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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Hinter den Gittern

Von Aija Olina


Da saß sie. Hinter den Gittern. Sie hatte keinen echten Namen. Vielleicht hatte sie irgendwann einen, daran könnte sie sich aber nicht mehr erinnern. Alle nannten sie jetzt MD333. Sogar ihre Mutter sagte zu ihr nur Mäusy.
Da saß sie. Hinter den Gittern. Das war ihr einziges Zuhause. Manchmal fühlte sie sich hier sogar sicher und geborgen. Aber sie war nie allein. Die Gitter waren zu durchsichtig. Jeder, der vorbei ging, sah all ihre Bewegungen. Sie kroch unter die Decke. Sie sah niemanden und dachte, dass niemand auch sie sehen kann.
Da saß sie. Hinter den Gittern. Sie war nicht so wie ihre Nachbarn. Manche von ihnen weinten ununterbrochen. Das waren meistens die Neuhinzugekommenen. Sogar während des Essens versuchten sie zu weinen.
Besonders unerträglich waren die Nächte. Die Kettenreaktion fing von einer Seite an und in einigen Minuten brachen alle in lautes Weinen aus. Nur sie nicht.
Da saß sie. Hinter den Gittern. Oft konnte man sie in der Ecke sitzend sehen. Ihre großen braunen Augen schienen unbeweglich. Obwohl die blonden Locken zum zweiten Mal kurzgeschnitten wurden, sah sie auf dem Hintergrund der grauen und schlichten Wände wie eine Sonnenblume aus.
Da saß sie. Hinter den Gittern. Sie wartete auf diesen Tag. Sie war hier schon drei Jahre und wusste genau, dass heute der Besuchstag ist. Aufregung flimmerte in der muffigen Luft. Niemand weinte mehr.
Zuerst hörte man die Stimmen. Zehn bis fünfzehn Frauenstimmen näherten sich und wurden lauter. Die Tür öffnete sich. Da standen sie. Sie traten auseinander und gingen den langen Reihen von Gitterbetten entlang. Alle sahen wegen der kurzen Haaren und blauen Kleidung sehr ähnlich aus. Doch sie erkannte ihre Mutter sofort. Die Mutter näherte sich und hob die Kleine aus dem Gitterbett heraus.
Sie spielten beide im Garten. Es herrschte glühende Hitze und die alleinstehenden Bäume konnten nicht vor der aufdringlichen Sonne beschützen. Sie saßen im Schatten des Betonzauns, der mit Stacheldraht verziert war.
Plötzlich kamen die Gefängniswärterinnen und alle Mütter hoben ihre Kinder wie Puppen wieder in die Gitterbetten ein. Alle sammelten sich vor der Tür und gingen weg.
Da saß sie wieder. Hinter den Gittern.




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