Späte Erkenntnis
Nicolaus Kessener
Der junge Mann, der etwas verloren an diesem kalten Januarmorgen an den Landungsbrücken stand und ins Wasser des Hafens starrte, war vornehm gekleidet. Er wirkte so, als gehöre er nicht in diese ungemütliche Gegend.
Hans Meindel war aus dem Stau Richtung Hafenstraße ausgeschert und zum Hafen hinunter gefahren. Eigentlich müsste er schon längst in seinem Büro sein, aber er hatte, im Stau steckend, eine Luftspiegelung auf der Elbe gesehen. Da es ohnehin nicht weiterging, fuhr er beim alten Elbtunnel ab und hinunter zur Elbe. Und da stand er nun, fror und fragte sich, was für eine Halluzination er wohl gehabt haben musste, die ihn an diesen öden Platz gelotst hatte.
Hans Meindel, ein attraktiver Mann von 40 Jahren, war ein vielbeschäftigter Medienberater in Hamburg. Ihm gehörte die Werbeagentur "Saurer Drops", eine aufstrebende Firma mit sehr guten Kontakten zur Medienbranche und in die Industrie.
Die Luftspiegelung - aus dem Auto von der Straße sah sie aus, wie eine flirrende Luftsäule - war nun nicht mehr zu sehen und Hans wollte schon Richtung Wagen gehen, als er einen seltsamen Geruch wahrnahm.
Er kannte diesen Geruch, wusste nur nicht woher. Es roch nach kaltem, abgestandenen Rauch, nach Schnaps und Ausdünstungen von einem Menschen, der die regelmäßige Körperpflege nicht zu seinem Markenzeichen gemacht hatte.
Während Hans sinnierte, woher er wohl diesen Geruch kenne, vergaß er völlig, nach der Person, die den Geruch verströmte, Ausschau zu halten. Als ihm diese Unterlassung einfiel, war es zu spät: Kein Mensch war zu sehen. Es schneite leise vor sich hin, Hamburger Schmuddelwetter eben.
Hans' Handy klingelte. Seine Sekretärin fragte nervös, wo er denn bliebe, der nächste Termin sei in einer halben Stunde angesetzt. Hans erwiderte freundlich, aber bestimmt, dass für heute alle Termine abzusagen seien. Er würde sich im Laufe des Nachmittags melden.
Nun, da er für diesen Tag frei war, erinnerte er sich an seine Kinder- und Jugendzeit in Hamburg in der Dorotheenstraße. Warum nicht einen Abstecher in die Vergangenheit machen? Er nahm die S-Bahn und wanderte langsam sein Wohnviertel von früher ab, das er kaum wiedererkannte. Die Straße war immer noch mit Kopfsteinpflaster belegt, die Häuser standen immer noch viel zu eng zusammen und es roch immer noch muffig und nach gekochtem Fisch. Aber, es war trotzdem alles anders! Seine Erinnerungen an die damalige Zeit;
die Zeit mit Brigitte, seiner geliebten Mutter und seiner verehrten Oma Gertrud, war ganz tief in seinem Gedächtnis versteckt und schien nur widerwillig zum Vorschein zu kommen.
An der Ecke, ja genau dort drüben, da stand immer Gerti, seine damals beste Freundin, die auch alle seine Geheimnisse mit ihm teilte. Gerti ging mit ihm zur Schule, war Kameradin und bester Freund. Gertis Mutter Hanna und Brigitte waren Freundinnen. Es war doch eigentlich eine schöne Zeit gewesen...
Langsam wanderte Hans im nieselnden Schnee weiter und sah an der Ecke ..: GERTI?? Er rieb sich die Augen. Dort, an der Ecke, stand eine junge Frau mit langen braunen Haaren, die ihn belustigt anschaute und laut rief: "Hans, Hans Meindel, was machst du denn hier in unserer Heimat?"
Er war sprachlos. Sie war es also doch: Gerti, seine Jugendliebe. Hans druckste herum und wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Mund stecken.
"Du brauchst nichts zu sagen; ich hab dich schon eine ganze Zeit beobachtet und auch nicht sofort wiedererkannt. Was machst du hier und hast du Lust, bei meiner Mutter einen Kaffee zu trinken? Ist ja fast so, wie früher."
"Also Gerti, ich bin völlig überrascht. Ja gerne, ich komme gerne mit. Wohnst du hier?"
"Nein, ich lebe in München und bin nur hier, weil es Mutter nicht gut geht. Der Jürgen, weißt du, hat sie verlassen und es geht ihr schlecht. Da muss ich manchmal nach ihr schauen. Was machst du denn hier?"
"Ich habe hier in Hamburg mein Büro. Ich wollte nur aus dem Stau weg und bin spazieren gegangen."
