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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Sokrates

Rudi Jagusch


Gerüchte sind Selbstläufer.
Erst einmal in die Welt gesetzt, erreichen sie ein erstaunliches Eigenleben. Sicherlich ist es jedem von uns schon einmal geschehen. Der Bekanntenkreis wusste "Es" bereits, nur die Hauptperson selbst war nicht informiert.
Seltsam - aber verständlich. Denn wenn der so Gerichtete "Es" erfahren würde, könnte dieser ja leider durch die Wahrheit das Gerücht zerstören. Was bliebe da noch für den frühmorgendlichen Plausch beim Kindergarten oder in der Frühstückspause?
Ganz darauf verzichten? Nein, zu schön ist doch das Kribbeln in der Magengrube bei den Worten: "Hör mal, sag's aber bitte (nicht) weiter. Du kennst doch auch (natürlich) diesen (oder jenen), der hat doch letztens....".
Sie kennen es doch auch! Hand aufs Herz. Wer noch nicht dazu beigetragen hat, Gerüchte zu verbreiten, der werfe den ersten Stein.
An dieser Stelle setzt meine kleine Geschichte ein.
In einem kleinen Dorf aufgewachsen, hatte das doppelzüngige Gerede einen festen Platz in der Tagesordnung der Einwohner. Jeder kannte jeden, Fremde wurden allein mit Blicken wieder davon gescheucht.
In dieser kleinen Gemeinde übte nun ein überaus sensibler Gotteshirte seinen Dienst aus. Dieser Pfarrer, selbstverständlich immer in schwarzem Talar gekleidet, hatte eine außerordentliche Weisheit gepachtet, obwohl er gerade erst sein viertes Jahrzehnt auf Erden begonnen hatte.
Eines Tages, ich saß vor unserem Haus und wartete darauf, dass meine Freunde zum Fußball spielen erschienen, schritt der Geistliche aus der Dorfkirche heraus.
Leichter Regen setzte ein, so dass der Pfarrer nicht umhin kam, seinen Regenschirm dem Himmel entgegen zu spannen. Mit festem Ziel im Auge strebte er dem Gasthaus entgegen, wahrscheinlich um dort den Bürgermeister mit spitzer Zunge in Verlegenheit zu bringen.
Den Weg, den er einschlug, führte direkt an mir vorüber. Ich grüßte beiläufig, beachtete ihn aber ansonsten nicht weiter. Dies änderte sich schnell, als meine Mutter die Haustüre aufriss und aufgeregt den Pfarrer um Gehör bat.
Dieser, mit Vorahnung in seinen Augen, blieb zögernd stehen, gab sich dann einen Ruck und ging auf meine Mutter zu. Dort angekommen lächelte er sanft, holte unter dem Vordach seinen nassen Regenschirm ein und bemerkte nebenbei welch schlechtes Wetter uns Petrus geschickt hatte. Keine fünf Meter von den Beiden entfernt verfolgte ich nun mit steigender Konzentration die kommende Unterhaltung:
"Nun, was kann ich für sie tun?", fragte der Geistliche mit angenehm säuselnder Stimme.
Meine Mutter polterte aufgeregt los: "Herr Pfarrer, haben sie schon gehört? Der Neue im Dorf...."
Der Pfarrer hob mit einer abwehrenden Geste die Arme und bedeutete damit Einhalt. Meine Mutter verstummte überrascht. Spitzfindig fragte der Pfarrer:
"Ist diese Geschichte wahr, die sie mir erzählen wollen?"
Der Regen hatte mittlerweile etwas nachgelassen. Verwundert blickte meine Mutter in die Augen des Pfarrers, um dann mit zittriger Stimme zu entgegnen:
"Also, Herr Pfarrer, ich habe diese Geschichte aus sicherer Quelle erfahren. Es muss also stimmen. Der Neue, sie kennen ihn auch, der hat nämlich ..."
Die letzten Worte sprach meine Mutter leise, so dass ich sie kaum verstand. Ihre Augen blickten dabei abwechselnd von links nach rechts.
Doch abermals unterbrach der Geistliche, diesmal mit abwinkenden Händen, die große Schatten auf den Rasen warfen. Die Sonne blitzte schon hier und da durch die Wolkendecke.
"Ist es denn etwas Gutes, dass sie mir berichten möchten?", fragte der Pfarrer mit erhobenen Augenbrauen.
Ich traute mich nicht, eine Bewegung auszuüben. Ich war vollkommen gefangen im Bann dieses Dialoges.
Meine Mutter verharrte in ihrer Position, konsterniert darüber, schon wieder unterbrochen worden zu sein.
"Nein, dass nicht gerade", presste sie durch die Zähne, "Aber der Neue, der wird...".
Doch nochmals ging der Pfarrer dazwischen. Ich wurde zum Blinzeln genötigt, da die Sonne nun den Horizont überflutete. Selbstbewusst setzte er mit tiefer Stimme an:
"Sachte, Sachte. Ist es denn nötig diese Geschichte zu erzählen ?"
Das Lächeln des Pfarrers zog sich nun von Ohr zu Ohr. Mir war damals nicht klar, ob das Lächeln Ursprung seiner Frage oder des nun herrlichen Sonnenscheins war. Meine Mutter erstarrte zu Stein. Ich selbst atmete nicht mehr. Das große Finale stand bevor. Ich wollte es nicht verpassen. Der Geistliche wartete seelenruhig auf die Antwort. Plötzlich stotterte meine Mutter los:
"N-N-Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie dies interessieren könnte."
Nun schlug der Pfarrer die Hände über seinen Kopf zusammen und fing an, mit heller Stimme zu frohlocken. Die Sonnenstrahlen trafen nun sein Gesicht und seine Augen leuchteten wie Sterne.
"Dann lassen sie uns Gott danken, für diesen überaus glücklichen Zustand. Welch Unheil hat er damit von uns genommen --- Halle-lu-ja!"
Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt weit ausholend seinem eigentlich angestrebten Ziel entgegen. Sein freudiges Jauchzen vernahm ich noch, bis er die Türe der Gaststätte öffnete und im Inneren verschwand.
Zurück blieb eine vollkommen verblüffte Frau, die Abends ihrem Mann erzählte, dass der Pfarrer einen Sonnenstich hatte und ein Junge, der erst viel später die Worte des Pfarrers so richtig verstand.




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