Der Fahrstuhl
Helen Reinhardt
"Nur keine Angst", hatte Dr. Alburg ihr gestern noch versichert. Es war ja nur ein ganz normaler Fahrstuhl, nichts Besonderes. Leute drängten sich an ihr vorbei, sie stand ihnen unweigerlich im Weg. Schon seit sieben Minuten starrte sie wie gelähmt auf die stählernen Türen. Diese eiskalte Farbe, dieses durchdringende Grau. Die Türen gingen auf, schlossen sich wieder. Leute drängten hinein, gequetscht wie Ölsardinen, hechteten wieder hinaus. Aber sie blieb davor stehen. Ihr war klar, dass sie verabredet
war. Im dritten Stock wartete er auf sie. Und es waren bloß drei Stockwerke, die sie von ihm trennten. Lächerliche drei Stockwerke. Sie könnte natürlich auch die Treppe nehmen, sie wäre ganz schnell bei ihm. Das würde klappen, dass waren ca. achtundsechzig Treppenstufen, und dort müsste sie auch nicht ihrer Angst erliegen.
Aber nein, Dr. Alburg hatte ihr geraten, sich ihrer Angst zu stellen, ihr ins Auge zu blicken.
Erneut öffneten sich die Türen, drei Personen stiegen aus. Ein kurzer Blick über die Schultern, wenn sie jetzt einsteigen würde, dann wäre sie die einzige im Fahrstuhl. Vielleicht wäre das ja besser. Fest entschlossen, aber trotzdem mit einem beklemmendem Gefühl im Bauch, schritt sie hinein. Noch ging es ihr gut. Langsam schlossen sich die Türen und sie drückte auf den Schalter für den dritten Stock. Sie schaute sich in dem kleinen Raum um, klein war er, wirklich klein. "Zu klein", schoss es ihr durch
den Kopf. Ihr Herz begann zu rasen, sie war noch nicht einmal im ersten Stock angekommen. Es schien ihr, als ob die Wände näher kommen würden. Ihre Beine begannen zu schlottern, ihr wurde kalt und gleichzeitig heiß, erste Schweißtropfen flimmerten auf ihrer Stirn. Was sollte sie nur machen? Würde sie hier lebend rauskommen? Und was, wenn plötzlich der Fahrstuhl stecken blieb? Alles ging so schnell. Atemnot und der, sich eingeengt anfühlende, Brustkorb machten sich bemerkbar. Die Wände, sie waren fast da. Hätten
sie gleich erreicht. Würden sie zerdrücken, ohne irgendwelche Probleme, genau wie einen Schokokuss. Wie eine Furie hämmerte sie auf den Schaltern herum, die Tür öffnete sich sogleich. Sie stürzte schreiend hinaus. Fiel in die Arme eines jungen Mannes, der sie festhielt. "Geht's ihnen nicht gut? Sie sehen so blas aus." "Nein, nein... bei mir ist schon alles in Ordnung", keuchte sie. Stützte sich noch einmal kurz bei dem, verwundert dreinschauenden, jungen Mann ab und taumelte zur Wand. Nach
einigen Minuten hatte sie sich wieder gefangen. Ihr Hals schmerzte, sie hatte wohl unbewusst die ganze Zeit über im Fahrstuhl geschrieen, als ob es um ihr Leben gegangen wäre. Ein Blick über die, sich erneut schließenden, Fahrstuhltüren verriet ihr, dass sie sich im dritten Stock befand. Das hätte sie nicht gedacht. So weit hatte sie es noch nie geschafft. Das letzte Mal, war sie gerade bis zum ersten Stock gekommen. Je länger sie sich damit beschäftigte, desto stolzer wurde sie auf sich selber. Seit ihrer Kindheit
litt sie unter Klaustrophobie, und seit acht Monaten war sie bei Dr. Alburg in Behandlung. Auch wenn es ihr eng ansitzendes Kostüm kaum zuließ, kniete sie sich an die Wand gelehnt auf den Boden. Lächelnd schaute sie sich um, irgendwie befreit. Obwohl das eben nur ein winziger Erfolg war und sie die Angst noch lange nicht überwunden hatte. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sie kaum noch unter dieser bestimmten Angst zu leiden hatte. Das wusste sie. Aber es war ein Anfang, der sie glücklich machte
und ihr Hoffnung gab. Trotzdem würde sie die nächsten Tage auf den Komfort des Fahrstuhlfahrens nur zu gern verzichten. Ihre Uhr verriet ihr, dass sie schon ganze zwanzig Minuten zu spät dran war. Langsam richtete sie sich auf, strich ihr Kostüm zurecht, entfernte einige Flusen. Und machte sich auf zu ihm, der schon sehnsüchtig auf sie wartete. " Es gibt wirklich bei all und jedem ein erstes Mal...", flüsterte sie, während sie seine Wohnungstür hinter sich schloss.