Es entspann sich eine angeregte Unterhaltung ohne, dass sich die beiden fremd gewesen wären. Beim Eintritt in Gertis Wohnung hatte Hans wieder diesen bereits an der Elbe wahrgenommenen Geruch in der Nase. Auch jetzt konnte er ihn nicht mit seinen Erinnerungen in Einklang bringen.
"Schau, wer da ist, Mutter. Kennst du noch Hans? Hans Meindel, den Sohn von der Brigitte von gegenüber, die damals ausgewandert ist?"
Hanna Voss nickte stumm, sie schien wenig erfreut über den Besuch und ein wenig ängstlich zu sein. "Jürgen war hier," antwortete sie mit müder Stimme. "Er wollte seine Sachen holen. Aber er hat nur etwas getrunken und ist dann gleich wieder weg. Mir geht es nicht gut, Hans.... ich meine Herr Meindel."
Wir übergehen die folgenden Stunden und Tage. Hans und Gerti fanden sich wieder, als hätten sie sich nie aus den Augen verloren. Sie waren glücklich und besuchten die Stätten ihrer Kindheit und natürlich Gertis Mutter.
Während eines Besuchs geschah es, dass ein nachlässig gekleideter Mann die Wohnung betrat. Als er Hans Meindel sah, wurde er blass, seine Augen verengten sich und er fragte mit hoher Stimme: "Was wollen Sie denn hier?" Dabei legte er eine Tageszeitung auf den Küchentisch. Auf der Titelseite stand: "Open ship auf der neuen Prinz Hamlet." In diesem Moment explodierte in Hans' Kopf eine Erinnerungsblase:
Vor 26 Jahren gab es schon einmal ein "open ship" auf der damals ebenfalls neuen Prinz Hamlet. Er war mit seiner Mutter Brigitte und Jürgen gemeinsam dorthin gegangen. Seine Mutter hatte ein Sparbuch mit fast 3.000 Mark ausgezahlt bekommen und Jürgen hatte mehrfach versucht, ihr das Geld abzuschwatzen. Nein, nein, wehrte sich Brigitte; das Geld sei für den Jungen und eine vernünftige Ausbildung vorgesehen.
Der 14jährige Hans hatte von der Diskussion nur am Rande mitbekommen. Er freute sich, auf dem Schiff alles ansehen zu dürfen und war in einer Kabine in den Wandschrank gekrabbelt. Der Schrank war mit Lamellentüren versehen. Hans konnte, ohne selbst gesehen zu werden, das ganze Zimmer beobachten. Es war schon dunkel und seine Mutter kam lachend mit Jürgen ins Zimmer, als dieser plötzlich seine Hände um Brigittes Hals schloss und zudrückte.
Der verschreckte Hans saß in seinem Versteck und konnte nichts tun; seine Hände, Füße und seine Stimme gehorchten ihm nicht. Seine Mutter wehrte sich verzweifelt und fiel mit dem Kopf gegen die Lamellentür. So saß der Junge Auge in Auge mit seiner sterbenden Mutter, ohne dass er ihr helfen konnte.
Als Brigitte sich nicht mehr bewegte, rollte Jürgen sie in den Teppich der Kabine ein und trug sie, über die Schulter geworfen, aus dem Zimmer. Vorher hatte er die Handtasche mit den 3.000 Mark ausgeräumt und das Geld eingesteckt.
Hans hörte von seinem Platz nach einiger Zeit ein Platschen und ahnte, dass Jürgen seine Mutter ins Wasser geworfen hatte.
Hans wurde einige Tagen nach diesem Vorfall in der Stadt aufgegriffen, weil er offensichtlich das Gedächtnis verloren hatte und völlig apathisch wirkte. Seine Mutter, so wurde von ihrem damaligen Freund Jürgen erzählt, sei nach Amerika ausgewandert. Kurzentschlossen und zack zack. Der Junge müsste zur Oma....
Die Luftspiegelung, die Hans im Januar 2003 im Hamburger Hafen sah, befand sich auf der Stelle, wo vermutlich seine Mutter ins Wasser geworfen worden war. Dass Jürgen genau an diesem Tag und zu dieser Stunde ebenfalls am Elbufer stand und von Hans geruchlich bemerkt wurde, war sicherlich ein glückliches Zusammentreffen. Denn Hans wäre ansonsten nie in die Dorotheenstraße gegangen, hätte ergo nicht Gerti wiedergesehen und natürlich wäre es nicht zu dem Zusammentreffen mit Jürgen in Hanna Voss' Haus gekommen.
Das Seewetteramt in Hamburg konnte für den 29. Januar 2003 jedenfalls keine wie immer geartete Luftspiegelung in Höhe des alten Elbtunnels bestätigen. Vielmehr seinen die Luftspiegelungen heißen Tagen im Juli oder August vorbehalten.