Der Tod, der Selbstmord und das Leben danach
© W. Brenner
Jeder Tag hat seinen eigenen Geruch. Dieser riecht nach Weizenfeldern, in denen der Wind Wellen aus reifem Korn vor sich her treibt und den Feldblumen, die an den Wegrändern gedeihen. Es riecht nach Trockenheit und dem Staub, den unsere Schritte aufwirbeln, nach der Sommerhitze, die prickelnd auf meinem Gesicht liegt.
Insekten summen durch die Luft, seit langer Zeit höre ich wieder das Zirpen von Grillen. Es ist ein Tag ohne Ende, so wie der blaue Himmel über uns. Ich kann den alten Tennisball mit aller Kraft werfen, es gibt keine Grenzen, nichts das uns hält. Wir strecken unsere Körper, baden in der warmen Sommerluft, atmen ein wenig tiefer als sonst. Selbst der Hund wirkt verspielter, hört nicht auf zu laufen, obwohl es so heiß ist.
Es sind wunderschöne Stunden, weil ich sie mit dir verbringen darf. Kein Tag zum Nachdenken. Ein Tag zum Erinnern.
Alles was man dafür tun muss, ist morgens die Augen zu öffnen, denke ich heimlich, während du mit dem Hund tollst.
Ich fühle die kleinen, weißen Tabletten in meiner Hand, spiele mit ihnen, lasse sie durch meine Finger wandern, während ich dich ansehe. Ich bin glücklich, denn ich weiß, es wird keinen Regen geben, an diesem Tag, der strahlender nicht sein könnte. Wir werden uns lieben nach diesem Ausflug, auf schwarzem Satin, der deine weiße Haut für immer einprägt, in meine Erinnerung. Es bleibt noch Zeit, bis der erste Tropfen vom Himmel fällt.
Das Mobiltelefon läutet. Ich vermute es irgendwo im Bett, schiebe die Fotos zur Seite, den halbvollen Teller von Mittag, meine alte Wäsche. Ich folge der schwachen Klingelspur, wühle im Bettzeug und fördere am Ende doch noch mein Telefon zu Tage, neben der Fernsehfernbedienung, einem leeren Glas und zerfledderten Comics.
Es ist eine Frau, wenn auch nicht meine. Das enttäuscht, selbst jetzt noch.
Die Dame ruft aus dem Pflegeheim an, in das mein Großvater vor Jahren schweren Herzens gezogen ist.
Sachlich wird mir erklärt, dass der zunehmende körperliche und geistige Verfall eine Verlegung in die Bettenstation unbedingt erforderlich macht. Die Schwester möchte den Beschluss mit einer Reihe von Fakten untermauern, zählt mit trockener Stimme einen Vorfall um den anderen auf, der meinen Großvater auf das tiefste beschämt hätte, könnte er sich noch daran erinnern. Aber auch das klappt nicht mehr. Ich will das nicht hören, dazu respektiere ich ihn zu sehr, so willige ich rasch ein. Ich habe fünf Tage Zeit,
das Zimmer zu räumen. Bereits jetzt gehört es ihm nicht mehr. Es gibt einfach zu viele alte Menschen, die sehnlichst darauf warten ein kleines, tristes Zimmer mit den paar Habseligkeiten eines verbrauchten Lebens zu füllen. Also werde ich kommen, noch heute. Das verbessert meine Situation zwar nicht, aber verändert sie zumindest.
Die Direktorin persönlich begleitet mich zu dem Zimmer. Sie hätte sowieso denselben Weg, meint sie. Vielleicht zehn, fünfzehn Jahre trennen sie noch von den Bewohnern und offensichtlich gedenkt sie diesen Vorsprung zu halten, mit dunkelrot gefärbten, toupiertem Haar und teurer Schminke. Sie trägt einen Damenanzug im Nadelstreif und ein kleines, goldenes Kettchen über der schwarzen Seidenbluse. Ihre hohen Absätze lassen markante Schritte in den langen, stillen Gängen widerhallen. Respektvoll weichen die Alten
zurück, wo immer sie vorüber zieht. Ich kann die neugierigen Blicke sehen, höre, wie leise Zimmertüren sich öffnen und faltige Gesichter verstohlen aus dem Halbdunkel schielen. Wann immer diese Schritte hörbar werden passiert etwas. Jemand kommt in die Gemeinde, oder jemand verlässt sie. Ansonsten lebt die Heimleitung in einer anderen Welt, hat mir mein Opa erzählt, dort, wo der Boden mit Teppichen ausgelegt ist und Grünpflanzen die hellen Räume zieren. Die Welt drei Stockwerke unter mir, wo sogar Bilder an
den weißen Wänden hängen.