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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Atmen

Eine Kurzgeschichte von Graziella Contratto


Meine Katze beobachtete ich meist aus der Ferne: ihre Autonomie, ihre mystische Uneinnehmbarkeit. Sie gab viel weniger, als sie bekam. Ich weiß nicht, wie es um ihr Innenleben stand. Ich weiß nicht, wie es um ihren Geist stand. Sie zeigte schamloses Desinteresse, sprang Gestelle an mit einer astronautischen Gewichtslosigkeit. Sie aß irgendwie würgend-primitiv, verdaute fürstlich.
Als sie klein war, raste sie mit irrwitziger Geschwindigkeit von einem potenziell vibrierenden Objekt zum anderen. Teppichfasern im Ventilatorwind, knisternde Papierfetzen, Tasten, Spulen, Kleider. Sie war schnell. Ich finde jetzt fast keine Vergleiche mehr für diese Geschwindigkeit. Sie schlief wie eine Skulptur, drapierte sich auf fliesartigen Stoffen, ihren Blick mied ich.
Wenn ich nachts nach Hause kam und den Schlüssel auf der Südseite des Hauses unter dem Fenstersims hervorklauben musste, hatte ich ein schlechtes Gewissen.
Sie überholte mich auf dem Rückweg.
Der Tierarzt meinte heute, sie hätte Leukämie und ich musste sie in der Klinik lassen. Wieder zu Hause las ich ein Buch von Peter von Matt über das Luftwesenähnliche der Dichter. Dann rief der Tierarzt an: Das Flohbändchen könne ich noch abholen, bevor sie eingeschläfert würde.
Ich sehe tierische und menschliche Haare, die in meinem Haus herumliegen. Die gräulichen der Katze, die braunen von mir. Im Bad bilden sich am Boden eisblumenartige Rosetten aus Haaren aller Arten. Ich versuche sie aufzuwischen und fühle einen Druck.
Man hat uns in der Schule erklärt, warum die Agatha-Ringe Ringe heißen, weil sie nämlich die abgeschnittenen Brüste der Heiligen darstellen sollen. Und man kann sie essen, auch weil sie geweiht sind. Oder der Pfarrer hält eine Kerze unter das Kinn, um den Blasiussegen zu erteilen, gegen Mandelentzündungen. Oder man legt uns ein Lammfell unter das Leinen, wegen der Nierenentzündung. Und man soll keinen Plastiksack über den Kopf stülpen, nicht über seinen eigenen, noch über einen anderen.
Soll ich nun Kundera glauben, der geschrieben hat, dass die Tiere das Paradies nie verlassen haben? Die Katze ist doch eher ohne Rückbindung. Nicht Paradies, nicht Hölle; keine Dialektik. Dann schützt sie vielleicht der kreatürlich Blick, den wir als Kinder hatten und jetzt nicht mehr? Es hieß immer: Träumst? , recht vorwurfsvoll wurde das gesagt, wenn man den starren Blick hatte. Man sollte auch nicht einschlafen vor dem Fernseher.
Katzenbilder fand ich immer sinnlos. Fotos auch: Weil infrarote Augen, gespreiztes Fell. Wie atmet eine Katze?
Ich möchte das Bändchen holen. Die Tiere sind in Käfigen, das ist normal. Meine Katze ist flach wie ein Teller aus dem Märchen "Das Feuerzeug", wo die Hunde Augen wie Teller haben. Sie schaut mich eigentlich nicht an. Das Bändchen liegt neben dem Gehege. Ohne Bändchen ist es das Wesen. Ein, aus, ein, aus, aus.



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