinsamkeiten sind unheimlich."
Ich sah Christoph in die Augen und hatte das Gefühl ihn schon mein ganzes Leben lang zu kennen.
"Habt keine Angst voreinander! Es ist alles in Ordnung. Ihr mögt euch aus
einem Grund, den ihr bald erfahren werdet. Ich werde euch leiten."
"Wenn du jetzt noch sagst, dass du lieber Tee trinkst als Kaffee und lieber
Wein als Bier...."
"Was wenn?"
"Dann renne ich weg.", Chris lächelte wieder. Er meinte es sicher nicht
ernst, aber was sollte ich nun sagen, es war tatsächlich so. Kaffee mochte ich
nur zum Frühstück und Bier überhaupt nicht. Dafür liebte ich Tees und Wein.
"Bleib bitte trotzdem. Es ist so wie du sagst. Irre oder?"
"Das ist verrückt." Als Christoph zufällig das Bild, unter dem wir im "Rock-Cafe" saßen, näher in Augenschein nahm, wurde sein Gesicht ernst. "Ist das
jetzt noch Zufall?" Er deutete auf den Titel des Gemäldes, der in kleinen
krakeligen Buchstaben darunter stand: "Mystery".
"Passt ja mal wieder alles zusammen.", sagte ich. In diesem Moment stürmte
eine Horde Teenager, von denen jeder einen blau-weißen Schal um den Hals trug,
das Lokal. Von uns unbemerkt, hatte man begonnen, auf einer Leinwand das
Fußballspiel Gladbach gegen Schalke zu zeigen.
"Oh nee, Fußball. Ich hasse das.", stöhnte ich. Chris wäre mir, glaube ich,
am liebsten um den Hals gefallen, als er von meiner Abneigung hörte. "Ich fasse es nicht! Ich kann Fußball auch nicht ausstehen."
Langsam wurde mir mulmig. Konnte das alles wirklich nur Zufall sein? Bis auf
unser total unterschiedliches Aussehen, schienen wir wie Zwillinge zu sein.
"Kluges Kind! Ich wusste es, du würdest es als erstes bemerken. Sag ihm
schon was du denkst."
"War ein schöner Abend gestern. Ich habe das Gefühl dich schon eine ganze
Ewigkeit zu kennen", war auf meinem Computer zu lesen, als ich diesen am
nächsten Morgen einschaltete. Genau das, was ich am Abend schon gedacht hatte!
Spätestens in diesem Augenblick wusste ich, dass ich einen Freund fürs Leben
gefunden hatte. Ich hoffte nur, Christoph würde ebenso denken.
"Er mag dich auch! Zweifle nicht! Seht euch in die Herzen, nicht in die Köpfe!"
Dann kam ein Tag, der mir noch immer in den Knochen steckt. Während ich "den
Lehmann" so gut kannte, wie noch nie einen Menschen vorher, ging das üble
Gerede über ihn weiter. An diesem Tag war es besonders schlimm. Keiner meiner
anderen Kollegen hatte mitbekommen, dass Christoph und ich uns angefreundet
hatten. Das Unglück begann, als Herr Jacobs aus der Buchhaltung zu seiner
Busenfreundin Schulte kam, um mal wieder den Betriebsklatsch loszuwerden. Während des Gespräches fiel der Satz: "Seht ihr den Idioten vom Export heute noch?" Damit konnte nur mein Freund Christoph gemeint sein.
"Nein, seitdem ich Streit mit ihm hatte, kommt er kaum noch. Der schickt
andere Leute vor."
Dabei fiel Frau Schulte's Blick deutlich auf mich. Es war wohl doch
durchgesickert, dass ich mit ihrem "Hassobjekt" sympathisierte.
"Der kriegt ja gar nix auf die Reihe."
"Der ist ja auch nur blöd."
"Und ein Temperament hat der! Wie ne Packung Valium."
Die waren noch die harmloseren Bemerkungen meiner "lieben" Kollegen. Ich
spürte, wie das gute Verhältnis, das ich mir in den sechs Jahren bei
"Geschenke-Franken" zu meinen Mitarbeitern aufgebaut hatte, innerhalb von Sekunden zu Staub zerfiel. Meine Halsschlagader schwoll zu beachtlicher Größe. Die konnten mich alle mal! Gleichzeitig fragte ich mich warum mir das Gerede über
Christoph so nahe gehen konnte. Die Kollegen hatten mein wütendes Gesicht wohl
bemerkt. Nun gingen sie auf mich los. Allerdings machten sie das so geschickt,
dass mein Name nicht fiel.
"Die Frau Liebling und Frau Kranz aus der Buchhaltung machen jetzt immer
zusammen Mittagspause und nach Feierabend treffen die sich auch.", sagte die
Schulte sehr laut und wieder mit Blick in meine Richtung.
"Die stehen wohl aufeinander.", sagte Brand, eigentlich einer meiner
nettesten Kollegen, aber mir platzte der Kragen. Die Botschaft war angekommen.
"Ich treffe mich auch privat mit Herrn Lehmann, stehe ich deshalb auf Männer
oder was?", rief ich wütend und das war das Einzige, was die Kollegen an
diesem Tag von mir hörten. Die waren für mich gestorben.
Julia, wie immer unsichtbar anwesend, wenn es um ihre Jungen ging,
flüsterte: "Natürlich liebst du ihn! Es ist Bruderliebe! Erkennt das doch endlich!
seid! Ja mein Lukas, dieser junge Mann ist dein Bruder Simon! Vereint euch und
helft mir! Ich will endlich Ruhe finden."
Langsam kamen mir Zweifel, ob ich mich nicht doch ein wenig in Christoph
verknallt hatte. "Verdammt! Du liebst Frauen du Trottel! Du magst ihn, weil ihr
Freunde seid! Du liebst ihn wie einen Freund!", schimpfte ich mit mir selbst.
"Wie einen Bruder....", kam es mir in den Sinn. Hatte ich das gedacht, oder
habe ich es tatsächlich GEHÖRT? Ich konnte es kaum bis zur Pause abwarten und
lief dann direkt zu Chris, der in seinem Büro schon mit frisch gebrühtem Tee
auf mich wartete. Ich erzählte ihm von dem Gerede und wie schlecht es mir
ging.
"Wieso dir? Ich müsste mich schlecht fühlen."
"Wenn ich das wüsste", ich schüttelte ratlos den Kopf. Da kam mir eine
Idee. "Du Chris, ich bin seit vielen Jahren mit dem Legen von Tarotkarten
vertraut. Ich habe die Dinger schon lange nicht mehr angefasst, aber ich glaube heute wird es wieder Zeit dafür."
"Mach das. So was interessiert mich auch sehr."
"Nicht schon wieder....", lachte ich, um mein Nervenflattern zu überspielen.
