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Kurzgeschichte

Schiller

© Marc Hecht


Sie hatten aufgesehen, erstaunt, als der Schauspieler Schiller auf sie zugekommen war, an ihren Tisch.
"Gestatten? Schiller. Tja, Goethe wäre mir auch lieber gewesen."
Sie hatten ihn angesehen, verwundert. Stadtrat Friedrichsen hatte gerade ausgeholt, man hatte über Politik gesprochen, und der Stadtrat, graumeliert, geschmeichelt in dieser zusammengewürfelten Gesellschaft, zwischen Schauspielern und Journalisten, hatte gerade ausgeholt. Er hatte sich gerade erboten, ein paar Worte über das "neue System" zu verlieren, sehr gern. Und da könne die langweilige Verwaltung doch endlich mal auch ein wenig glänzen, hatte er erklärt, "zwischen der Kunst und den Medien."
Denn Lori, die zauberhafte Elenore, hatte ihn treuherzig gefragt: "Und was ist denn, um Gottes willen, ein Überhangmandat?" Ein Zuschauer hätte sich nämlich vorgestellt, nach der Vorstellung, bei Lori. Sehr nett wäre der Mann gewesen und er hätte ihr Blumen in die Garderobe gebracht. Und er hätte sich vorgestellt, als Abgeordneter. Doch ein zweiter Mann hätte gesagt: "Aber nur Überhangmandat." Und hätte gelacht. Zuerst hätte sie gedacht, dass es ein Mandat sein könnte, das man sich vielleicht überhängt. Als eine Art Medaille. Für besondere Verdienste. Lori, das zauberhafte Dummchen.
Der Stadtrat hatte genickt - und wollte gerade ausholen. Aber dann trat Schiller an den Tisch, der Schauspieler Schiller.
Es war ein Auftritt wie auf der Bühne. Hundertmal geprobt. Schiller spielte, gleichgültig, was er sonst noch tat. Er spielte, in diesem Fall Begrüßung.
Und der Schauspieler hatte sogleich versichert, dass er glücklich wäre, froh und glücklich, weil es nun wieder einen "richtigen Staat" gäbe - und er hatte zum Stadtrat genickt. Und dass es wieder "richtigen Journalismus und richtige Feuilletons" gäbe. Und er hatte zu den Journalisten genickt.
Schiller hatte sich gesetzt, unaufgefordert, sich vorgebeugt auf dem Tisch - und dann sogleich wieder zurückgelehnt. Glücklich, wie in Abrahams Schoß. Ja, Feuilletons, in denen auch er wieder hoffe, nur als Künstler bewertet zu werden, ganz - und ohne Ideologie. Lange hätte er diese Hoffnung aufgegeben, ja, begraben geradezu... aber schließlich interessiere es ja auch nicht, dass er damals bei Biermann unterschrieben hätte. Kokett sah Schiller auf.
Man hatte genickt, höflich.
Nein, seine Leistung als Schauspieler solle gewürdigt werden, ganz und ausschließlich, erklärte Schiller noch einmal.
Es entsteht ein Schweigen. Schiller hat das Gespräch geradezu gesprengt. Aber er merkt es nicht. Er blickt zu Elenore, zum zauberhaften Dummchen. Nur sie ist offensichtlich der Grund dafür, dass er so an den Tisch geplatzt ist. Und ganz offenbar hält er es hier für sein Revier. Verliebt blickt er sie an.
Lori aber beachtet ihn nicht. Demonstrativ wendet sie sich wieder an den Stadtrat: "Und was ist denn nun ein Überhangmandat?"
"Haha, das stimmt. Überhangmandat. Keine Ahnung." Schiller ist sofort Feuer und Flamme, "wir haben alle viel zu lernen!"
Er wendet sich an seinen Nebenmann: "Oder wissen Sie, was WtB sind?"
Der Nebenmann verneint.
"Waren des täglichen Bedarfs", erklärt Schiller, "da sehn se mal. Hätte eigentlich WdtB heißen müssen. Tut es aber nicht. Macht die Sache noch komplizierter. Tja. Aber was sind denn nun Überhangmandate?"
Alle Augen gehen zu Stadtrat Friedrichsen - und der nimmt noch einmal Schwung, klärt die Sache auf und schließt endlich elegant: "Wer immer also aus der Heimat gewählt wird, kommt auch ins Parlament. Notfalls vergrößern wir es lieber, als es durch arithmetische Notwendigkeiten einengen zu lassen."
Lori nickt nachdenklich. "Ja, das ist gut."
Auch Schiller nickt: "Ein Prosit auf die Heimat."
Lori erklärt: "Ich werde beim nächsten Mal jedenfalls überhaupt nicht wählen; ich will doch mal wissen, ob dann wirklich keiner an der Türe klingelt, um mich zu zwingen."
"So was macht ihr doch nicht, oder?" Schiller blickt fragend zu seinem Nebenmann. Sein Nebenmann ist Österreicher. Der Nebenmann hatte die ganze Zeit geschwiegen. "Nein", schüttelt er jetzt den Kopf, "so was machen die Piefkes nicht."
"Piefkes, hihi. Sagt man so?" Lori amüsiert sich sehr über den Ausdruck.
"Bei uns in Österreich sagt man das so. Die Piefkes - das sind die Deutschen."
"Ach so? Dann bin ich auch ein Piefke?"
"In gewisser Weise - schon."
"Tatsächlich? Hast du gehört, Hansi, ich bin ein Piefke. Willst du deinem kleinen Piefke nicht noch ein Glas Sekt bestellen?"
Und Schiller beeilt sich der Bestellung nachzukommen.



Eingereicht am 10. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.

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