Die Liste
Dirk Christofczik
Die Tage vergehen schnell! Viel zu schnell rasen sie vorbei, ohne dass sie irgendetwas hinterlassen, keine Erinnerung, nichts außer der Gewissheit, dass sie vergangen sind. Zwei Monate sind bereits ins Land gezogen, über acht lange Wochen, in denen ich warte, dass mein Handy klingelt. Nun stehe ich hier auf diesem kahlen Flur und warte wieder, diesmal darauf, dass man meinen Namen aufruft. Ich nutze die Zeit, ich habe gelernt, Zeit zu nutzen, und starre aus dem verschmierten Fenster auf den grauen Himmel. Eine
Zigarette glüht in meiner Hand, ich ziehe kräftig, blase runde Kreise in die Luft, genau auf das Schild, welches das Rauchen verbietet. Es stört mich nicht, ich habe es nicht einmal gesehen, denn ich sehe nicht mehr, ich registriere nur noch, was um mich herum geschieht. Lisa habe ich verlassen, sie ist nicht die Frau, die so etwas durchsteht. Ich habe ihr nichts erzählt, jedenfalls nicht die Wahrheit. Eine Story von einer Anderen, Jüngeren, damit habe ich sie absichtlich von mir weggetrieben. Es ist besser so,
da bin ich sicher. Besser für sie! Besser für mich? Die Wolken jagen durch den kleinen Ausschnitt meiner Perspektive, so als hätte jemand eine imaginäre Vorspultaste gedrückt. Alles ist schneller geworden, zieht an mir vorbei. Mein Leben dreht seine Runden wie auf einer Rennstrecke, immer schneller, bis die Ziellinie naht und zum letzten Mal überquert wird. Ich stehe am Rande auf einem Hügel und beobachte die letzten Meter aus einer sicheren Distanz. Allein!
"Herr Suhrmann!"
Ich drehe mich um und schaue in das blasse Gesicht eines Mannes. Groß, schlank, gesund sieht er aus.
"Ja!", höre ich mich antworten.
"Sie können jetzt einen Blick auf die Liste werfen! Ich möchte Sie aber noch einmal darauf hinweisen, dass ich Ihnen nur davon abraten kann, diesen Schritt zu machen!" Unter den pikierten Augen des Mannes werfe ich den Zigarettenstummel auf das blank polierte Linoleum und trete ihn mit meinen Schuhen aus.
"Ich habe mich entschieden! Ich will die Liste sehen!"
"Wie Sie wollen! Bitte folgen Sie mir Herr Suhrmann."
Er führt mich ein Stück den Flur entlang, meine Gummisohlen quietschen, und ich hinterlasse schwarze Streifen auf dem frisch gebohnerten Boden. An einer Tür bleibt er stehen, schließt sie auf und bittet mich schweigend herein. Ein kleiner Raum, keine Fenster, in der Mitte ein Tisch, davor ein Bürostuhl. Neonröhren an der Decke, derselbe glänzende Linoleumboden wie auf dem Flur. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Endlospapier, sauber zusammengelegt, daneben ein Glas Wasser ohne Kohlensäure.
"Das ist die Liste, die für Sie relevant ist. Sie wissen, wo Sie ihren Namen darauf finden?"
Ich schaue auf den Papierstapel und nicke, ohne den Mann dabei anzusehen.
"Dann werde ich Sie jetzt allein lassen. Ich werde in 20 Minuten wiederkommen. Das dürfte reichen."