Ich war wirklich gespannte auf das Ergebnis.
Am Abend legte ich die Karten und die sagten Unglaubliches aus. Es gab
wirklich eine schicksalhafte Verbindung zwischen Christoph und mir! Die Karten
zeigten ausschließlich Bilder, die von glücklich miteinander verbundenen
Menschen handelten. Sie sprachen von ewiger Treue, blindem Vertrauen, grenzenloser Freundschaft. Doch da war noch eine Karte, die ich mir nicht erklären konnte. Die Karte der "Königin der Kelche". Sie verband die Karten, die ich für
Christoph gelegt hatte, mit den meinen. Eine gefühlvolle, sensible, liebevolle
Frau schien uns vereint zu haben oder hatte in irgendeiner Form mit uns beiden
zu tun. Wer könnte das sein? Ich schickte Chris eine SMS mit dem Ergebnis der
Sitzung, bekam aber keine Antwort. Es war Freitag und so musste ich bis zum
Montag auf eine Reaktion von ihm warten.
Ich mailte ihm auf der Arbeit noch eine genauere Deutung der Tarotkarten und
Chris teilte mir mit, dass er das Ganze sehr interessant finde.. Ich war
etwas enttäuscht. Etwas mehr Begeisterung hätte ich schon von ihm erwartet. Die
Karten sagten eindeutig aus, dass wir wie füreinander gemacht waren Er
äußerte sich nicht weiter und so blieb ich im Ungewissen, ob Chris mich so sehr
mochte wie es die Karten sagten. Ich für meinen Teil konnte mir selbst
bestätigen, dass ich Christoph ins Herz geschlossen hatte, so wie das Tarot es sagte.
Doch die "Königin der Kelche" kam mir nicht aus dem Sinn.
Am folgenden Wochenende klingelte es an meiner Haustür. Ich öffnete und
Chris stand vor mir. Er blickte zu Boden und murmelte etwas von dem ich nur das
Wort "peinlich" verstand.
"Vor mir braucht dir nichts peinlich zu sein.", sagte ich mit fester Stimme, "Was ist denn los? Hast du Ärger mit Manuela?" Ich hoffte nicht, dass die
zwei sich getrennt hatten. Sie waren so ein nettes Paar.
"Nein, alles in Ordnung. Ich hatte letzte Nacht so einen komischen Traum und
du stehst doch auch auf Mystery und son Kram. Ich dachte...", Chris brach
den Satz ab.
"Jetzt komm erst mal rein. Ich mache uns nen schönen Tee und dann erzählst
du mir alles o.k.?"
Wir gingen in die Küche und während ich den Teekessel auf den Herd stellte,
begann Christoph von seinem Traum zu erzählen: "Ich habe von einer Frau geträumt. Sie hatte ein altmodisches Kleid an. So
eins wie man es aus alten Filmen der dreißiger Jahre kennt. Die Frau sprach
mich an. Sie sagte ich müsse einen Lukas suchen. Nur gemeinsam könnten die
Zwillinge den Bann brechen. Dann sagte sie noch etwas von einem Schmetterling,
der den Weg zum Bruder weisen wird. Ich habe keine Geschwister wie du weißt.
Also auch keinen Bruder und schon gar keinen Zwilling. Was soll das alles? Es
war so real. Ich hätte die Frau fast berühren können, so deutlich habe ich
sie gesehen."
"Beruhige dich Chris.", ich legte einen Arm um ihn und sagte: "Es war nur
ein Traum. Man träumt die seltsamsten Dinge. Habe ich dir schon erzählt, wie
ich mal geträumt habe ich würde die Schulte heiraten? Igitt!" Der Gedanke an
eine Hochzeitsnacht mit der Schulte ließ uns beide erschaudern und wir mussten
lachen. Das Thema Alptraum war vergessen. Wir unterhielten uns noch über dies
und das und schließlich verabschiedeten wir uns mit einer freundschaftlichen
Umarmung.
In der folgenden Nacht war ich es, der aus dem Schlaf aufschreckte. Ich
hatte einen Traum. Die Frau, von der Christoph mir erzählt hatte, kam darin vor.
Allerdings sagte sie mir etwas anderes als ihm: "Schäme dich deiner Zuneigung zu Simon nicht. Es ist die Liebe eines
Bruders. Ihr durftet nur wenige Monate miteinander leben, dann kam das Unheil. Nun
habt ihr euch wiedergefunden. Helft mir! Befreit mich!"
"Wer ist Simon?", fragte ich die Gestalt in Gedanken, "Wo soll ich ihn finden?"
"Du hast ihn bereits gefunden! Sieh in sein Herz und erkenne deinen Bruder!"
Die Gestalt löste sich auf, als ich erwachte. Sie war nicht nur in meinem
Kopf! Sie löste sich vor meinen Augen auf! Ich hatte Besuch von einem Geist. Er
hatte mir ins Ohr geflüstert.
Es handelte sich um eine Frau von vielleicht zwanzig Jahren. Sie trug ein
Kleid, wie Chris es mir beschrieben hatte. Es konnte aus der Zeit um 1930
stammen. Ich sprang aus dem Bett und wählte sofort Christophs Telefonnummer.
"Was isn?", brummelte eine schläfrige Stimme. Ich hatte nicht auf die Uhr
gesehen und es war erst drei Uhr.
"Manu? Hier ist Thomas. Ich muss dringend mit Chris reden! Kann ich
vorbeikommen?"
"Vorbeikommen" war gut. Chris und Manuela wohnten ca. 25 Kilometer von mir
entfernt, aber ich wäre zu Fuß nach Afrika gegangen um ihnen die Neuigkeiten
zu erzählen.
"Jetzt? Spinnst du?"
"Wer isn das?", hörte ich Christophs Stimme im Hintergrund.
"Is Tom.", Manuela nannte mich bei meinem Spitznamen. Sie war also nicht
böse auf mich wegen der nächtlichen Ruhestörung.
"Hi, Tom.", Chris hatte ihr nun den Hörer abgenommen. Natürlich könne ich
kommen, sagte er. Er wäre doch immer für mich da, genau wie ich für ihn.
Ich fuhr widerwillig langsamer als ich wollte, doch meine Nachtblindheit
ließ kein höheres Tempo zu und einen Unfall wollte ich nicht riskieren, auch
wenn ich es noch so eilig hatte.
Ich erreichte das Mietshaus in dem Christoph mit seiner Verlobten lebte etwa
1 1/2 Stunden nach meinem Anruf. Manuela öffnete die Tür. Auch Christoph kam
mir schon entgegen.
Ich betrachtete die beiden etwas verlegen. Sie hatten wohl nicht mehr damit
gerechnet, dass ich wirklich auftauchen würde.
"Ich habe wohl bei - ääähhmm - etwas gestört...", fragte ich zaghaft.
