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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Schmerz der Erkenntnis

Britta Dubber


Wie üblich kam er eine halbe Stunde zu spät.
Wie üblich hatte er dieselbe Ausrede.
Im letzten Moment war noch ein Kunde gekommen, den er unmöglich hatte abwimmeln können - Sie wisse ja wie das sei.
Sie nickte, obwohl sie es nicht wusste.
Sie wusste nur, dass sie verlässlich war - und er nicht.
Schweigend gingen sie nebeneinander die Strasse entlang.
Vor ihrem Stammlokal blieben sie kurz stehen, als sein Handy klingelte.
Entschuldigend lächelte er ihr zu. Sie lächelte zurück - gequält.
Nicht wie sonst, voller Verständnis, selbst wenn sie kurz vorm Explodieren war.
An diesem Morgen hatte sie beschlossen ihre Masken abzulegen.
Sie wollte einfach nur sie selbst sein. Wütend aussehen, wenn sie es war, genervt dreinschauen, wenn es ihre Stimmung widerspiegelte und glücklich aussehen, wenn sie sich wirklich so fühlte.
Sie wusste nicht genau was sie dazu veranlasst hatte, vielleicht war es der Traum, den sie letzte Nacht geträumt hatte.
"Ich gehe schon rein", sagte sie zu ihm, der ihr den Rücken zugekehrt und sein Handy ans rechte Ohr gepresst hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten zog sie die schwere Eichentür auf und trat in ein Gemisch aus Rauch und Stimmengewirr.
Sie steuerte auf einen kleinen Tisch in einer Nische zu.
Als sie gerade die Jacke abgelegt hatte, kam auch schon die Kellnerin.
Sie bestellte ein Bier. Das war auch neu. Normalerweise trank sie hier Wein.
"Warum hast du nicht gewartet?", fragte er vorwurfsvoll, als er sich zu ihr setzte.
Sie sah ihn mit einer Mischung aus Unglaube und Entsetzen an.
"Wieso hätte ich das tun sollen?"
Er runzelte die Stirn und sah sie an, als ob sie krank wäre.
"Was ist los mit dir?", wollte er wissen. Dann sah er das Bier und zog seine Stirn erneut in Falten.
"Du bist heute so komisch", meinte er, als sie nichts sagte.
"Findest du?"
Sie konnte sehen, dass er wütend wurde. Er fuhr sich mit der Hand durch seine dichten, braunen Haare und holte hörbar tief Luft.
Als die Kellnerin kam, bestellte er einen doppelten Whiskey.
"Ich hatte letzte Nacht einen merkwürdigen Traum", begann sie.
"Ich ging durch die Straßen und traf lauter Bekannte, von denen mich aber keiner erkannte. Als ich an ein Geschäft vorbeikam, sah ich in den Spiegel eines Schaufensters. Weißt du was ich darin sah?"
"Na, dich", sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Eine Fremde. Ich sah in das Gesicht einer Fremden."
Er nippte an seinem Whiskey, dann stellte er das Glas auf den Tisch und drehte es mit Fingern im Kreis.
"Stimmt irgendetwas nicht? Bist du auf mich sauer, oder warum benimmst du dich so merkwürdig heute?"
"Definiere merkwürdig?" Herausfordernd blickte sie ihm in die Augen.
Er nahm sein Glas und trank den Rest auf Ex.
"Herrgott, Janna, was soll das? Ich bin nicht hergekommen um zu streiten oder um irgendwelche hochphilosophischen Gespräche zu führen, die im Streit enden!"
"Dann sag mir doch, warum du hergekommen bist. Ich würde das nämlich gerne wissen."
Er verdrehte die Augen und gab der Kellnerin ein Zeichen, dass er noch einen Whiskey wollte.
"Also gut, ich spiele das Spiel mit. Ich bin hergekommen um mit der Frau, die ich liebe, einen schönen Abend zu verbringen."
"Verstehst du unter dem Begriff schön, mich eine halbe Stunde in der Kälte warten zu lassen, dann dein Scheißhandy nicht einmal auszustellen, eins von deinen ach so wichtigen Geschäftsgesprächen zu führen und sich darüber aufregen, dass ich schon vorgegangen bin?"
Verwundert blickte er sie an.
"Das läuft doch immer so, das weißt du doch. Ich kann mein Handy nicht ausstellen. Wenn etwas Wichtiges... du weißt doch... Es hat dich doch sonst nicht gestört."
"Doch das hat es. Ich habe es bloß nie gesagt, aber jetzt habe ich einfach keine Lust mehr, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich finde es entsetzlich, dass ich an letzter Stelle bei dir stehe!"
Er stürzte den zweiten Whisky in einem Zug hinunter. Dann räusperte er sich kurz.
"Das tust du doch gar nicht."
