Undurchschaubar
Britta Dubber
Es war ein gewöhnlicher Samstagabend, und doch war alles anders.
Die Wohnung war leer. Der Schein des Mondes, der durch die Fensterscheibe drang und auf der kahlen, weißen Wohnzimmerwand haften blieb, verlieh dem Raum etwas Unheimliches.
Nur ihre Schritte auf dem Parkett unterbrachen die Stille, als sie ins Wohnzimmer ging und die Deckenbeleuchtung einschaltete.
Sie erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild, welches sich deutlich in den Scheiben des Panoramafensters abbildete.
Fast hätte sie sich nicht erkannt. Ihre Haut schien durchsichtig. Wie ein Geist, ging es ihr durch den Kopf.
Sie wandte dem Blick vom Fenster ab und sah sich im Zimmer um.
In der Mitte des Zimmers sah sie im Geiste noch deutlich die Ledercouch, welche sie sich nach ihrer ersten Gehaltserhöhung gekauft hatte, zusammen mit dem kleinen Glastisch, auf dem stets Kerzen und ein Aschenbecher gestanden hatten.
An den Wänden hatten Fotos von ihrer Familie gehangen.
Eines hatte ihre gesamte Familie auf einem Ausflug an einem See gezeigt, zwei andere ihre Schwester zusammen mit ihrem Pferd.
Die Nägel, an denen die Bilder befestigt gewesen waren, steckten immer noch in den Wänden.
"Eine Traumwohnung, ich bin so neidisch."
"Wie kannst du dir bloß so eine Wohnung leisten?"
"Ist die Wohnung nicht viel zu groß für dich alleine?"
"Jetzt fehlt dir ja nur noch ein Mann."
Ironie des Schicksals, dachte sie verbittert. Einen Mann hatte sie jetzt, zumindest für kurze Zeit gehabt, doch nun fehlte ihr eine Wohnung. Man kann scheinbar doch nicht alles haben. Zumindest sie nicht. Mittlerweile hatte sie gar nichts. Er hatte ihr alles genommen. Stück für Stück hatte er sie ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und sie hatte es erst bemerkt, als es schon zu spät war.
Sie ging noch einmal durch alle Räume, vergewisserte sich, dass sie auch nichts vergessen hatte. Dann straffte sie die Schultern, schob ihre Handtasche zurecht und verließ die Wohnung. Ihr Zuhause.
Ihr ehemaliges Zuhause. Morgen kam der Nachmieter.
Als sie durch das Treppenhaus ging, fuhr sie mit den Fingern an dem Geländer entlang. Ein allerletztes Mal.
Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten des Hausmeisters, dann trat sie in die kühle Abendluft.
Als sie die Straße zu ihrem Auto überquerte, drehte sie sich noch einmal um. Sie bemerkte, dass sie vergessen hatte das Licht auszuschalten. Eigentlich hatte sie längst den Strom abmelden wollen. Aber eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt auszuziehen. Eigentlich. Ein Wort, das sie nicht mehr hören konnte. Die Lampe hatte sie mit Absicht zurückgelassen.
Sie war von ihm. Ein Geburtstagsgeschenk.
Nicht gerade originell, er hatte sich nie viel Mühe mit so etwas gegeben.
"In einer Beziehung muss man etwas investieren, sonst funktioniert sie nicht."
"Ich investiere doch eine Menge, du weißt meine Investitionen bloß nicht zu schätzen. Nie bist du mit irgendetwas zufrieden."
"Wenn ich wenigstens sehen würde, dass du dir Mühe geben würdest. Aber du überlässt alles mir."
"Das enttäuscht mich jetzt wirklich. Ich reiße mir doch den Arsch auf für uns. Ich investiere soviel in unsere Zukunft!"
"Ja, von meinem Geld!"
"Aber ich mache das doch hauptsächlich für dich. Etwas Dankbarkeit hätte ich schon erwartet. Manchmal verstehe ich dich einfach nicht."
Dito, besser gesagt hat sie ihn nie verstanden. Sie dachte sie tat es, doch jedes Mal, wenn sie glaubte seine Gedanken und Handlungen nachvollziehen zu können, tat oder sagte er irgendetwas, das ihr zeigte, dass es doch nicht so war. Er neigte sehr zu Überraschungen. Es verwirrte sie zunehmend. Vermutlich war es das, was sie an ihm reizvoll gefunden hatte. Seine Undurchschaubarkeit, sein scheinbar unergründliches Wesen.
"Aus mir ist noch nie einer schlau geworden. Jedenfalls sagen das alle, die mich kennen. Meine Eltern meinen, ich sei ein merkwürdiges Kind gewesen."
Vielleicht ist sie nur so lange mit ihm zusammengeblieben um ihn und vor allem ihr selber zu beweisen, dass er doch nicht so undurchschaubar war. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er sich richtig etwas darauf eingebildet hatte. Oder er hatte es als Ausrede benutzt.
Als sie in ihr Auto stieg, schaltete sie das Radio an.
"Am frühen Abend ist ein Mann in seinem Auto von der Landstrasse abgekommen und frontal gegen einen Baum geprallt.. Nach ersten polizeilichen Erkenntnissen waren die Bremsschläuche durchschnitten worden. Wie durch ein Wunder überlebte er nur leicht verletzt."
Wie gesagt, er neigte zu Überraschungen.