Manuela trug nur das Oberteil eines Herren-Pyjamas. Es war gerade lang
genug, um gewisse Stellen ausreichend zu verdecken. Christoph war nur mit der dazu
passenden Hose bekleidet.
"Kannst ja nix dafür. Komm doch rein. Ich bin gespannt was es so wichtiges
gibt."
Chris kam einen Schritt näher und ich starrte ungewollt auf seinen
Oberkörper. Sekundenlanges Schweigen. "He, Tom. Muss ich eifersüchtig werden?", lachte Manu, die meinem Blick gefolgt war.
"Wie?", ich sah meinen Kumpel immer noch an.
"Was ist denn mit dir?", fragte Chris nun und nahm einen Bademantel vom
Garderobenhaken.
"Nein, nicht anziehen.", sagte ich. Ich spürte wie ich rot wurde. "Nicht was
du denkst, Christoph. Mensch, jetzt ist mir das aber total peinlich."
Christoph hängte den Mantel wieder weg.
"Jetzt sag schon, Tom."
"Hast du das schon immer?", fragte ich ihn und deutete auf ein Muttermal,
das mit ein wenig Fantasie die Form eines kleinen Schmetterlings erkennen
ließ. Es befand sich ungefähr in Höhe des Herzens und war deutlich zu sehen. Das
war es, was ich angestarrt hatte.
"Ja klar. Meinst du ich habs mir aufgeklebt?", Chris musste wieder lachen.
"Haltet mich jetzt nicht für verrückt, aber ich muss das jetzt tun. Ich zog
meine Jacke aus. Anschließend begann ich mein Hemd aufzuknöpfen.
"Was gibt das denn wenn's fertig ist?", Manu HIELT mich für verrückt. Ich
konnte ihr anmerken, dass sie zutiefst empört war. Man konnte es ihr nicht
verdenken. Zuerst starrte ich ihren halb nackten Verlobten an und dann begann ich
mich auszuziehen. Ich hätte an ihrer Stelle ähnlich reagiert. Nun vollends
errötet und vor Scham fast in den Erdboden versinkend, zog ich mein Hemd aus und hatte nun nicht mehr an, als Chris.
"Seht euch das an!", ich hielt meinen beiden verdutzten Freunden, meine
Brust entgegen.
"Das gibt's nicht!", Chris fiel die Kinnlade runter und Manu kam so nah an
mich ran, dass sie fast mit der Nase mein Mal berührte. Es war ein
Schmetterling in Höhe des Herzens. Wie bei Chris!
"Es ist geschafft! Ja, seht nur! Ein einzige körperliche Gemeinsamkeit ist
euch beiden geblieben! Ihr seid im Herzen vollkommen gleich. Ihr wart es vor
eurem Tode auch äußerlich! Vollkommen gleich! Meine Babys.", Julia weinte.
Nun war es Chris, der meinen Oberkörper anstarrte.
"Das gibt's nicht!", sagte er immer wieder.
"Tja, wohl doch. Das muss der Schmetterling aus deinem Traum sein - aus
unserem Traum, denn ich habe die Frau auch gesehen!"
"Aber wie...."
"Frag gar nicht erst. Ich weiß es nicht. Nur eins ist sicher. Das ist jetzt
absolut KEIN Zufall mehr. Gemeinsame Interessen, Vorlieben, Abneigungen,
alles schön und gut, das gibt es sicherlich öfter, aber so was? Wir sollten
dringend in unseren Familien nachforschen."
"Du meinst....", Manuela sah mich mit großen Augen an.
"Ja, Christoph und ich sind verwandt!"
Julia hätte am liebsten gejubelt, als sie diese Szene mit ansah. Wie immer
umschwebte sie unsichtbar ihre Söhne. Doch einen Wehmutstropfen gab es: "Nicht
in DIESEN Familien forschen mein Lukas! Forscht in eurem letzten kurzen
Leben! Wiedergeburt! Wiedergeburt!", rief sie immer wieder, doch die Worte
verhallten ungehört.
Ich fragte meinen Vater, ob ihm bekannt sei, dass ich einen Bruder habe,
auch meine Großmutter, Tanten, Onkel, alle wurden von mir nach Geschwistern
gefragt.
"Sagt ruhig, wenn ihr meinen Bruder zur Adoption weggegeben habt. Ich habe
ihn wiedergefunden. Ich bin euch nicht böse."
Ich glaube ich kann froh sein, dass man mich nicht in die Klapsmühle
gebracht hat. Ich wurde sehr sorgenvoll angesehen.
Christoph erging es bei seinen Verwandten nicht anders. Einen Bruder gab es
nie, sagte man ihm. So verrückt wie das alles war, gingen wir beide gemeinsam
zu einem Arzt. Ihm zeigten wir unsere identischen Muttermale und erzählten
ihm auch von den anderen Gemeinsamkeiten. Dr. Schlimm - welch passender Name - sagte, von einem derartigen Fall habe er zwar noch nie gehört, aber es gäbe
ja die seltsamsten Zufälle. Zufall! Wieder dieses Wort. Weder Christoph noch
ich glaubten daran. Wir forderten einen Bluttest, der beweisen sollte, dass
wir doch verwandt waren.
"Vielleicht sind wir nicht Brüder sondern Cousins oder so was.", sagte Chris
voller Hoffnung.
"Die Frau aus unseren Träumen hat was von Brüdern gesagt. Also wenn du nicht
mein Bruder bist wer dann?"
"Zwillinge. Sie sprach sogar von Zwillingen."
"Ja, stimmt. Also bis auf das Muttermal sehen wir uns aber gar nicht
ähnlich.", bemerkte ich fast schon enttäuscht. Ich hätte nichts dagegen gehabt, ein
wenig so auszusehen, wie mein Freund. Ich war zu groß, zu dick und hatte eine
Brille. Chris trug eine Brille nur zum Lesen und war schlank und
durchschnittlich groß.
Das Ergebnis des Bluttests holten wir natürlich wieder gemeinsam ab.
"Negativ. Wir können biologisch keine Brüder sein. Keinerlei Übereinstimmung
in den Genen.", stellte ich fest.
"Was ist dann hier los?", Chris war genau so enttäuscht wie ich. Die Lösung
des Rätsels war in weite Ferne gerückt. Wie so oft nahmen wir uns schon fast
reflexartig in den Arm. Die Blicke der Passanten durchbohrten uns.
"Sie schaffen es nicht allein. Ich muss eingreifen.", Julia verließ die
beiden jungen Männer für kurze Zeit, um jemanden aufzusuchen, der die beiden auf
den richtigen Weg führen sollte.
