Der Prophet
Igor Zobin
Der Prophet bahnte sich den Weg durch die geschäftige Menschenmenge. Niemand achtete auf den Propheten, obwohl er im Kontrast zu den anderen Leuten gekleidet war. Eine alte graue Jacke, die vielleicht einmal eine genauere Farbe hatte. Eine selbstgemachte Hose und ein Hemd. Früher war er weiß, ja. Nicht heute. Heute war das befleckte Hemd kurz davor zu reißen. Aber den Propheten störte es nicht, dass er in New York mit dieser Kleidung rumlief. Die Menschen hier achten sowieso nicht auf einen, solange man nicht
offensichtlich etwas Unerlaubtes macht. Eine tolle Umgebung, um abzutauchen und zu verschwinden. Vor wem? Nun, das ist ganz einfach. Vor allen, denen seine Prophezeiungen nicht passen. Vor der Regierung. Der Prophet wich einem geschäftigen Mann in einem teueren Anzug geschickt aus. Der Businessman lief fast in die hölzerne Kiste rein, die der Prophet vor der Brust trug. Diese Leute tun fast so, als sähen sie mich nicht. Tun sie es wirklich? Wer weiß. Eigentlich sieht man ja nur das, was man sehen will, nicht
mehr und nicht weniger. Ein Prophet sollte diese Weisheit schon kennen. Er lächelte. Da vorne an der Kreuzung war eine gute Stelle. Dort würde er seine Kiste hinstellen und dann natürlich darauf klettern. Er machte es jeden zweiten Arbeitstag in der Woche; jeden ersten Tag sammelte er Spenden. In der U-Bahn. Das Schild, auf dem die Bitte um Geld stand, war (außer der Kiste) sein einziger Besitz. Noch ein Paar Menschen die entschlossen versuchten, ihn zu rammen und dann ein kleines Mädchen, mit einem Eis in der
Hand, die mit einem geöffneten Mund den alten Mann in schmutziger Kleidung mit der Kiste in der Hand beobachtete. Jetzt war er da. Liebevoll stellte er die Kiste hin und strich mit dem Ärmel über sie. Dann stellte er sich drauf. Sofort wurde er einen Kopf größer als alle Menschen. Er war sozusagen über diesem Strom aus Leuten die hin und her gingen und alle irgendwo unterwegs waren. Wind strich über sein graues ungepflegtes Haar und der Prophet holte Luft.
- Hört mich an! Ich bin hier, um über meine Vision zu sprechen! Ich habe die Zukunft geschaut! - er streckte die Arme in einer umarmender Geste aus. Niemand hörte ihn. Diejenigen, die es taten, murmelten etwas wie "noch ein Übergeschnappter" oder "man sollte die Polizei rufen". Selbst sie gingen achtlos vorbei, aber den Propheten störte es nicht. Er machte weiter. - Ich sage euch, ich habe die Zukunft geschaut und es ist wahr! Das was ich gesehen habe hat zweierlei Bedeutung! Es ist gut und
schrecklich zugleich. Denn wenn auch meine Vision die Möglichkeit gibt, uns und unsere Seelen zu retten, so zeigt sie auch, wie unmöglich diese eine Möglichkeit für den Menschen ist. Hört mir also zu, auf dass ihr die Wahrheit... - jemand hat den Propheten im Vorbeigehen mit der Schulter gestreift. Ein Punk, mit lederner Kleidung und viel Metall darauf. Der Prophet fiel fast von seiner Kiste, konnte den Fall jedoch abfangen. Er machte unbeeindruckt weiter.
- Und die Wahrheit ist die! Die Bibel, das heilige Buch, welches die Übersetzung eines Teilbuches der Tora ist, ist nicht das, was wir immer geglaubt haben. Die Bibel ist keine Nacherzählung der Vergangenheit, sondern eine Voraussagung der Zukunft! Unsere Zeit wird von der Bibel als erste vorausgesagt. - inzwischen achtete niemand mehr auf den Propheten. Keiner versuchte ihn wegzuschubsen, keiner hörte zu. Nur ein alter Obdachloser, der genauso "schick" gekleidet war, wie der Prophet selbst. Der Obdachloser
neigte seinen Kopf zur Seite und sein Mund stand leicht geöffnet. Die Tasche, wo vermutlich ein Paar Flaschen Alkohol drin waren, hing in seiner Hand von langjähriger Benutzung genauso grau und langgezogen wie der Obdachlose selbst. Anscheinend faszinierte etwas an diesem Propheten ihn. Der Prophet selber hat sich so sehr in seine Predigt hineingesteigert, dass er nicht einmal die Menschen bemerkte, die achtlos an ihm vorbeiliefen. Er bemerkte nicht einmal, wie lächerlich er mit seiner Kleidung inmitten von New
York auf einer Kiste stehend wirkte. Seine Augen sahen in die Ferne, über die Köpfe der Menschen und über ihre alltägliche Sorgen.
