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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Die Ausreißerin

Britta Dubber


Es war schon fast dunkel, als Jannick nach Hause kam.
Vor der Haustür blieb er stehen und kramte in seinen Hosentaschen nach dem Schlüssel.
Mit Schrecken musste er feststellen, dass er nicht da war. Er musste ihn auf dem Spielplatz verloren haben.
Unschlüssig blieb Jannick stehen. Wenn er zurück liefe, um den Schlüssel zu suchen, käme er viel zu spät nach Hause. Außerdem war es schon dämmrig, bei dem Licht konnte er den Schlüssel unmöglich finden.
Mit einem Kloß im Hals, der sich immer mehr auszubreiten schien und ihm scheinbar die Luft zum Atmen nahm, streckte er seine Hand nach der Türklingel aus und drückte mit dem Zeigefinger ganz sachte auf den kleinen Knopf.
Ein glockenähnliches Geräusch ertönte und kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet.
"Warum klingelst du? Hast du deinen Schlüssel nicht mitgehabt?"
Noch bevor Jannick antworten konnte, hatte seine Mutter sich schon wieder umgedreht und war ins Wohnzimmer gegangen.
Jannick folgte ihr.
"Ich habe ihn auf dem Spielplatz verloren, glaube ich", sagte er unsicher.
Seine Mutter saß auf dem braunen Ledersessel und hatte den Kopf über eine Zeitschrift gebeugt.
Ohne aufzublicken fragte sie: "Wen?"
"Meinen Schlüssel."
"Dann geh zurück und suche ihn. Wenn du ihn nicht wiederfindest, muss ich das Schloss austauschen und das wird teuer." Ihre Stimme klang ruhig. Jannick hatte erwartet, dass sie ihn anschreien würde.
Er nickte und trat wieder in den Flur.
"Und such gründlich, verstehst du?!", rief seine Mutter ihm hinterher, aber da hatte Jannick die Tür schon von außen geschlossen.
Zehn Minuten später war er am Spielplatz angekommen.
Niemand war mehr hier. Wo vor einer halben Stunde noch zwei Mädchen mit blonden Zöpfen auf der Wippe gesessen hatten und drei Jungs auf den Schaukeln, erinnerte nur noch das leere Bonbonpapier und die Limonadenflaschen auf dem sandigen Fußboden an einen aufregenden Spielenachmittag.
Die dunkelgrüne Hecke, die fast den gesamten Spielplatz einzäunte, wirke in der Abenddämmerung bedrohlich auf Jannick.
Er beschloss sich zu beeilen, denn er hatte Angst im Dunkeln. Niemand wusste etwas davon, denn schließlich war er ein Junge und Jungs haben keine Angst. Vor nichts. Das sagte jedenfalls sein Vater immer.
Jannick guckte zuerst bei den Schaukeln, wo er die meiste Zeit gewesen war, aber er fand nichts. Dann ging er zur Wippe, wo er Nina aus seiner Klasse geärgert hatte.
Tom und Dennis hatten von Jannick eine Mutprobe gefordert und so war er zu Nina hingegangen und hatte sie an ihrem Zopf gezogen , so dass sie fast von der Wippe gefallen war.
Als sie anfing zu weinen, hatte Jannick ein schlechtes Gewissen bekommen, doch das Grinsen von Tom und Dennis, die ihm kurz darauf anerkennend auf den Rücken geklopft hatten, und ihn somit ihrem geheimen Club hatten beitreten lassen, ließen nicht viel Zeit für Gewissenbisse.
Aber auch bei der Wippe sah er nichts, was einem Schlüssel auch nur im entferntesten ähnlich sah.
Er wollte gerade die Suche aufgeben und morgen wieder kommen, auch wenn seine Mutter darüber wütend werden würde, als er ein Geräusch hörte.
Zuerst dachte er, dass es eine Katze war die miaute, aber dann hörte es sich eher wie ein Weinen an.
Es schien von dem kleinen Holzhaus zu kommen, das ganz hinten in der Ecke stand.
