Jank und das Laufproblem
Günther Pfeifer
Er verriegelte alle Türen und Fenster sorgfältig und legte sich im kühlsten
Zimmer auf das Bett um an die Decke zu starren. "Das Zermürbendste ist ja das
Warten", sagte er in die Stille. "Eine echte Zerreißprobe für die Nerven.
Da darf man keinen Fehler machen, nicht nachgeben. Auf gar keinen Fall." Und
er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein, wappnete sich innerlich gegen
die Leere, die für die nächste Zeit sein Hauptgegner sein würde.
"Natürlich ist die Leere auf ihrer Seite", sagte er sich. "Es wäre naiv,
anzunehmen, dass der Kampf nicht schon begonnen hat und die erste Schlacht nicht
schon jetzt auf das Heftigste tobt. Das ist ja eben der Kardinalfehler, den
viele andere an meiner Stelle wohl gemacht hätten, auf eine Konfrontation zu
warten und nicht zu bemerken, dass ebendieses Warten schon Teil der
Konfrontation ist. Wer in dieser Zeit nachlässig wird, wer die Zügel schleifen lässt,
die Aufmerksamkeit verliert, ist ja schon unaufholsam in Nachteil geraten,
hat praktisch schon verloren. Man kann ja,", setzte er laut hinzu, wobei er
sich erhob und begann in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen, "man kann ja
diese Art der psychologischen Kriegsführung auch bei Sportveranstaltungen
beobachten, das Einschüchtern, das Irritieren, das Warten lassen, das plötzliche
unflätige Beschimpfen, das Vorspielen einer Verletzung und einige Zeit später
die wundersame Genesung von derselben, das Schreien und Stöhnen, Früh- und
Fehlstarts, Rempeleien, die eigentlich keinen praktischen Vorteil bringen."
Jank verließ nun den kleinen Raum und ging die Treppe hinunter in die große
Wohnküche, in der er sodann auf und ab schritt wie ein gefangenes Raubtier,
immer noch vor sich hin dozierend: "Langstreckenläufer, die ihren Gegner genau
im Abstand von 5 Metern verfolgen, über Dutzende Meilen hin, nicht vorbei
laufend, nicht zurückfallend, egal wie er sein eigenes Tempo auch variieren
mag, sie passen sich an, halten nicht dagegen, nein, sie geben nach, wie eine
Wand in der Gummizelle, gegen die der Verrückte immer wieder anläuft. Sie nimmt
seine Kraft auf, lenkt sie ab und gleitet langsam und sanft wieder in die
ursprünglich Position zurück. Das schafft einen, das zerrt an den Nerven. Der
führende Läufer betet um Erlösung, Erlösung aus der Unsicherheit: Wann kommt
der Angriff? Wann werde ich meiner Verantwortung das Tempo anzugeben, die
Gegner zu kontrollieren und mich selbst voranzutreiben, enthoben? Wann muss ich
mich nicht mehr umdrehen um zu sehen, ob nicht doch schon ein paar Meter mehr
zwischen mir und der Meute liegen, wann bekomme ich die Bestätigung meine
Kraft richtig eingeteilt zu haben, als Einziger richtig eingeteilt zu haben?"
Nun stieg Jank, immer noch weiter sprechend, die Treppe des Hauses hinauf,
von der Küche ausgehend, durch das Zwischengeschoss mit der Sitzgruppe, bis
hinauf zu dem kleinen Dachgeschoss von wo aus man eine Terrasse betreten
konnte, dort drehte er auf dem Absatz um und stieg die Stufen wieder hinunter, er
hatte sich in eine eigentümliche Erregung gebracht, die es ihm unmöglich
machte still zu halten oder mit seiner Rede aufzuhören.
