Der Referent
Agnes Jäggi
Wie immer vor einem Referat war Max Dollmann etwas nervös. Er warf einen
kurzen Blick in die Runde, um sein Publikum einzuschätzen. Dabei legte
sich seine Stirn für einen Moment in missmutige Falten, und er dachte
bei sich, wie nachlässig sich manche Leute doch in der Öffentlichkeit
kleideten. Na, denen würde er im Laufe des Abends einen gehörigen
verbalen Stupser verpassen. Schnell überflog er noch einmal seine
Notizen. Dann stellte er sich kerzengerade hinter seinen Notenständer.
Nicht einmal einen anständigen Rednerpult hatten ihm diese Banausen zur
Verfügung gestellt. Tja, er würde sich bei den Veranstaltern ordentlich
beschweren müssen. Schließlich gab es gewisse Regeln. Wo würde das noch
hinführen, wenn sich keiner mehr um gewisse Konventionen und
Gepflogenheiten kümmerte. Nun denn, es wurde langsam Zeit, wenn er sein
Publikum noch einfangen und fesseln wollte. Bereits machte sich
unwilliges Brummen im Raum breit und die äußerst schlampig in einen
verwaschen-gelben Morgenmantel gekleidete Dame trällerte lautstark vor
sich hin. In einer halben Stunde würde das Bankett eröffnet werden.
Essensausgabe nannten die das hier, was für ein alberner Ausdruck, wie
in einer Kantine. Mit einiger Mühe gelang es Dollmann, seine
verächtlichen Gedanken abzuschütteln und sich auf seine Rede zu
besinnen. Leicht affektiert hob er den Zeigefinger an den Mund,
räusperte sich vernehmlich und begann mit tiefer, wohlklingender Stimme
zu sprechen: "Meine sehr verehrten Damen und Herren. Es ist wohl nicht
nötig, dass ich mich näher vorstelle, da sie alle bestimmt schon in der
einen oder anderen Weise von meinen philosophischen Schriften
profitiert, ja durch mich und meine Werke sogar wertvolle Lebenshilfe
erfahren haben. Und natürlich haben sie mein Gesicht auch schon im
Fernsehen sowie in namhaften Zeitungen gesehen." Tief befriedigt
schweifte der Blick des Redners über sein Publikum, welches wie gebannt
an seinen Lippen hing. Der eine oder andere kaute in Erwartung dessen,
was noch folgen würde, bereits eifrig auf seinen Lippen herum und die
Dame in Gelb hatte aufgehört zu trällern. Eine geschlagene halbe Stunde
lang, hielt Dollmann die Anwesenden mit seinen brillanten Ausführungen,
gedanklichen Höhenflügen und großartiger verbaler Akrobatik in Atem.
"Und damit, meine Damen und Herren", donnerte Dollmann schließlich in
die Runde, "schließe ich meine Betrachtungen über den Sinn des Lebens
ab. Ich erlaube mir, Sie auf meinen nächsten ebenso interessanten
Vortrag in einer Woche hinzuweisen, wo wir dann gemeinsam die
Problematik des Manager-Daseins erörtern werden. Sie sind alle herzlich
dazu eingeladen. Ach ja, da wäre noch eine Kleinigkeit!" (Dollmann
lächelte zufrieden in sich hinein) "Ohne Ihnen nahe treten zu wollen:
Ich fände es angebrachter, wenn Sie beim nächsten Anlass etwas mehr auf
Ihre Garderobe achten würden. Glauben Sie mir, meine Herren, es ist
nicht wahr, dass eine Krawatte die Gehirntätigkeit einschränkt."
Dollmann kicherte vor Vergnügen über diese kleine Spitze, während im
Publikum da und dort Stimmen laut wurden. Leicht verärgert vernahm
Dollmann nun Ausrufe wie: "Habe Hunger! Will schlafen! He, geben Sie mir
meinen Notenständer zurück, ich muss noch für meinen Auftritt mit Caruso
proben! Kamillentee, ich will Kamillentee und keinen Kaffee!"
Ach, dieses armselig-einfältige Volk, dachte Dollmann voll zärtlichem
Mitleid, als sich plötzlich eine Hand leicht auf seine Schulter legte.
"Herr Dollmann, es ist Zeit für Ihre Medikamente. Und dann setzen Sie
sich bitte an einen Tisch, gleich folgt die Essensausgabe." Nach einem
kurzen missbilligenden Blick auf den Pfleger im arg zerknitterten
weißen Kittel, schluckte der so rüde Angesprochene seine Medizin und
machte sich, sich seiner Würde und Verantwortung bewusst, auf den Weg
zum glanzvollen Bankett. An seinem angestammten Platz am oberen Ende des
Tisches angekommen, lächelte er seinen Tischnachbarn freundlich zu,
verbeugte sich leicht und erhob schließlich seine Stimme zu einer
salbungsvoll-angemessenen Tischrede, in deren Verlauf er unter anderem
auf die Gefahren der Globalisierung, sowie auf den ärgerlichen Verlust
seiner neuen Lesebrille einging.