Eine Zigarre zur Beerdigung
Agnes Jäggi
Hermann besuchte nach mehr als zwanzig Jahren sein Heimatdorf. Er würde
den Zug auf Gleis 5 nehmen, welcher Punkt drei Uhr abfahren sollte. Das
hatte ihm Helene, seine Betreuerin, geduldig erklärt. Hermann musste
fast ein wenig lächeln. Er war doch nicht blöd, außerdem konnte er
lesen, auch wenn die Fahrpläne in den vergangenen Jahren sehr
umfangreich geworden waren. Aber das war nur natürlich. Die Menschen
wollten überall hin fahren und das zu allen möglichen und unmöglichen
Zeiten, deshalb brauchte es viele Züge, viele Gleise und große
übersichtliche Fahrpläne. Hermann mochte Bahnhöfe, auch wenn er nur
selten allein irgendwohin fahren durfte, eigentlich gar nie. Für
Ausflüge mit der Gruppe wurde der praktische kleine Heim-Bus benutzt.
Aber dies hier war ein besonderer Anlass und Hermann wollte keine
Begleitung, wie er Helene würdevoll erklärt hatte. Immerhin
verabschiedete er sich an diesem herrlichen Maimorgen von seinem Onkel
Franz, der ihn jeden Donnerstag besucht hatte. Jetzt war es an Hermann,
seinem Onkel einen letzten Besuch abzustatten.
Onkel Franz war gestorben und Hermann, der sich nur vage an die
Bedeutung dieses Ausdrucks erinnerte, wusste immerhin, dass die
Donnerstags-Besuche seines Onkels von nun an ausfallen würden.
Der Zug fuhr langsam in den Sonnen beschienenen Bahnhof ein. Hermann
wanderte konzentriert und mit gerunzelter Stirn die Wagenreihe ab. Er
besaß ein Billett für die zweite Klasse, und außerdem wollte er in ein
Abteil, wo er seine Zigarre rauchen konnte. Diese hatte er von seinem
Kumpel Ferdi bekommen. "Hier Hermann, tu dir was Gutes. So eine
Beerdigung, die findet nicht jeden Tag statt", hatte Ferdi weise
bemerkt, als er ihm feierlich die Zigarre überreichte. "Ich habe sie am
Kiosk gekauft und Frau Schlatter hat mir bestätigt, eine sehr gute Wahl
getroffen zu haben." Hermann war gerührt und einen Moment versucht,
seinen Freund mitzunehmen. Er entschied sich schließlich dagegen. Ferdi
war ein guter Kumpel, ganz bestimmt. Doch in Gesellschaft von vielen
Leuten wurde er schnell nervös und er würde wieder anfangen, lautstark
aus Robert Walsers ,Der Räuber' zu zitieren. Ferdis Lieblingsbuch, das
einzige, das er besaß und das er wohl beinahe auswendig kannte. Auch
Helene wäre nicht einverstanden, wenn Ferdi mitkäme. Dabei erinnerte
Hermann sich an einen Ausflug ins Landesmuseum vor einem Jahr. Seine
Gruppe besuchte damals eine Ausstellung über Hermann Hesse. Hermann war
sehr stolz darauf gewesen, eine Ausstellung seines Namensvetters zu
sehen, auch wenn er nie etwas von diesem Dichter gelesen hatte. Er las
nur die Romanhefte, die ihm Onkel Franz jeweils mitgebracht hatte.
Na jedenfalls, kaum waren sie auf dem Parkplatz beim Museum angekommen,
geriet Ferdi auch schon außer sich. Er lief aufgeregt hin und her,
deklamierte lautstark vor sich hin und noch ehe Helene ihn zur Gruppe
zurückbringen konnte, baute Ferdi sich vor einer eleganten Dame auf,
stierte sie an und zitierte kreischend: "..und erkläre ich mich mit
allen denjenigen einverstanden, die meinen, es sei schicklich, dass man
den Räuber angenehm finde und dass man ihn von nun an kenne und grüße."
- Helene erreichte Ferdi endlich und rief atemlos: "Aber Ferdi, so
beruhige dich doch", wobei sie der erschreckten Frau einen
entschuldigenden Blick zuwarf. Helene redete eine Weile beruhigend auf
den aufgewühlten Ferdi ein, während sie den zitternden ungelenken Mann
behutsam vor sich herschob. In einem großen Raum schließlich, wo eine
Schulklasse den Erläuterungen ihres Lehrers über die Kindheit von
Hermann Hesse folgte, fuhr Ferdi fort mit seiner Litanei, wobei er
sowohl die Stimme des Pädagogen wie auch das Kichern der Kinder mühelos
übertönte: "Sie mein geschätzter Herr, scheinen kein Freund der
Dichtkunst zu sein, sonst würden sie sich besonnen haben, obiges
eigentümliches Wort über die Lippen zu bringen...". Welches Wort er
damit meinte, wurde nicht weiter diskutiert, auf jeden Fall aber
bedeutete dieser Auftritt das Ende des Ausfluges. Im Bus verhielt Ferdi
sich ganz still, bis er merkte, dass niemand ihm Vorwürfe machte. Er
holte seinen ,Räuber' aus der Adidas-Sporttasche und las laut daraus
vor. Wenn Ferdi nicht aufgeregt war, dann klang seine Stimme ganz
angenehm.