Sie stand auf, nahm ihre Jacke und zog sie über.
"Doch. Wie lange soll ich denn noch warten? Wir sind seit drei Jahren verlobt. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, wir leben nicht mehr im sechzehnten Jahrhundert, wo so eine lange Zeit der Verlobung modern gewesen sein mag."
Dann stand sie auf und ging. An der Tür hatte er sie eingeholt. Er hielt ihren Arm fest.
"Du weißt doch, dass ich in der Firma ranklotzen muss, um es zu etwas zu bringen. Ich will nicht wie mein Bruder enden, der sich nicht einmal ein Auto leisten kann."
Sie riss sich von ihm los.
"Dein Bruder hat Frau und Kind und ist einer der zufriedensten Menschen, die ich kenne.", sagte sie, dann verließ sie das Lokal.
Zu Hause angekommen, setzte sie Teewasser auf.
Sie zog sich bequemere Sachen an - eine Jogginghose und ein Sweatshirt, dann setzte sie sich auf die Couch und blätterte in ihrem Fotoalbum. Sie holte das Fotoalbum eigentlich nur heraus, wenn sie entweder traurig war oder wenn sie eine Veränderung anstrebte.
An diesem Abend traf irgendwie beides zu.
Sie hatte erkannt, dass sie drei Jahre ihres Lebens vergeudet hatte.
Auf den Bildern mit Tim sah sie glücklich aus. Doch nur auf den ersten Blick. Wenn man genauer hinsah, sah man, dass ihre Augen einen traurigen Glanz hatten.
"Du kannst die Menschen nicht ändern, Janna", hatte ihre Mutter immer gesagt.
Janna hat das nie glauben wollen. Sie war fest davon überzeugt gewesen, Tim ändern zu können. Sie hatte sich immer eine Zukunft mit ihm vorgestellt, in der sie zusammen in einer netten kleinen Wohnung lebten, sonntags Ausflüge machten oder ins Kino gingen und gemeinsame Urlaube planten.
Ihre Wunschträume waren meilenweit von der Realität entfernt.
Janna konnte sich nur an drei gemeinsame Kinoabende erinnern.
Und da Tim meist auch sonntags arbeitete, hatten die Ausflüge auch immer nur in ihrer Fantasie sattgefunden.
Als sie sein Gesicht auf dem Foto betrachtete, wurde ihr klar, dass sie ihn gar nicht richtig geliebt haben konnte. Sie hatte vielmehr die Person geliebt, die er in ihren Zukunftsträumen verkörperte.
Sie hatte gehofft, dass er irgendwann so sein würde - Der Mann aus ihren Träumen.
Sie klappte das Album zu. Dann griff sie zu ihrem Telefon und wählte eine Nummer, die sie lange nicht mehr gewählt hatte. Als sie die Zahlen eintippte, wunderte sie sich darüber, dass sie sie noch aus dem Kopf wusste.
Der Anrufbeantworter ging ran. Sie wollte erst auflegen - sie hasste diese Dinger - doch dann entschied sie dagegen.
"Hallo, Mirko, hier ist Janna. Ich... es ist lange her, dass ich mich gemeldet habe.. aber... also ich dachte wir könnten uns mal treffen, wenn du.."
"Ja, hallo?" Plötzlich wurde abgehoben, aber es war nicht Mirko. Es war eine weibliche Stimme.
"Ja... Kann ich Mirko sprechen?", fragte Janna unsicher. Wie dumm von ihr. Natürlich war Mirko nicht mehr zu haben, was hatte sie überhaupt erwartet. Er war witzig, gebildet und sah gut aus.
"Wer ist denn da? Janna bist du das? Hier ist Rebecca."
Rebecca. Mirkos Schwester. Janna war zusammen mit ihr zur Schule gegangen. So hatte sie Mirko überhaupt kennen gelernt.
"Ja, hier ist Janna. Ist Mirko gar nicht da?"
"Mirko ist im Krankenhaus, Janna."
"Oh", sagte sie nur. Sollte sie fragen warum? Sie wollte aber, sie wusste nicht, ob sie sich traute. Rebecca kam ihr zuvor.
"Er hat versucht, sich umzubringen. Er ist seit ein paar Jahren sehr labil und es ist nicht sein erster Versuch."
"Oh." Mehr fiel Janna auf den Schreck nicht ein.
"Geht es ihm gut, ich meine..."
"Er ist außer Lebensgefahr", antwortete Rebecca.
"Ich würde gerne... Ob ich ihn besuchen kann?"
"Das halte ich für keine gute Idee. Er hat deine Verlobung mit diesem...Tom... nicht verkraftet. Seitdem geht es mit ihm bergab. Er ist depressiv und hat angefangen zu trinken."
"Oh." Schon wieder.
"Und, bist du nun verheiratet?" Die Frage klang spitzzüngig.
"Nein, ich ...habe Schluss gemacht."
"Und da dachtest du, du könntest ihn zurücknehmen, ja?"
Janna stiegen Tränen in die Augen.
"Es tut mir leid", sagte sie und legte auf.



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