"Hallo? Ist da wer?", fragte Jannick mit zittriger Stimme.
Das Geräusch verstummte. Jannick ging näher auf das Holzhaus zu. Man musste mit einer kleinen Leiter, die mit Stricken befestigt war nach oben gehen. Jannick war noch nie in diesem Haus gewesen, weil er Höhenangst hatte und hier meistens die großen Jungs saßen und rauchten.
Vor der Leiter blieb er stehen.
"Hallo?", rief er nochmals.
Plötzlich sah er etwas Rotes. Dann steckte Nina ihren Kopf heraus und kam die Leiter heruntergeklettert. Sie hatte ein rotes Kleid an, das ihr bis zu den Knöcheln ging und somit musste sie aufpassen, sich mit den Füßen nicht im Saum zu verheddern.
"Was machst du noch hier?", wollte Jannick wissen, als Nina unten angelangt war.
Sie zuckte mit den Schultern. Selbst im schwachen Tageslicht konnte Jannick sehen, dass ihre Augen ganz verweint waren.
"Du bist ja auch noch hier."
"Ich suche meinen Schlüssel. Ich habe ihn verloren."
"Ich habe vorhin einen Schlüssel gefunden", sagte sie.
"Echt? Wo denn? Hast du ihn eingesteckt? Gibst du ihn mir?", fragte Jannick aufgeregt.
"Nein." Nina schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, was?", fragte Jannick irritiert.
"Du bekommst ihn nicht. Ich habe ihn versteckt", sagte Nina mit einem breiten Grinsen.
"Ich bekomme mächtig Ärger zu Hause. Bitte, gib ihn mir."
"Nur wenn du etwas für mich tust", sagte Nina nach kurzen Zögern.
"Und was?"
"Du sollst mir dabei helfen, ein Versteck zu finden. Ich will nicht nach Hause zurück."
"Warum denn nicht?", wollte Jannick wissen.
Nina zuckte wieder mit den Schultern und blickte zu Boden.
"Okay. Du kommst einfach mit zu mir", sagte er und nahm ihre Hand, doch Nina löste sich aus seinem Griff.
"Aber deine Mutter wir doch Fragen stellen und..."
"Meine Mutter bemerkt mich noch nicht einmal, wenn ich zu Hause bin. Ich versteck dich in meinem Zimmer, da ist es warm und ich kann dir jederzeit was zu essen und zu trinken besorgen."
Er umfasste wieder Ninas Hand und dieses Mal ließ sie sich von ihm führen.
Vor Jannicks zu Hause holte Nina einen Gegenstand aus ihrem Schuh und reichte ihm ihn.
Es war sein Haustürschlüssel. Lächeln nahm er ihn entgegen und schloss die Tür auf.
Vorsichtig steckte er seinen Kopf zur Tür herein. Er hörte den Fernseher, was bedeutete, dass seine Mutter im Wohnzimmer war.
Er zeigte auf die Treppe und Nina schlich schnell hoch, dicht gefolgt von Jannick.
Als er sie in sein Zimmer führte, stieß Nina einen leisen Pfiff aus.
"So viel Spielzeug!", sagte sie und bestaunte als erste die riesige Kuscheltiersammlung auf seinem Bett. Dann wanderte ihr Blick auf das Regal daneben, auf dem sich alle möglichen Gesellschaftsspiele und Puzzles befanden.
"Meine Eltern sind geschieden", erklärte Jannick. "Meinen Vater sehe ich nur jedes zweites Wochenende und um sein Gewissen zu beruhigen kauft er mir allerhand Geschenke."
Nina setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und betrachtete die riesige Playmobilburg.
"Ich wünschte meine Eltern würden sich scheiden lasen", sagte sie nach einer Weile.
Jannick setzte sich zu ihr. "Warum?"
"Dann würde ich auch bei meiner Mutter wohnen bleiben. Ich wäre froh darüber, wenn ich meinen Vater nicht jeden Tag sehen würde. Er trinkt viel Alkohol und wird dann immer furchtbar wütend."