"Der führende Läufer", fuhr Jank fort, "gleicht also gehetztem Wild. Ja
schlimmer noch, er ist gehetztes Wild, doch gleichsam in einem Käfig. Denn
während das gehetzte Wild in freier Natur immer noch die Möglichkeit hat seine
Richtung zu wählen, seine Verfolger mit Haken, Sprüngen, raschen
Richtungswechseln, plötzlichen Ausbrüchen in andere, für den oder die Verfolger vielleicht ganz ungünstige Geländeteile, zu überraschen, zu irritieren, möglicherweise
sogar in Gefahr zu bringen oder ihm beziehungsweise ihnen gar zu entkommen, muss der Läufer ja die festgelegte Strecke einhalten, muss einen genau
vorgeschriebenen und seinem, oder seinen Verfolgern ebenso bekannten Weg zurücklegen. Entschließt er sich in Panik zum Ausreißen, zu einem völlig absurden und nutzlosen Fluchtversuch, vergeudet er seine Kräfte damit, an einer, von ihm
spontan gewählten, also allen Regeln der Logik und des sorgfältigen Planens
widersprechenden Stelle, plötzlich das Tempo exorbitant zu erhöhen, begeht er
einen Fehler. Will er seinem Gegner dadurch Paroli bieten, dass er ihm
verzweifelt vorzugaukeln versucht, ebenfalls aus freien Stücken den Zeitpunkt für
einen Sprint festlegen zu können (was natürlich blühender Unsinn ist, da ja alle
leicht durchschauen können, dass es nur vermeintlich aus freien Stücken
geschieht, weil doch jeder Unbeteiligte bemerken muss in welcher Zwangslage er
sich befindet und natürlich auch jeder Beteiligte, vor allem aber sein
Verfolger, wen also will er damit täuschen?), wenn er also seinen Verzweiflungsversuch startet, sieht es der Verfolger sofort und reagiert in Bruchteilen von Sekunden nach seinem Gutdünken, erhöht sein Tempo ebenfalls, oder auch nicht, ganz wie er es möchte. Zieht er mit, ist der Abstand innerhalb einer Sekunde wieder hergestellt und der führende Läufer, der immer wieder den Kopf wendet um zu sehen, wie seine Aktion beantwortet wird, verzweifelt an der Nutzlosigkeit seines
Fluchtversuches. Lässt der Verfolger aber den Ausreißer davonziehen...",
Jank war nun aus dem Haus getreten und folgte der leicht ansteigenden
Straße zu der kleinen Steinkirche, die vielleicht zweihundert Meter entfernt
stand, und wählte bei dieser einen kleinen Pfad, der ihn etwas oberhalb des Hauses
wieder zurück führte und dann weiter die terrassenförmigen
Olivenhaine hinauf, erregt gestikulierend vor sich hin sprechend.
"...dann ist für diesen die Lage noch fataler und nicht wenige halten diesem
Druck nicht stand und schaffen sich eine rettende Verletzung, die ihnen als
sichtbares Zeichen die vorzeitige Beendigung des Rennens unter Bewahrung des
Gesichtes ermöglicht. Natürlich tun sie das nicht bewusst, ihr
Selbstwertgefühl würde einen irreparablen Schaden erleiden, natürlich sorgt ein
Schutzmechanismus dafür, dass der Körper die Erlaubnis zur Verletzung vom
Unterbewusstsein erhält, getarnt natürlich, da ja das Bewusstsein in solchen Situationen misstrauischer denn je ist, es muss also ein Stolpern, ein Tritt in eine
Bodenunebenheit sein, die einen Sturz ermöglicht, bei dem sich der Läufer
möglicherweise das Schlüsselbein bricht. Manche laufen dann mit dem Bruch oder ihren anderen Verletzungen weiter, sind nun plötzlich zu Spitzenleistungen fähig,
überwinden die Schmerzgrenze, legen noch Dutzende Meilen zurück, trotz ihres
Handicaps und kommen noch als Vierter oder Fünfter ins Ziel. Denn der Druck der Erwartungshaltung ist nun gewichen, niemand, auch der
strengste und unerbittlichste Trainer nicht, erwartet von einem verletzten
Läufer, oder einer verletzten Läuferin, dass er oder sie das Rennen fortsetzt.
Schon allein die Fortsetzung des Rennens ist also eine Meisterleistung und
Heldentat, die niemand erwartet oder gar gefordert hätte, auch der letzte Platz
ist in diesem Fall schon eine Ausnahmeleistung und kann gar nicht gebührend
genug bewundert werden und so kann sich die Kraft des ehemaligen Führenden frei
entfalten, kann er, von den Endorphinen, die ob der Kraftentfaltung
ausgeschüttet werden, gegen die sonst unerträglichen Schmerzen geschützt, mit seinem ganzen antrainierten Elan das Rennen beenden."
Jank hatte sich in Rage geredet, er fuchtelte nun mit den Händen in der Luft
herum, ruderte mit den Armen und schüttelte wild den Kopf, die Verzweiflung
des von ihm geschilderten Läufers nachahmend, bald flüsterte er eine Passage
seines einsamen Vortrages, bald schrie er sie über das stille Tal, er keuchte
auch zwischen den einzelnen Worten und Sätzen, war er doch schon mehrere
hundert Meter den sich stetig zur Höhe windenden Weg hinaufgestiegen, hatte
längst die letzten Häuser hinter sich gelassen und wurde immer schneller, obwohl
ihm die Luft auszugehen drohte. Er schritt kräftig aus und setzte dabei
seinen Monolog fort.