Es war wieder einmal einer dieser nicht enden wollenden Arbeitstage, als ein
Mann zu Türe hereinkam, der alle Blicke auf sich zog. Er trug ein leuchtend
orangefarbenes Gewand, das bis zum Boden reichte. Sein Kopf war kahl
geschoren und er kam direkt auf mich zu.
"Herr Huber? Bitte kommen Sie mit mir. Ich habe mit Ihnen zu reden."
"Woher wissen Sie meinen Namen? Wer sind Sie?"
"Ihre Mutter schickt mich!", sagte der Mann ernst.
"Meine Mutter? Sind Sie sicher?", ich hatte meine Mutter seit der Trennung
meiner Eltern nicht mehr gesehen. Ich war jetzt dreißig Jahre alt, also war es
über 26 Jahre her.
"Ich glaube nicht, dass meine Mutter sich für mich interessiert, sonst hätte
sie sich früher bemerkbar gemacht." Trotzdem traten mir Tränen der Rührung
in die Augen. Ich bemerkte, dass die Kollegen um mich herum aufgehört hatten
zu arbeiten und alle zu mir herüberstarrten.
"Kommen Sie bitte, Herr Huber."
"Darf ich kurz weg?", mir widerstrebte es, die "Qualle" wie ich die Feindin
meines "beinahe-Bruders" seit kurzem heimlich nannte, nach ein paar freien
Stunden zu fragen.
Meine Tränen hatten wohl das Mitleid der Schulte geweckt und so nickte sie
nur kurz.
Ich verließ mit dem seltsamen Fremden das Büro und erlebte die nächste
Überraschung. Draußen vor dem Gebäude wartete Christoph. Auch er war durch den
Fremden von der Arbeit weggeholt worden.
"Wo können wir ungestört reden?", fragte dieser jetzt.
"Im Wald? Es gibt einen Spazierweg hier in der Nähe.", sagte ich.
"Du willst mit dem Typen in den Wald?", Chris wirkte ängstlich.
"Warum nicht? Wir sind zwei gegen einen oder? Außerdem hat meine Mutter ihn
geschickt."
"DEINE Mutter? Mir hat er gesagt, er käme von MEINER Mutter? Haben wir etwa
doch die selbe oder wie jetzt?"
"Ja und nein", sagte der Fremde.
Wir gingen schweigend den Waldweg entlang. Als wir an einer Bank
vorbeikamen, deutete uns der Mann an, wir sollen uns setzen. "Ich bin Ramazan. Mönch eines buddhistischen Klosters nicht allzu weit von hier."
"Es gibt buddhistische Klöster in Deutschland?"
"Ja, wenige, aber es gibt sie. Kommen wir zur Sache, Lukas, ich darf doch
Lukas sagen?"
"Ich heiße Thomas.", sagte ich, da der Mönch mich ansah.
"Oh, dann ist das wohl ihr alter Name. Wissen sie, ihre Mutter nannte sie
Lukas, da dachte ich, dass wäre ihr Name in diesem Leben."
"Diesem Leben? Was bedeutet das alles?"
"Ich kann ihnen beiden nicht viel sagen. Nur dass mir während des
Meditierens eine Frau erschienen ist. Sie sagte ich solle hierher kommen. Ihre Söhne
Lukas und Simon würden hier arbeiten. Ich soll ihnen sagen, dass der Schlüssel
nicht in diesem Leben liegt."
"Und weiter?", Chris sah Ramazan mit weit aufgerissenen Augen an.
"Nichts. Der Schlüssel liegt nicht in diesem Leben. Wissen Sie, wir
Buddhisten glauben an Wiedergeburt. Man wird solange wiedergeboren, bis man ein
perfektes Leben erreicht hat. Ein Leben nach den Geboten Buddhas. Danach begibt
sich die Seele ins Nirwana, vergleichbar mit dem christlichen Paradies."
"Davon habe ich schon gelesen.", sagte ich.
"Sie sollten das ernst nehmen, auch wenn Sie nicht buddhistischen Glaubens
sind. Ihr seid wiedergeboren worden. Nicht eure jetzige Mutter schickt mich,
sondern eure Mutter aus dem vorherigen Leben. Eure GEMEINSAME Mutter!"
"Dann waren wir wirklich Brüder?"
"Ja, so war es wohl. Ihr hießt Lukas und Simon. Mehr weiß ich nicht."
"Aber was sollen wir jetzt tun? Müssen wir überhaupt etwas tun?"
"Ihr habt lange gebraucht um euch zu finden. Vor einigen Jahren schon traft
ihr euch und erst jetzt haben eure Seelen sich gefunden."
"Hatte ich deswegen dieses Gefühl Thomas, oder sollte ich sagen Lukas, schon
immer zu kennen?"
"So ist es. Euer Äußeres konntet ihr nicht erkennen, da die Körper neu sind,
aber eure Seelen sind alt und erkennen sich in jedem Leben. Auch wenn ihr es
nach euerem hoffentlich noch fernen Tode wieder vergessen werdet, auch im
nächsten Leben werdet ihr wieder vereint werden."
"Das hoffe ich.", sagte ich. Und zögernd fügte ich hinzu: "Ich hab dich lieb
- Bruder."
"Ich dich auch, Alter, ich dich auch.", rief Chris freudestrahlend und boxte mich in die Rippen.
Wir redeten noch lange mit Ramazan über den Buddhismus. Dann verabschiedeten
wir uns. Es war schon nach 17 Uhr, also schon lange Feierabend. Zur Firma
brauchten wir nicht mehr zurück. Wir fuhren gemeinsam zum "Rock-Cafe". Unser
Platz unter dem "Mystery"-Bild war frei. Wir setzten uns und bestellten natürlich Tonic.
"Was sollen wir jetzt tun?"
"Uns freuen, dass wir doch so was wie Brüder sind."
"Reicht das? Warum erscheint diese Frau, die ja wohl mal unsere Mutter war,
uns in Träumen und nervt sogar Mönche? Die muss doch was von uns wollen."
"Tom, wir sollten herausfinden, wo wir beerdigt sind."
"Was?"
"Na ja, wenn wir gestorben sind, müssen wir doch irgendwo ein Grab haben. Wir
wissen, dass wir Brüder, sehr wahrscheinlich sogar Zwillinge waren. Wir
hießen Lukas und Simon. Das muss doch weiterhelfen oder?"
"Aber wir wissen nicht wo wir gelebt haben. Das könnte in ganz Deutschland
gewesen sein."
"Das glaube ich nicht. Wenn unsere frühere Mutter hier am Niederrhein
herumspukt, dann muss sie auch hier gestorben sein. Wir also wohl auch."
"Na gut, wir werden nachforschen."
Wir nahmen uns gemeinsam Urlaub. Provozierend jeder dem anderen den Arm auf
die Schulter gelegt verlangten wir von der Schulte Urlaubsscheine. Diesen
Blick von ihr werde ich nie vergessen, aber wir bekamen was wir wollten.
