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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Ein letzter Flügelschlag

Helen Reinhardt


Ist das Leben nicht ein eigenartiger Zufall. Egal was passiert, niemand kann es eindeutig vorhersehen, niemand kann es lenken. Alles hängt vom Zufall ab. So habe ich das Leben noch bis vor kurzem empfunden...
Ein Tag wie jeder andere. Die Augenlieder öffnen sich, er ist wach. Seine Blicke wandern über die Regale, erhaschen verschiedenste Bücherrücken. Schon immer war Lesen seine größte Leidenschaft, dann taucht er nämlich ab. In eine perfekte Welt, wo Wünsche sich erfüllen und Träume zum Anfassen nah sind. Eine Welt, in der er den Rest seines Lebens verbringen will, weil ihn in der Wirklichkeit nichts mehr hält. Aber er beschwert sich ja nicht, er ist still und verschweigt seine Wünsche und Ängste. Langsam hat er sich erhoben und schleppt sich ins Badezimmer, blickt sich im Spiegel an. Stützt die Hände auf das Waschbecken und beugt sich noch ein wenig nach vorne, um sich im verdreckten Spiegel besser sehen zu können. "Bin das wirklich ich? Wer bin ich eigentlich? Ich sollte abhauen, mich vom Acker machen. Anfangen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und ihm nicht mehr die Chance geben der Sieger zu sein...", jeden Morgen das Gleiche. Die rechte Hand fährt hoch zum Gesicht, umrandet das blau-braun aufleuchtende Auge. Es war nicht das erste Mal, dass sein Vater nach einer durchzechten Nacht betrunken nach Hause kam und seiner Familie das Fürchten lehrte. Ein kurzer Blick auf die Uhr: "Scheiße, ich komm noch zu spät." Innerhalb von zehn Minuten wusch er sich sein Gesicht, putzte sich die Zähne, zog sich an, raste die knarrende alte Treppe herunter, schnappte sich eine Scheibe Toast, griff nach seinem Rucksack und verließ in Eile die heruntergekommene Wohnung. Jeden Morgen das Gleiche.
Er war ein Außenseiter, egal wo er auftauchte. Die anderen mieden ihn, er hatte keine Freunde. Und er selbst wollte Außenseiter sein, weil sie ihn nicht verstehen, ihm nicht helfen könnten. Nach den gewohnten sieben Stunden Schule, schlenderte er runter zum See. Das war sein Lieblingsplatz. Hier war er allein, hier musste er nicht die Blicke der anderen ertragen. "Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn es mich nicht mehr gäbe. Ich will einfach nicht mehr. Leben ist halt kein Kinderspiel. Wenn ihr mich doch nur hören würdet. Dann würdet ihr anders denken." Er beobachte die Enten, wie sie ziellos umherschwammen und nach Futter Ausschau hielten. So verbrachte er Tag ein Tag aus seine Nachmittage, nur um nicht seinem Vater begegnen zu müssen. Denn je später er nach Hause kam, desto sicherer konnte er sich sein, dass sein Vater sich schon zur nächsten Kneipe begeben hatte.
Tage vergingen, alles wir immer; Geschrei hier und Schläge dort. Innerlich hatte er das Wort Hoffnung schon lange aus seinem Wortschatz gestrichen.
Er saß wieder an seinem kleinen See und genoss die Ruhe und den Frieden. Da bemerkte er zum ersten Mal diesen schwarzgefiederten Raben. Wie dieser ihn beäugte, als ob er von allem wüsste. Als ob er seine Seele gelesen hätte. Das Tier blieb auf seiner Bank hocken, putzte sein Gefieder. Und verharrte. Nach einiger Zeit wanderte der Rabe, mit wippenden Bewegungen den Bankrücken entlang. Von der einen Seite zur anderen und wieder zurück. Dies tat der Rabe, bis er ging. Er sah ihn nicht wegfliegen. Auch an den folgenden Tagen befand sich der Vogel am selben Platz. Er verbreitete mit der Zeit eine gewisse Vertrautheit, und er fing an, dem Raben alles zu erzählen. Wie seine Mutter vor anderthalb Jahren gestorben war und sein Vater angefangen hatte Alkohol in rauen Mengen zu sich zu nehmen, seinen Job zu kündigen und seine Kinder zu verprügeln. Er erzählte auch von seiner Hilflosigkeit und seiner Angst, dass er nur ungern nach Hause ging und dass er keine Freunde hatte. Der Rabe schien ihm wirklich zu zuhören, obwohl er sich auch nicht immer sicher war, ob der prachtvolle Vogel ihn überhaupt verstehen konnte.
Sein Zuhörer gab ihm Kraft, Kraft zu kämpfen, seine Ängste zu Überwinden. Einzusehen, dass nichts so bleiben musste wie es war. Dass es sich lohnte zu leben, und dass Wünsche war werden können...
Etwa drei Monate später, befand er sich zusammen mit seinen Geschwistern in einer Pflegefamilie, die sich um ihn kümmerte, wie es sein Vater nicht mehr konnte. Damals vor diesen drei Monaten hatte er sich getraut, zum Jugendamt zu marschieren und denen alles zu erzählen. Seitdem befand sich sein Vater auf Entzug und ließ eine Therapie über sich ergehen. Nun stand er da, wieder an seinem See, aber diesmal mit Zuversicht, den Blick nach vorne gerichtet, das Vergangene hinter sich lassend. Soviel hatte er durchgestanden, soviel erlebt. Und seinen Lebensmut wieder gefunden.
Mit einem Lächeln drehte er leicht den Kopf und sah zum Raben hinüber. "Danke", hauchte er. Der Vogel schien ihn zu verstehen. Senkte den Kopf, ging ein wenig in die Tiefe und blickte ihm ein letztes Mal in die Augen. Dann stieß er sich von der Bank ab und breitete seine schwarzen Schwingen aus. Er flog davon, und während er dem Raben hinterher sah, begriff er alles. Denn er hatte einen Freund, der ihm genau das gegeben hat, was er benötigte. Zuwendung, Zeit und Vertrauen. Eine Träne rann über seine Wangen; sein vorübergehender Begleiter flog auf und davon. Und ihm war bewusst, dass er ihn nie wieder sehen würde. "Ich werd dich nie vergessen." Und mit dem letzten Flügelschlag begab er sich in ein neues Leben.



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