Ich antworte ihm nicht, beachte ihn nicht, bis er endlich den Raum verlassen hat. Der Stuhl ist unbequem! Ich lege meine Unterarme auf die Tischplatte und fixiere den Papierstapel auf dem Tisch. 1316, murmele ich leise vor mich hin. Ist die Zahl noch aktuell? Sie ist von vorgestern und wahrscheinlich schon überholt. 1316, vielleicht ein paar mehr, eine Zahl die nie weniger wird. Ich weiß, wo ich stehe, aber ich will meinen Namen lesen, schwarz auf weiß an Nummer 1225. Auf dem Deckblatt des Stapels das Emblem
der Organisation, zwei ineinander verschlungene Menschen, die aussehen als würde ein Teil ihres Körpers eine Schnittmenge bilden. Was für ein Quatsch, denke ich zum x-ten Mal. Schnittmenge? Es gibt hier keine Schnittmengen, absolut nichts wird geteilt, es wird ausgetauscht, ausgeschlachtet. Einer stirbt, der andere lebt, so einfach ist das Ganze. Klar, eindeutig, sowie die Zahl 1225, die in dieser Liste vor meinem Namen steht. Ich blättere das Deckblatt um! Es gibt keine Einleitung, keine Erklärung, nur Namen,
eine endlose Reihe von Namen. 1. Xaver Mitter, 2.Elena Gonska, 3. Karin Weitheimer, 4. Heinz Anhut! Die Liste geht immer weiter! Ich schlag die Seiten um, lese ein paar Namen, Hunderte von Namen, die ich auf der nächsten Seite bereits wieder vergessen habe. Immer wieder blättere ich um, schlage das Papier an der Perforation nach oben und stapele die Blätter an der Stirnseite des Schreibtisches. Dann nach einer scheinbar quälend langen Zeit lese ich die Zahl 1000! Der Packen der umgeblätterten Seiten ist bereits
zu einer beklemmenden Dicke angeschwollen, vor mir liegen nur noch wenige Blätter. Ich überfliege Namen so schnell es nur geht, lese irgendwann nur noch die Zahlen davor, bis ich plötzlich stoppe. Ich versuche zu schlucken, doch mein Hals ist trocken, knorpeltrocken. Ich greife in die Innentasche meiner Jacke und ziehe eine Zigarette direkt aus der Box. Dicke Rauchschwaden wälzen sich behäbig durch das Zimmer, als ich zwischen Gertrud Lachner und Marco Zimmer meinen Namen lese. Thomas Kellner steht in schwarzen
Lettern auf dem Papier, Standard, Arial. Also da bin ich, denke ich. Nummer 1225! Eintausendzweihundertfünfundzwanzig, sage ich laut und fange an zu lachen. Tränen laufen über mein Gesicht. Gut, dass ich alleine bin! Niemand soll mich sehen, nicht so, hilflos, mutlos! Ich werde das Rennen verlieren, das steht fest, ich war noch nie ein Glückskind. Ist es Glück, wenn ein anderer stirbt, um mich zu retten? Soll ich darum bitten, dafür beten? Vielleicht werde ich es tun, wenn die Schmerzen unerträglich werden und
die Verzweiflung mich in den Wahnsinn treibt. Wer weiß das schon? Ich vermag es nicht zu sagen. Wen interessiert es auch? Ich klappe die Seite des Endlospapiers wieder zurück, dann geht die Tür auf, und der Mann steht wieder im Raum.
"Wenn Sie möchten, können Sie noch bleiben!"
"Nein!", sage ich und stehe vom Stuhl auf. Ich bedanke mich, trink einen Schluck Wasser, schnippe die Zigarette auf den Boden und verlasse den Raum. Nur Minuten später stehe ich draußen, stelle den Kragen meiner Jacke auf und starre auf die ineinander verschlungenen Figuren auf dem Dach des Gebäudes. Es beginnt zu regnen, nur leicht.
"Hast du ein Euro für mich?", fragt mich ein zugewachsenes Gesicht, aus dem ein penetranter Geruch nach holländischen Frikandeln strömt. Ich schaue den Mann an und lege ihm eine Münze in die schmutzige Hand. Er bedankt sich und will gehen, dann stockt er kurz und schaut mich wieder an.
"Hatten Sie Erfolg?"
"Was?" Er deutet mit dem Kopf auf das Gebäude.
"Ich habe gesehen, wie Sie da rausgekommen sind. Europlant oder wie der Schuppen heißt!"
"Ach, so! Tja!" Ich zögere einen Augenblick, schaue auf die ineinander verschlungenen Figuren, dann blicke ich dem Clochard in die Augen.
"Ja, ich hatte Erfolg! Ich habe gefunden was ich gesucht habe!"
"Das freut mich für Sie! Danke, mein Herr!"
Ich schaue dem Mann hinterher, bis er im Gewirr der Menschen verschwindet. Schließlich steige ich in ein Taxi, lass mich zum Bahnhof bringen und fahre dann zurück nach Hause.