"Ach so." Jannick wusste nicht was er darauf sagen sollte.
Plötzlich hörte er Schritte auf der Treppe.
Er zeigte unter das Bett und Nina krabbelte sofort darunter.
Nach kurzer Zeit hörte er die Klospülung, dann ging seine Mutter wieder nach unten.
"Du kannst rauskommen."
Nina krabbelte wieder hervor, wobei ihr Kleid ein ganzes Stück nach oben rutschte und den Blick auf ihre Beine freigab.
Jannick sah sofort die blauen Flecken und die zahlreichen Abschürfungen.
"Was ist das?", fragte er.
Nina senkte den Kopf und rückte sofort ihr Kleid zurück.
"Ich hab doch gesagt, dass mein Vater sehr wütend werden kann."
"Er schlägt dich?", fragte Jannick ungläubig. Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass es solche Eltern gab, auch wenn er aus Fernsehberichten besser wusste.
"Er hat mich die Kellertreppe runter gestoßen, als ich etwas verschüttet habe", sagte sie. Sie sprach dabei so leise, dass Jannick Mühe hatte, sie zu verstehen.
Dann blickte sie auf ihre Mickymausarmbanduhr.
"Esst ihr gar kein Abendbrot?"
Jannick schüttelte den Kopf.
"Als wir noch eine richtige Familie waren, da haben wir immer um sechs gegessen. Aber jetzt mach ich mir meistens selber mein Brot. Meine Mutter isst abends gar nichts. Sie ist auf Diät. Schon seit Monaten."
"Ist sie denn so dick?", wollte Nina wissen.
"Nein, sie ist ganz normal. Aber seit der Scheidung denkt sie, dass sie zu dick ist. Ich versteh das nicht."
"Hast du Hunger? Ich kann uns ein paar Leberwurstbrote machen."
Nina nickte und Jannick ging runter in die Küche. Ein paar Minuten später kam er mit einem Teller belegter Brote zurück.
Nina nahm sich sofort eine Scheibe und schlang es im Nu hinunter.
"Wie ist deine Mutter so?", fragte sie mit vollem Mund.
Jannick überlegte. "Sie redet nicht viel mit mir. Wenn ich von der Schule nach Hause komme sitzt sie vor dem Fernseher und wenn ich spielen gehe auch. Wenn ich vom Spielen wiederkomme ebenfalls und wenn ich ins Bett gegangen bin, sitzt sie wohl immer noch davor."
"Oh", stieß sie hervor und nahm sich eine zweite Scheibe Brot.
"Früher war sie nicht so. Da hat sie mir bei den Hausaufaufgaben geholfen und wir haben auch oft zusammen gepuzzelt", sagte Jannick traurig. "Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt da bin, verstehst du?"
Nina nickte. "Wenn meine Eltern sich stundenlang anschreien, fühle ich mich auch unsichtbar. Manchmal sage ich dann einfach irgendetwas, irgendein Wort, nur um zu testen, ob sie mich hören."
"Ja, genau. Ich lasse manchmal mit Absicht einen Teller oder ein Glas fallen, nur um zu sehen, ob ich auch wirklich da bin. Wenn mich meine Mutter dann anschreit, weiß ich wenigstens, dass ich nicht unsichtbar bin."
Nina lächelte Jannick an und er lächelte zurück.
"Wollen wir zusammen puzzeln? Ich habe eins mit Pandabären."
"Oh ja", antwortete sie.
"Das mit vorhin tut mir leid", sagte Jannick, als er das Puzzle hervor holte.
"Ist schon vergessen. Mein Vater macht viel schlimmere Sachen."
"Vielleicht sollten wir tauschen. Wenn ich bei dir wohnen würde, würde man mich wenigstens beachten, auch wenn es nur durch Schläge ist. Und du hättest hier deine Ruhe", meinte Jannick.
"Ja, schade, dass das nicht geht", sagte Nina, während sie nach dem passenden Puzzlestück suchte.



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