- Als Gott die Erde erschaffen hat, hat er den Menschen auf die Erde gesetzt und die ganze Welt zu dem Garten Eden erklärt, und der Mensch sollte über alles herrschen, was in diesem Garten war. So tat es der Mensch auch. Er gab den Tieren und den Pflanzen ihre Namen, er freundete sich sogar mit einigen der Tiere an. Mit der Zeit hat er sich sogar Kleidung genäht, um Schutz vor Kälte im Winter zu haben. Aber von einem Baum durfte der Mensch nicht essen. Von dem Baum des Wissens. - der Prophet hielt inne und schaute
die fünf Leute an, die ihm mittlerweile zuhörten. Ein Priester, eine alte Frau und zwei weitere Obdachlose Männer gesellten sich zu dem ersten Zuhörer, dessen Blick bereits eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verehrung war. Das war gut. - Seht uns aber an, Freunde! Haben wir denn nicht viel von eben diesem Baum gekostet? Sind wir mit unserem Wissen nicht in die Tiefen des Weltalls eingedrungen und in die unserer eigenen Welt? Ist es nicht genau das, was unser Herr uns verboten hat zu tun? Vergesst, was ihr in
der Bibel über Adam und Eva gelesen habt, denn die Zeiten sind noch nicht angebrochen, wo der Gott sich seiner jüngsten Schöpfung zuwendet und entsetzt sie aus dem Paradies vertreibt. Denkt statt dessen nach! Ein Gläubiger vor zweihundert Jahren hätte gesagt, die Sonne würde um die Erde kreisen. Hätte er aber gewusst, dass statt dessen die Erde um die Sonne kreist, hätte es ihm nichts ausgemacht trotzdem zu sagen, dies sei der Wille Gottes! Alles, jedes Wunder der Natur und jedes Glück, sowie jedes Unglück hätte
er dem Willen Gottes zugeschrieben. Nichts war unmöglich in seinen Augen, denn auf alles war der Wille seines Herrn im Himmel. Seht euch an, was geschehen ist! Die Menschen haben angefangen zu forschen, das Wissen, die verbotene Frucht zu genießen! Sie sagen, nicht mehr Gott, sondern die Gravitation der Sonne sei dafür verantwortlich, dass wir uns auf unserem Planeten im ewigen Wirbelsturm fortbewegen. Ich aber, habe die Zukunft geschaut. Ich weiß, was noch kommen wird! Und ich sage euch: in zehn Jahren sagen
sie uns, Gott habe die Gravitation erschaffen. Sie legen Formeln und Beweise vor, die Entstehung der Gravitation, ja selbst unseres Universums sei nie und nimmer möglich gewesen, hätte nicht jemand ganz am Anfang etwas gemacht, etwas in Gang gesetzt. Und hätte dieser jemand das Ganze nicht ständig überwacht. Das, werden sie sagen, kann nur Gott gewesen sein! Ihr freut euch, meine Freunde? Ihr denkt, ihr hättet Recht behalten, damit, dass es Gott gibt und dass er, der einzige Herr und Erschaffer aller Dinge, tatsächlich
existiert?! Denkt nun wieder an die Bibel. Denkt daran, was mit Adam und Eva, die uns symbolisieren, geschehen ist, als der Herr gesehen hat, welche Sünde sie begannen haben! Denkt daran, wie sie aus dem Paradies, welches unsere Welt symbolisiert, weggeschickt wurden! Dies, so sage ich euch, dies alleine ist der Sinn der heiligen Schrift! - nachdem der Prophet dieses letzte Wort gesprochen hat, hielt er inne und lauschte dem Echo seiner Stimme. Es war unglaublich, aber alle hörten ihm zu. Kein einziges Geräusch
ertönte in dieser Stille, jeder hörte auf den Propheten mit großen Augen und ehrfürchtigen Blick. Der Prophet lächelte in seinen Bart. Jedes Mal er so auf die Straße ging um seine Predigt zu halten erzielte er dieselbe Wirkung. War dies nicht ein Beweis dessen, dass seine Worte wahr waren? Der einzige notwendige? Dass die Worte, die er gesprochen, ihm von Gott in den Mund gelegt waren, so wie er es in seiner Vision sah? New York war eine große Stadt, aber nur eine von vielen. Außer der Kiste und dem Bettlerschild
hatte er noch eine Karte von New York. Viele Bereiche hat er bereits mit blauer Farbe gekennzeichnet, aber noch mehr war weiß geblieben. Heute würde noch mehr Blau hinzukommen. Und bald, das wusste er, würde New York ganz blau werden. Dann würde er zum letzten Mal betteln gehen und sich dann aufmachen. Irgendwo anders hin. Gütiger Gott, das ganze Land war noch weiß! Der ganze Erdball! Aber Gott würde ihm die Kraft geben. Das wusste er. So wie er es immer tat, während Frank predigte. Wie jetzt.