"Der Läufer, der verfolgt, hingegen", stieß er erregt hervor, "hat nicht den
Funken einer Chance jemals die psychologische Hürde zu überwinden, die ihm der
andere, der Führende, allein schon durch den Namen den er sich gab,
aufgebaut hat. Der Führende, der Erste, derjenige der voran liegt, der Tempomacher,
der Spitzenmann, all diese Bezeichnungen sind ja dazu angetan den Verfolger,
der Gefahr läuft schon beim zweiten oder dritten Rennen, das er als Zweiter
beendet zum &rqauo;ewigen Zweiten« erklärt zu werden, zu demoralisieren, ihm von Anfang an die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens vor Augen zu führen, ihn in seine Schranken zu weisen. Er ist ja bestenfalls der Herausforderer, der
Jäger, der Verfolger, aber diese Namen implizieren ja schon das
Hinterherlaufen, das hinten Nachlaufen und den Zwang, der in all diesen Vorgängen steckt.
Er ist ja nicht Herr seiner Wünsche, nicht Herr seines Laufes, ist vielmehr
Knecht des Laufes seines Vordermannes, seines Vorbildes, der ihm verächtliche
Blicke über die Schulter zuwirft und ihm ansonsten nur den Arsch zeigt und
seinen locker federnden Schritt, mit dem er scheinbar mühelos, gleich einem
Tänzer vor ihm her läuft. Er, der Zweite, er bemüht sich den Abstand auf fünf
Meter genau zu halten, eine Distanz aus der er gefährlich werden und angreifen
kann.
Aber er ist ja den Launen seines Vordermannes hilflos ausgeliefert. Kaum hat
sich sein Atem und sein Schrittmaß angepasst, kaum ist er im Rhythmus,
wechselt der Vordere auch schon das Tempo, wird schneller, oder auch langsamer und zwingt ihn, den Verfolger, schon zur Korrektur, zwingt ihn sich erneut
umzustellen, bringt seinen ganzen Plan, seine Krafteinteilung wieder völlig
durcheinander. Das zermürbt, das martert einen, das kann einen zur Verzweiflung
bringen. Gar nicht zu reden von dem Fall, dass der Erste plötzlich einen Sprint
startet, kein Mensch kann ja abschätzen ob er blufft, ob er nach hundert Metern
bereits wieder in seinen gewohnten Trab zurückfällt, oder ob er den Sprint
solange auszudehnen vermag, dass er, der Zweite, der ewige Zweite, den Anschluss
nie mehr finden kann, wenn er nicht augenblicklich mitzieht."
Jank war völlig außer Atem bei einer Quelle angelangt, die im Schatten aus
den Felsen sprudelte. Erschöpft lies er sich neben ihr zu Boden sinken und
kühlte sich das Gesicht mit dem Wasser, das er mit den hohlen Händen auffing.
Dazwischen trank er gierig einige Schlucke und atmete dann hörbar aus. "Ahh!",
rief er immer wieder. "Ahh, ahh!" Dann sprang er wieder auf, er war rastlos,
fahrig, konnte immer noch nicht stillhalten, lief eilig den Weg zurück, den
er gekommen war und begann von neuem seine Theorie über die Langstreckenläufer zu deklamieren.
"Er, der Führende", so Jank, "ist sich seiner Verantwortung ebenso bewusst
wie seiner Macht, er trägt beides mit dem heroischen Gleichmut des Siegers. Er
hat sich zum Sieg entschlossen, hat gewählt. Er ist der Erste und er wird es
bleiben. Der Zweite hingegen läuft ihm nach, imitiert sein Tempo, seinen
Stil, ist ein Abbild, eine Karikatur des Siegers, als den wir den Führenden
jetzt schon bezeichnen dürfen, er wird seinen Angriff an der falschen Stelle
starten, einen halbherzigen Versuch wagen, zaghaft, ängstlich, unentschlossen und
wird seine Zweifel sofort bestätigt finden, indem der Angriff scheitert,
seine Kraft reicht nicht aus, sein Sprint ist zu früh, vielleicht aber auch zu
spät, seine Schrittlänge zu kurz bemessen, zu niedrig die Frequenz, sein Wille
zu schwach, so muss er verlieren."
Mittlerweile war er wieder beim Haus angelangt und merkte nun, dass es sich
bewölkt hatte. Er lief vor dem Haus auf und ab und dachte noch eine Weile
über die psychologischen Tricks im Sport, und wie er sie für seine Strategie
nutzen würde, nach. Dann begann es zu regnen und er streckte sich auf der
Terrasse des Hauses aus, um sich ganz dem Regen darzubieten, wie er es vor dem
Krankenhaus getan hatte. Der Regen war warm und Jank erschöpft und erhitzt.
Langsam sank er in einen leichten Schlummer.