Hermann vermutete zu Recht, dass ein solches Benehmen an einer
Beerdigung unpassend wäre. Während er es sich im Zugsabteil bequem
machte, und genüsslich an seiner Zigarre zog, kehrten Hermanns Gedanken
zu Onkel Franz zurück, seinem einzigen Verwandten, der ihn vor vielen
Jahren ins Auto verfrachtet und ins Heim gebracht hatte. "Ich komme dich
besuchen, aber bei mir wohnen kannst du nicht mehr, es wird zu
anstrengend für mich", hatte der Onkel ihm unterwegs erklärt. Hermann
wusste nicht recht, was er damit gemeint hatte, ,zu anstrengend' Er war
doch ein guter Junge, der immer das tat, was sein Onkel von ihm
verlangte. Er ging zur Schule, er kochte Milch, fütterte die Hühner,
wusch die Wäsche und manchmal - nein - Seine Gedanken verirrten sich,
ihm wurde schwindlig. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Doch sein
Gehirn kannte keine Gnade, sein Kopf begann zu schmerzen. Bilder
tauchten vor Hermanns geistigem Auge auf. Er sah die wütende Frau
Manner, sie schrie ihn an. Hermann hatte Angst vor ihr, vor ihrer lauten
Stimme. Er presste ihr seine große Hand auf den Mund und schrie: "Sei
ruhig, sei ruhig!" Er glaubte noch den Schlag zu spüren, den sein Onkel
Franz ihm auf den Rücken verpasste, als er ihn vor der brüllenden Frau
wegzog. "Da, siehst du", keifte sie, "eines Tages wird dieser hässliche
Kerl noch jemanden umbringen. Meine Lea hat Angst vor ihm, weil er ihr
immer auflauert und auch die anderen Kinder im Dorf laufen vor ihm
davon!" Hermann hatte die Frau fassungslos angestarrt. Was redete die
denn da? Lea lachte doch immer laut, wenn er sie traf und auch die
anderen Kinder fanden es lustig, wenn sie mit ihm spielen durften. Onkel
Franz würde das klären, die Frau musste krank sein, wenn sie solche
Dinge behauptete. "Er ist das einzige Kind meines toten Bruders, was
soll ich denn tun?", stammelte Onkel Franz bedrückt und setzte sich
schwer auf die Bank in der Küche. "Es gibt Heime, wo solche Krea, ich
meine Menschen, gut versorgt werden und keine Gefahr für sich und andere
sind", klärte Frau Manner den Onkel eifrig auf. "Ich finde, der Junge
gehört nicht mehr hierher. Er wird älter und stärker und wer weiß
schon, was in seinem Kopf vorgeht.." Hermann hatte angstvoll seinen
Onkel angesehen. Was ging hier vor? Er wusste es nicht, ahnte aber, dass
etwas Schlimmes geschehen würde.
Hermann drückte behutsam seine Zigarre aus. Ihm war nicht mehr nach
Rauchen. In seinem Hals steckte ein Kloß und zu seinem Entsetzen merkte
er, dass er weinte, die Tränen rannen über seine Wangen, schmeckten
salzig auf seinen Lippen. Er hatte plötzlich große Angst, wollte zu
Helene, zu Ferdi. Die waren nie böse auf ihn. Wenn Onkel Franz tot war,
dann wäre er ja gar nicht wirklich dort bei der Beerdigung, stattdessen
wäre vielleicht Frau Manner da. Er weinte heftiger, wollte wieder
nachhause zu Helene, in die Gruppe. Als der Kondukteur plötzlich vor
Hermann stand, erschrak dieser so sehr, dass er den Mann von sich
wegstieß, aufsprang und den Gang entlang rannte. Der Kondukteur schrie,
was Hermanns Schrecken noch vergrößerte. Er rüttelte an einer Türe, die
sich aber nicht öffnen ließ. Er lief weiter, die Leute auf den Sitzen
starrten ihn an, der Kondukteur fluchte laut und war ihm dicht auf den
Fersen. Hermann erreichte ein Fenster, sah den strahlend blauen Mai-Himmel, das Glitzern des Flusses unter der Brücke, riss das Fenster
herunter und stürzte sich hinaus.
"Hermann ist tot", teilte Helene der Gruppe mit. "So wie sein Onkel
Franz", warf Ferdi ein, "na, das sind ja Sachen. Und dabei habe ich ihm
eine ausgezeichnete Zigarre zur Beerdigung geschenkt." Da keiner mehr
etwas sagte, holte er sein Buch von Walser hervor und begann vorzulesen:
,Denn ist nicht nach Friedrich Nietzsche das Anschauen, das Miterleben
einer Tragödie im feineren und höheren Sinn eine Freude, eine
Lebensbereicherung?'