Unsere Suche beschränkte sich auf die größeren Städte. Wir suchten in alten
Akten, die wir freundlicherweise einsehen durften, nach toten Zwillingen.
Wahrscheinlich hatten Chris und ich auch das selbe Sterbedatum. Davon gingen wir
aus. Irgendwann wurden wir tatsächlich fündig.
"Lukas & Simon Rubenstein, *18.03.1938, + 09.12.1938", konnten wir in einer
alten Sterbeurkunde lesen.
"Rubenstein.", sagte Chris, "hört sich nach einem jüdischen Namen an. Ob wir
Juden waren?"
"Möglich. Sieh mal, unser Geburtstag ist mein jetziger Geburtstag und unser
Sterbetag ist dein jetziger Geburtstag."
"Ja, du hast recht. Ich bin sicher, diese Sterbeurkunde ist tatsächlich
unsere."
"Hey hast du das gesehen?"
"Nein, was. Lies vor!", Chris schaute mir über die Schulter.
Ich las: "Julia Rubenstein, geboren 26.09.1919, gestorben 09.12.1938. Das
muss die Mutter der Zwillinge gewesen sein und sie ist am gleichen Tag
gestorben."
"Da muss was schlimmes passiert sein. Ein Unfall? Oder Mord?"
"Brave Jungs. Ihr seid auf dem richtigen Weg. Sucht die schuldige Person und
rächt mich!"
"Mord? Das glaube ich kaum. Die Zeit um 38 war für Deutschland sehr
schlimm. Hitler und die Nazis."
Ich bekam eine Gänsehaut, als ich an die Schrecken der Nazi-Herrschaft
dachte.
"Wenn die Rubensteins wirklich Juden waren, dann sind sie bestimmt von den
Nazis umgebracht worden."
"Nein, dann gäbe es wohl keine amtliche Sterbeurkunde. Julia und die Kinder
wären irgendwo verscharrt worden und nicht offiziell für tot erklärt."
"Dann müssen wir herausfinden was wirklich geschehen ist. Schließlich geht
es um unsere Familie.", ich sagte das so ernst, dass ich mich selber wunderte.
Es gab für mich keinerlei Zweifel, dass ich einmal Lukas Rubenstein war, der
leider nur 9 Monate lebte. Wenn ich mir dessen sicher war, dann war es Chris
ebenso, das wusste ich.
Wir gingen auf den Friedhof und suchten bei den alten Gräbern nach dem der
Rubensteins. Sicher waren Mutter und Kinder zusammen beerdigt worden. So war
es dann auch. Unwillkürlich griff ich nach Christophs Hand, als wir vor
"unserem" Grab standen und suchte Halt bei ihm.
"Nur gut das Manu uns jetzt nicht sieht.", flüsterte Chris.
Ich wollte seine Hand loslassen, aber er hielt die meine nun ganz fest.
Auf dem Grabstein war in verwitterten Buchstaben das zu lesen, was auch in
den Dokumenten stand. Geburtsdaten, Sterbedaten und die Namen: Lukas, Simon
und Julia Rubenstein.
"Mama hieß Julia.", flüsterte ich. Ich hatte nicht bemerkt, dass mir schon
wieder die Tränen liefen.
"Schöner Name. Das ist dann wohl unsere ,Königin der Kelche' oder?", sagte
Chris ebenso leise und zog die Nase hoch. Er weinte ebenfalls.
Ich weiß nicht wie lange wir so standen, als uns plötzlich jemand auf die
Schulter klopfte.
"Na ihr Tunten? Wat macht ihr hier? Verwandte von euch?"
Zornig drehte ich mich um. Vor mir stand ein kleiner, dicker Mann mit grüner
Gärtnerschürze. Der Friedhofswärter nahm ich an. Ich überragte ihn um
Längen, aber der Zwerg schien keinerlei Respekt vor "Tunten" zu haben.
"Wir sind kein Paar, sondern Brüder.", log ich - obwohl so falsch war es ja
nicht.
"Das ist unsere Großmutter.", schwindelte Chris und nickt mit dem Kopf
Richtung Grabstein.
"Ach so, na denn.", stammelte der Kleine.
"Wissen Sie etwas über die Rubensteins?", fragte ich nun direkt.
"Wat soll ich denn wissen? Juden warn dat. Mehr weiß ich nich. Oder doch
warte. Meine Mutta hat mich ma erzählt dat se die Olle erwürcht ham. Die hatte
uneheliche Blagen und die hamse im Fluss gefunden."
Chris und ich sahen uns an. Der Friedhofsgärtner hatte uns die Augen
geöffnet.
"Wissen Sie wer das war? Der Mörder meine ich!"
"Nie jefunden worn, sachte Mutta."
Wir bedankten uns und entgegen der Friedhofsordnung rannten wir zurück zum
Parkplatz.
Christoph fuhr und brachte uns zur Redaktion der Wochenzeitung.
"Wie lange reicht ihr Archiv zurück?", fragte ich die Dame am Empfang.
"Bis in die zwanziger Jahre. Die Zeitung gibt's seit 1927. Natürlich wurde
im Krieg nicht gedruckt und auch unter Hitler nur eingeschränkt, wegen der
Zensur und so."
"Danke, das reicht. Ob wir wohl mal etwas nachsehen könnten? Wir suchen
einen Artikel aus dem Dezember 1938, also kurz vor dem Krieg."
"Ja, da gibt's bestimmt eine Ausgabe von im Keller. Kommt mal mit."
Wir stiegen eine halsbrecherische Wendeltreppe hinunter und erreichten einen
riesigen, klimatisierten Kellerraum. Die nette Dame führte uns durch die
Reihen der Archiv-Schränken und stoppte mit den Worten: "So hier ist 1930 -
1938. In den Kriegsjahren gab es keine Ausgabe der Zeitung. Was sucht ihr gleich
wieder?"
"Dezember 1938. Wahrscheinlich der 10. oder 11."
"Mal sehn..." Die Frau zog eine der zahlreichen Schubfächer auf und drückte
mir einen Stapel alter vergilbter Zeitungen in die Arme.
"Dezember 1938. Alle Ausgaben. Ihr könnt sie in Ruhe durchsehen. Kommt am
besten wieder mit hoch. Wir haben einen Leseraum. Tee oder Kaffe?"
"Tee. Danke sehr.", sagten Chris und ich wieder fast gleichzeitig.
Wieder folgten wir der Frau und setzten uns in den gemütlich eingerichteten
Lesesaal.
Wir hatten schon zwei oder drei Tassen Tee getrunken, als Chris aufsprang. "Hier! Halt dich fest Tom!"
"Hast du es gefunden?"
