Regentropfen
Von Linda Schädler
Regen und Wind hatten sich bereits verzogen. Doch immer hingen noch dichte, grau-schwarze Wolken am Himmel und nahmen der Landschaft sämtliche Farbe.
Sie hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten, musste weg, ihren Sorgen davonlaufen. Sie hatte sich an den Strand zurückgezogen, da sie nicht erwartete, dass bei diesem Wetter dort jemand zu finden wäre und sie brauchte ihre Ruhe. Höchstens ein paar vereinzelte Touristen, die Muscheln suchten, um sie als Souvenir nach Hause zu bringen, befanden sich dort.
Doch sie merkte nun, dass es wohl keine so gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Sie hätte sich einen anderen Ort suchen sollen, an dem sie zur Ruhe kommen konnte. Hier überwältigten sie Erinnerungen. Denn anstatt, dass der Anblick des Meeres sie ihre Probleme vergessen ließ wie früher, peinigte er ihre ohnehin schon verletzte Seele nur noch mehr.
Sie setzte sich in den Sand, so, dass die herankommenden Wellen nur ihre Zehenspitzen sanft berührten. So hatte sie die Kontrolle, jederzeit die Möglichkeit aufzustehen und war so diesem gierigen, alles verschlingendem Giganten von Ozean nicht hilflos ausgeliefert... wie auch ihren Gefühlen. Denn ein unbändiger Sturm tobte in ihrem Innern und stumme Tränen rannen ihre Wangen herunter, gerade so, als ob sich dieser Sturm außen fortsetzen wollte.
Doch SIE wollte das nicht. Sie war stark, nicht wie all diese verwöhnten, verweichlichten Mädchen in ihrer Klasse, die schon zu heulen anfingen, wenn man ihnen einmal die Meinung sagte. Nein, so war sie nicht und so wollte sie auch nie sein! Umso mehr ärgerte sie, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Sie krallte ihre Finger in den feuchten Sand und nahm ein wenig davon in ihre Handfläche. Sie ballte sie zu einer Faust, so stark, dass es schon schmerzte, doch sie ignorierte diese Gefühl - sie war stark
- und drückte den Sandklumpen noch mehr zusammen.
Sie schaute lange Zeit gleichgültig auf die Hand, in der dieses bisschen Sand lag, doch ihre Wut hatte sich noch nicht gelegt und gerade in diesem Moment begann sie heftiger zu lodern, als sie es erwartet hatte. Mit verzerrtem Gesicht holte sie aus und warf den Klumpen so stark sie konnte aufs Wasser hinaus. Doch hielt er nicht zusammen und Unmengen winzig kleiner Sandkügelchen trafen auf der Wasseroberfläche auf, so dass es schien, als es wollte es von neuem anfangen zu regnen. Oder als wollte der Himmel ihr
Schicksal beweinen.
Doch IHRE Tränen waren versiegt, sie hatte schließlich genug geweint. Sie war stark. Ein letzter Windstoß fuhr durch ihre kastanienbraunes Haar und brachte es in Unordnung. Sie achtete nicht darauf. Strikt stand sie auf und trat energisch einen Schritt vorwärts, so dass das Wasser ihre Knöchel umspülte.
Und das Bild ihres Vaters tauchte plötzlich auf; er stand da, so wie sie ihn in Erinnerung hatte, mit diesen dunklen, traurigen Augen...
Sie hob den rechten Fuß und stieß damit so sehr ins Wasser, dass er im schlammigen Grund stecken blieb. Sie wurde noch zorniger, schlug ums sich und als sie sich endlich nach kurzer Zeit befreit hatte, ließ sie sich fallen... sie konnte einfach nicht mehr.
Doch sie konnte in diesem Moment auch einfach nicht mehr klar denken und schrie nur hinaus, den Kopf leicht gehoben, um den Horizont sehen zu können: "Du hast mir so viel genommen!" Doch sie hatte keine Kraft mehr, endgültig und in einem erstickten Schluchzen brachte sie nur noch hervor: "Du hattest kein Recht dazu!"
Und wieder kullerten ihr kleine Tränen aus den Augen, aber ihr war jetzt auch das egal. Sie war stark. Doch eben nicht stark genug. Das Meer, die See, hatte so viel aus ihrem Leben gerissen... ohne irgendein Recht. Doch als sie eine Weile darüber nachdachte, wurde ihr noch eher bewusst, was Verlust bedeutete. Wenn der Verlust eines einzigen Menschen schon solche Gefühle hervorrief, solche unglaubliche Trauer, wie musste es erst sein, wenn man wie die Natur, wie das Meer, so viele seiner Kinder sterben sehen musste...
und die Schuld bei anderen wusste.