JAZZ, BABY!
Lars Terlinden
Lesen, Lernen, eingeschlafene Füße wecken, Fast Food und langsame Gedanken
seit Tagen, das harte Brot des strebsamen Studenten. Um dem Aufschlag der
Zimmerdecke, die sich kräftig anschickte, mir auf den einzig aktiven Teil
meines schriftgeschundenen Körpers zu fallen, zu entweichen, schlüpfte ich
aus den ranzigen Hausklamotten in meine ranzigen Außer-Haus-Klamotten und
ging dann doch zur Jazzkneipe um die Ecke, wo dienstags nicht nur umsonst,
sondern auch gut musiziert wird.
Badabing! Volltreffer, gute Band. die Zusammenstellung war skurril: Bass,
Gitarre - soweit üblich; verzückend entzückende Sängerin - nicht
ungewöhnlich, aber meist gewöhnlich (schlecht); aber dann: eine Geige (dazu
später mehr) und ein Drummer, der nicht nur die gespannten Felle toter Tiere
auf den Rahmen vor sich kunstvoll zu liebkosen wusste, sondern auch den
Bongos extatische Töne und zuletzt seiner Mundhöhle hektische Klopflaute zu
entlocken im Stande war: eine bongostreichelnde, trommelschlagende,
zungeschnalzende BEATBOX! Schneller als der Fuß wippen und das
kaffeegestresste Herz schlagen können, arrangierte sich auf meinen
Trommelfellen ein Jazzmalstrom erster Güte. Jeder für sich ein Virtuose am
eigenen Instrument, schien es, als würden alle auch die Finger, Füße und
Stimmbänder der anderen steuern. "Thieves in the temple tonight", Prince auf
Jazz! Tom Waits ohne Whiskeystimme, dafür mit Bongos, darunter eine Stimme
hauchzart wie Reizwäsche. spielt, spielt!
Zum Lesen kam ich trotzdem, der Rhythmus fand sich in der Schrift wieder,
der ganze Raum drehte sich um jeden neuen Ton. Meine Lippen, sonst von
passiver Schwülstigkeit geprägt, hörten nicht auf in Richtung meiner Ohren
zu tänzeln: Ein Grinsen von Kopf bis Fuß. Jubelschreie, weiter so!
Der Gitarrist, dem Aussehen nach ein bemühter Britpopper, zupfte an den
Stimmbändern seiner wohlgeformten Klampfe als plante er eine Orgie mit 72
Jungfrauen. Der Bassist, kräftig, maskulin, in viel zu dicken Klamotten und
doch kühl wie eine Tiefkühlscholle im Bofrostwagen, schien sich Knoten in
die Finger zu spielen, bäumte sich auf gegen die Töne, das Gezerre, die
dumpfen Umpfs und Budumms, die mehr aus ihm als aus seinem vibrierenden
Klangkörper zu kommen schienen. Blurmp, Blurmp - das Zucken seiner Hüfte
ging über in gehörtes Leben, geschmeckte Noten, gerochene Farben und
gänsehäutiges Sehen. die Stimme, eine süße Rothaarige, ein frecher Körper in
Hüfthose, sich selbst zu immer neuen Tönen, Lauten, Klängen kitzelnd,
niemals daneben, sing! Schrei, wenn du willst, hör nicht auf, wenn du
kannst!
Und dann: Die Violine. Hm. 'Ne Geige? So'n Ding mit Klassik drin? Hm, hm.
Oder Folk und Western? Ähem, hm. Klotz am Bein, Brandloch im Notenteppich,
Schlagloch auf dem Weg in die Glückseligkeit? Nein: Jazz, Baby, J A Z Z!
Schräg, wild, unbändig, ein Coltrane mit Saiten und Bogen, stampfte sich in
jedes Stück, kreischte, heulte auf, fiel in sich zusammen, stieg wieder ein,
bereitete den Boden für Alles und Nichts. Drums? Percussion? Nicht heute.
Eine Menschmaschine mit vier Armen und zwei Köpfen, mit zehn Händen,
Stöcken, Pinseln, Mund und Zunge. Tiere sollen sterben, müssen sterben, ja,
zieht ihnen die Haut ab! Macht Trommeln draus, er lässt sie wieder
auferstehen, holt das Echo ihres panischen Tanzes zur Schlachtbank zurück!
Die Becken - ein Schlag, zu fest - der Teller fiel runter, Kalong! Lachen,
weitermachen! Die Geige hielt das Metall auf dem Daumen, und er schlug
weiter drauf ein. Extase! mehr, hört nicht auf,
spieltumhimmelswillen:;:;:spielt:;:;:
Und dann: Pause.
Oder nicht? Der Schall vibrierte - in mir, im Glas, in allen Menschen -
Klangkörper im göttlichen Konzert - drumherum, die Töne waren weg und immer
noch da, kamen wieder, gingen raus, sind draußen, nicht mehr einzufangen...