"Ja, sogar mit Foto! Hier!", er hielt mir die Zeitungsseite unter die Nase.
Es war tatsächlich die Frau, die uns erschienen war. Ihr Foto war deutlich
genug, um sie eindeutig zu erkennen. Sie trug sogar das selbe Kleid.
"Schade, dass kein Bild von uns drin ist.", sagte ich. "Ich hätte uns gerne
mal gesehen."
"Wir waren bestimmt zwei süße Kinder.", lachte Chris und knuffte mich in die
Seite.
"Ich war bestimmt süß, aber du?", scherzte ich zurück und gab ihm eine
spielerische Kopfnuss.
"Hey, wir waren Zwillinge. Schon vergessen? Wir sahen gleich aus!"
"Da hast du ja Glück gehabt.", sagte ich ironisch und las den Bericht aus
der Zeitung vor:
"Mord im Gemüsegarten!
In der vergangenen Nacht wurde die Jüdin Julia R. tot in ihrem Garten
aufgefunden. Die Frau wurde den Berichten zufolge erwürgt. Die beiden Kinder der
Frau sind als vermisst gemeldet. Es handelt sich um die Zwillingsbrüder Lukas
und Simon R. Man bittet um Hinweise aus der Bevölkerung. Von einer Entführung
kann nicht ausgegangen werden, da keine Forderung nach Lösegeld eingegangen
ist. Der einzige Angehörige, Arthur R., war über das Verbrechen empört."
"Mehr steht da nicht? Sind die Kinder gefunden worden?"
"Mensch Chris!"
"Was ist?"
"Arthur R. Arthur Rubenstein! Wir haben den Vater ganz vergessen! Arthur
Rubenstein war unser Vater! Vielleicht lebt er sogar noch. Wäre doch möglich. Er
müsste so Mitte bis Ende 80 sein."
"Meinst du er lebt wirklich noch?"
"Wenn wir nicht nachsehen, wissen wir's nie. Aber lass uns vorher noch
weitere Zeitungen durchsehen. Es müsste doch noch einen Bericht über den Fund
unserer Leichen geben."
"Sag nicht immer so was."
"Entschuldige. Ich meine über den Fund der toten Rubenstein-Kinder."
"Auch nicht besser."
"Weichei!"
"Hey, wer hält denn Händchen auf dem Friedhof?"
"Ist ja gut wir sind quitt!"
Der gesuchte Artikel war noch kürzer als der über den Mord an Julia. Es
wurde lediglich kurz mitgeteilt, dass die Rubenstein-Zwillinge ein paar Tage
später auf dem Fluss treibend gefunden wurden. Es gab keine Anzeichen von
Gewalteinwirkung. Man schrieb, es wäre ein tragischer Unfall gewesen. Damit war der Fall für die Behörden abgeschlossen. Und wie wir schon wussten, wurde auch
Julias Mörder nie gefunden.
"Deshalb spukt sie herum", sagte Christoph.
"Weshalb?"
"Na weil der Mörder nie bestraft wurde. Sie hat uns zusammengeführt, weil
wir den Mörder finden sollen."
"Ich habe schon eine Ahnung, wer das sein könnte. Ich hoffe für ihn, dass er
schon tot ist, sonst könnte er Probleme bekommen."
"Du meinst doch nicht Arthur oder?"
"Doch, genau den. Über den Vater wird nur gesagt, dass er ,empört' war. Mann, der Typ hat seine gesamte kleine Familie an einem Tag verloren! Das muss
doch ein riesen Schock für ihn gewesen sein."
"Das ist in der Tat seltsam."
"Komm Chris, wir suchen im Telefonbuch nach Rubenstein. Wenn er noch lebt,
dann bestimmt hier im Ort."
Das Telefonbuch erwies sich nicht als besonders hilfreich.
"Gelbe Seiten."
"Meinst du der hat ne Firma?"
"Nee, aber vielleicht ist er in einem Pflegeheim."
"Tom, du bist echt ein helles Köpfchen."
"Ich weiß", bemerkte ich und versuchte damit Chris erneut zu necken.
"Aber nicht so helle wie ich...", sagte dieser und trat vorsichtshalber
einen Schritt zurück, um meinem Ellbogen auszuweichen, der ihn dadurch knapp
verfehlte.
"Meine Jungs. Sie zanken sich wie früher. Bald habt ihr es geschafft meine
Söhne. Dann kann ich endlich in Frieden ruhen."
Wir riefen verschiedene Altenheime an und hatten Glück. Arthur Rubenstein
hatte einen Pflegeplatz im Heim "Haus Waldfrieden". Eine hübsche, junge
Pflegerin zeigte uns das Zimmer des alten Herrn.
"Seid ihr seine Enkel?", fragte sie, bevor sie an die Tür klopfte. "Er hat
noch nie Besuch bekommen. Seit fast 10 Jahren nicht."
"Wir sind Verwandte, ja.", behauptete ich.
"Herr Rubenstein? Hier sind zwei junge Herren, die zu ihnen möchten",
wurden wir angemeldet. Aus dem Zimmer war eine zittrige Stimme zu hören: "Solln
reinkommen."
Die Pflegerin schob uns in den kleinen Raum, zwinkerte uns zu und schloss
die Tür hinter uns. Arthur Rubenstein saß im Rollstuhl. Eine dicke Wolldecke
war um seine Beine gewickelt und er trug eine mit zahlreichen Stoffresten
geflickte Strickjacke.
"Kenne ich euch? Wer seid ihr?" Der Alte sah uns über den Rand seiner Brille
hinweg an.
"Entschuldigen Sie Herr Rubenstein,", fing Christoph an, "Wir sind Reporter
von der WZ, der Westdeutschen Zeitung. Wir arbeiten gerade an einem Bericht
über die Zeit der Nazi-Herrschaft und haben in unserem Archiv einen Artikel
gefunden, der uns sehr interessierte, aber der wenig Informationen enthielt."
"Nazis!", war sichtlich angeekelt. "Zum Glück konnte ich rechtzeitig
fliehen, hatte ja auch keine Familie am Hals, die ich hätte mitschleppen müssen."
"Genau darum geht es.", sagte ich nun. "Was war mit ihrer Frau?"
"Habe nie geheiratet. Ich habe mein Leben genossen, ohne lästige Weiber am
Hals."
"Aber sie waren doch mit Julia verheiratet."
"Julia! Dieses miese Flittchen. Ließ sich von einem aus der Partei, einem
der Nazischweine Bälger machen."
"Dann wurden Sie von ihr betrogen?"
"Sie war nicht meine Frau. Julia war meine Schwester."
Chris warf mir einen vielsagenden Blick herüber. Unser "Onkel" Arthur schien
Julia gehasst zu haben, wenn nicht sogar alle Frauen. Zumindest schien er
keine gute Meinung über das weibliche Geschlecht zu haben.
"Wir haben von dem Mord gelesen. Julia ist erwürgt worden. Haben Sie eine
Ahnung wer es getan haben könnte?"
"Ich wünschte ich hätte es getan. Wäre mir ein Vergnügen gewesen. Diese
Schlampe! Ausgerechnet mit einem Arier!"
"Sie waren es NICHT?", Chris fragte, als ob eine Welt für ihn zusammenbrach.
"Was soll das? Natürlich nicht. Ich war nicht besonders traurig über ihren
Tod, aber ich habe es nicht getan.", Herr Rubenstein begann zu husten. Er
regte sich sichtlich auf. Mit zwei Fingern angelte er eine Asthma-Pumpe aus
seiner Jackentasche und benutzte sie gierig.
"Wir gehen dann besser. Auf Wiedersehen, Herr Rubenstein.", verabschiedete
ich mich.
"Moment noch.", Chris hielt mich zurück. "Wer war der Vater von Julias
Kindern, Herr Rubenstein? Wissen Sie das?"
"Klar. Diese Drecksau!", für einen Mann an die Neunzig kannte Arthur ganz
schön heftige Schimpfworte, "Franken war sein Name. Vielleicht kennen sie die
Firma "Geschenke-Franken". Er war der Gründer. Seine Söhne und Enkel leiten
die Firma heute. Der Kerl hat seine Frau mit meiner Schwester betrogen."
Unsere Überraschung war groß. Niemand anderes als der Vater unserer Chefs
war auch der Vater von Lukas und Simon! Die Frankens waren in unserem früheren
Leben unsere Halbbrüder!
"Halt mich fest! Mir wird schlecht!", ich setzte mich im Park des
Pflegeheims auf eine Bank und Chris ließ sich neben mir fallen.
"Das ist der Hammer.", er war bleich geworden.
"Es ist zwar eine schwere Aufgabe, aber wir müssen die Frankens nach deren
Vater fragen. Es wäre möglich, dass sie etwas über seine Beziehung zu Julia
Rubenstein wissen."
Chris und ich fuhren zur Firma und fragten an der Zentrale, ob einer der
Chefs im Hause sei. Nur Alfred Franken war da, der Älteste der drei Brüder. Er
empfing uns nur widerwillig. Wahrscheinlich dachte er, wir würden um eine
Gehaltserhöhung - die in der Tat mal wieder überfällig gewesen wäre - bitten.
Statt dessen sagen wir ihm, wir hätten einige persönliche Fragen.
"Hmm", brummte er, "Was soll das denn jetzt?"
"Herr Franken, es ist wirklich wichtig für uns. Es geht um gemeinsame
Bekannte von uns. Sagt Ihnen der Name Rubenstein etwas?"
"Rubenstein? Ja, ich erinnere mich. In meiner Kindheit hatten wir einen
Nachbarn mit diesem Namen. Das muss während des Krieges gewesen sein. Irgendwann war er verschwunden, wahrscheinlich geflüchtet. Er war Jude müssen Sie wissen."
"Und Julia Rubenstein? Kannten Sie die auch?"
"Nein, eine Julia ist mir nicht bekannt."
"Herr Franken, Iihre Mutter lebt doch noch so viel ich weiß oder?", fragte
ich.
"Ja, sie ist weit über Neunzig, aber noch ziemlich gut in Schuss.", Franken
lächelte. Es war das erste Mal, dass ich eine menschliche Reaktion von ihm
sah.
"Ob es wohl möglich wäre sie kurz zu sprechen? Ich weiß, es ist ungewöhnlich
und ich kann Ihnen das auch nicht erklären, aber es ist wichtig für Herrn
Lehmann und mich."
Franken sah uns beide abwechselnd an und war sichtlich verwirrt. Er willigte
aber ein und nannte uns die Adresse seines Geburtshauses, in dem Berta
Franken immer noch lebte.
Wir brachen gleich auf und die Putzfrau der Frankens öffnete uns. Das
Häuschen lag direkt an dem kleinen Fluss, der weite Teile des Landkreises
durchquerte.
Berta Franken war eine zerbrechliche Greisin, mit einem Gesicht, das alle
Erlebnisse ihres langen Lebens widerspiegelte. Wieder erfanden wir Ausreden
und fadenscheinige Gründe für die Befragung und kamen auf die Rubensteins zu
sprechen. Augenblicklich verwandelte sich der freundliche Ausdruck in eine
eiskalte Miene.
"Mein Mann hatte ein Verhältnis mit der Nachbarin. Ja, es stimmt, Julia
Rubenstein war schwanger von ihm und bekam Zwillinge. Sie wohnte direkt hier
nebenan. Es war ein Doppelhaus, doch die eine Hälfte wurde später abgerissen. Tag
für Tag musste ich dieser Frau begegnen. Ich hasste sie so sehr. Ich hatte
Angst, meinen Mann an sie zu verlieren. Wir hatten doch unseren Sohn."
"Alfred", sagte ich.
"Ja. Einige Jahre später bekam ich noch weitere Söhne, aber da war Julia
schon weg. Auch deren Bruder war geflüchtet vor den Nazis."
"Frau Franken", Chris legte seine Hand auf die runzlige Hand der alten
Frau, "wir wissen, dass Julia Rubenstein nicht geflüchtet ist. Sie starb vor dem
Krieg. Im Dezember 1938. Sie wurde erwürgt."
"Stimmt, das hatte ich vergessen. Der Mord stand damals in der Lokalzeitung
glaube ich. Sie wurde mit einer Wäscheleine erdrosselt.", Berta lächelte nun
wieder.
"Wäscheleine?", ich horchte auf.
"Ja, das stand in der Zeitung."
Ich stieß Christoph an und flüsterte ihm zu, er solle mich hinaus begleiten.
Ich entschuldigte mich bei Frau Franken und zerrte meinen Freund am Ärmel in
den Flur.
"Erinnerst du dich an den Zeitungsartikel?"
"Ziemlich genau. Stand ja nicht viel drin."
"Eben! Die Wäscheleine wurde nicht erwähnt. Berta lügt!"
"Das heißt ja..."
"Ja Chris, wir haben die Mörderin gefunden!"
Julia seufzte erleichtert. Nun war sie nicht mehr in der Zwischenwelt
gefangen, doch auch das Jenseits war ihr noch verwehrt, denn ein Geheimnis galt es
noch zu enthüllen.
"Sie haben Julia erwürgt! Sicher waren Sie einmal eine kräftige Frau. Stark
genug, ein junges Mädchen von 19 Jahren zu erdrosseln. Sie haben sie in ihrem
Garten besucht. Auf gute Nachbarschaft sozusagen und sich dann die
wahrscheinlich herumliegende Wäscheleine geschnappt. Habe ich Recht Frau Franken?"
So kannte ich Christoph überhaupt nicht. Der nette junge Mann wuchs zu einer
bedrohlichen Gestalt heran. Berta rutschte tiefer in ihren Sessel und heulte
los: "Aber das ist doch so lange her. Sind Sie von der Polizei? Was wollen Sie
von mir? Hilfe!"
Sie begann laut zu rufen und die Putzfrau stürmte ins Zimmer.
"Es ist wohl besse,r wenn Sie jetzt gehen. Raus hier."
"Nur eine Frage noch Frau Franken. Bitte! Dann werden Sie nie wieder etwas
von uns hören", sagte ich.
Die alte Frau tat mir fast leid, wie sie nun tränenüberströmt da saß.
"Sie haben auch Julias Kinder, die Kinder ihres Mannes, hier gleich hinter
dem Haus in den Fluss geworfen?"
"Nein, Herr äh..."
"Huber."
"Huber ja. Also gut. Ich erzähle es Ihnen. Bitte setzen Sie sich wieder."
Frau Franken schickte die Haushälterin wieder hinaus und berichtete: "Ich habe sofort bemerkt, dass mein Mann die junge Rubenstein liebt. Sie
trafen sich ein paar Mal in der Woche. Er sagte immer, er müsse noch einmal in
die Firma. Pah! Durchs Fenster habe ich gesehen, dass die Rubenstein in seinen
Wagen stieg und dann fuhren sie zusammen los. Auch Julias Bruder wusste von
der Affäre. Er hasste uns, weil wir Arier waren und mein Mann der Partei
angehörte und er hasste seine Schwester, weil die sich auf diese Beziehung
eingelassen hatte. Eines Tages, sowohl mein Mann, als auch Arthur Rubenstein, waren nicht zu Hause, ging ich hinüber. Es war Winter, aber ein sonniger Tag. Die
beiden Kleinen krabbelten auf einer Decke im Garten und Julia war dabei die
Wäsche zum Trocknen aufzuhängen. Ich beschimpfte sie mit allen schlimmen
Worten, die ich kannte und drohte ihr, sie werde alles büßen. Ich hatte ein Messer
aus meiner Küche mitgenommen, das Julia wohl in meiner Hand sah. Sie hatte
große Angst. Noch nie habe ich so eine Panik in den Augen eines Menschen
gesehen. Sie nahm schnell ihre Kinder auf den Arm und wollte weglaufen. Ich kam
mit dem Messer hinter ihr her. Die Wäscheleine war gerissen und Julia
verhedderte sich mit einem Fuß darin. Sie stolperte und verlor ihre Kinder. Die
beiden Jungen müssen durch den Schwung direkt ins nahe Wasser gefallen sein. Ich
war blind vor Wut. Glauben Sie mir, ich wusste nicht, was ich tat. Die auf dem
Boden liegende Frau zu erstechen brachte ich nicht über mich. Ich hatte
Angst vor dem Blut und....", Berta Franken vergrub ihr Gesicht in die Hände.
"Da haben Sie die Wäscheleine genommen", sagte Christoph.
Berta nickte.
Wir wollten die Frau nicht länger quälen und verließen das
Haus. Nun wussten wir alles was es zu wissen gab. Lukas und Simon starben durch
ein Missgeschick ihrer Mutter. Julia wurde von der Frau ihres Liebhabers
ermordet.
"Wenn ich das Manuela erzählte...", Chris war fix und fertig.
"Das glaubt uns kein Mensch.", sagte ich.
Es war stockdunkel und wir beschlossen, noch einen Spaziergang durch den Ort
zu machen, um die Neuigkeiten zu verdauen. Wir kamen auch am Friedhof
vorbei, wo das Tor weit offen stand.
"Der Zwerg hat vergessen das Tor abzuschließen."
"Oder es steht absichtlich offen. Zufall gibt es für mich jedenfalls nicht
mehr", sagte ich.
"Sollen wir?", fragte Christoph. Ich war dabei und wir betraten den Friedhof. Instinktiv suchten wir erneut das Grab der Rubensteins und bekamen den Schreck unseres Lebens.
Auf dem Grab flackerte eine durchsichtige, weiß schimmernde Gestalt. Wir
erkannten sie sofort. Es war Julia Rubenstein! Meine Nerven trieben mich dazu
umzudrehen und davonzulaufen, aber Chris hielt mich fest.
"Sie wird uns nichts tun. Sie ist doch unsere Mutter oder?"
Also gingen wir näher und Julia sprach uns an: "Lukas! Simon! Lange habt ihr gebraucht. Nun da mein Mord aufgeklärt ist,
kann ich euch erscheinen. Doch ich bitte euch, mir meinen Frieden zu geben."
"Wie können wir das tun?"
"Es ist so einfach. Es war meine Schuld, dass euer Leben so rasch endete.
Durch meine Unachtsamkeit seid ihr in das Wasser gestürzt. Verzeiht mir! Das
ist alles was ihr tun müsst. Verzeiht mir!"
Die Augen des Geistes sahen uns hoffnungsvoll an.
"Natürlich verzeihen wir dir, Mama.", sagte ich.
Der Geist wandte sich an Chris.
"Na klar. Es ist nicht deine Schuld, Mutter. Ein Unfall. Es war ein Unfall.
Berta hat dich in Panik versetzt und dann ist es passiert."
Julias Gestalt wurde schemenhaft.
"Fünfundsechzig Jahre lang habe ich auf diesen Moment gewartet. Nun bin ich
frei und kann schlafen. Doch vergesst nicht - wir sehen uns wieder. Man sieht
sich immer wieder. Die Seelen finden sich. Ich liebe euch, meine Söhne."
"Wir lieben dich auch Mutter.", antworteten wir. Julias Geist war verschwunden.
Das ist nun das Ende der Geschichte und sie ist genau so passiert. Wenn ihr
es nicht glaubt, fragt Chris. Mittlerweile haben wir uns ein Zwei-Familien-Haus gekauft. Chris und Manu leben in der einen Wohnung und ich mit der netten
Pflegerin aus dem Altenheim in der anderen. Ja, ich habe sie noch ein paar
Mal besucht und nun sind wir seit zwei Jahren ein Paar. Unsere Jobs bei
"Geschenke-Franken" haben Christoph und ich kurz nach den Ereignissen aufgegeben.
Wir widmen uns nun ganz der Schriftstellerei. Natürlich haben wir unsere
Erlebnisse in einem Roman verarbeitet, in dem das alles noch viel aufgebauschter
und ausführlicher erzählt wird - ein Roman eben. Doch dieser Bericht ist
authentisch. Wie gesagt, wenn ihr mir nicht glaubt, fragt sie Chris, er kann alles
bestätigen. Mein Bruder lügt nicht...