Am Abgrund
© Thor Augustson
Eisig weht der Nordost über den Wannsee. Es ist Anfang November, Gelbe, braune und rote Blätter wirbeln durch die Luft. Am Ufer tanzen Weiden wie trunkene Derwische. Geschwätzig wispern die vertrockneten Binsen am Ufer.
Im letzten Bootshaus, kurz vor Heckeshorn, heult und pfeift der Wind in den Wanten der Segelboote. Mit Leinen an die verwitterten Dalben gefesselt, vollführen die Boote ausgelassene Bocksprünge.
Graue Wolken hetzen über den Himmel. Tritt einmal die Sonne hervor, taucht sie alles in seidiges Licht. Ihre Strahlenfinger liebkosen, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr, das Moos, in dem Geschmeide aus Spinnweben glitzern. Rasche Wechsel von Licht und Schatten. Auf dem Weg spielt der Wind mit dem welken Laub Ringelreihen. Es ist später Vormittag.
Ich habe die Ruhe und Einsamkeit gefunden, die ich gesucht habe. In stummer Zwiesprache mit der Natur, werde ich ruhig und friedlich. Auch die frische Seeluft und der erdig-herbe Geruch tragen dazu bei; ich möchte die Jahreszeit nicht missen, in der andere Menschen das Land fluchtartig verlassen.
Vor einer Stunde ist mir eine alte Dame mit einem Cockerspaniel begegnet. Ihre Augen tränten und ihr Gesicht war blau und rot gefroren. Sie schien es eilig zu haben, ins Warme zu kommen. Im Vorüber gehen streifte mich ihr prüfender Blick.
Ich fröstele, bin für dieses Wetter zu dünn angezogen. Der Wind bläst mir durch die Rippen, aber es ist zu schön zum umkehren. Lieber friere ich. An den Rückweg will ich nicht denken. Am Großen Tiefehorn stelle ich mich in den Windschatten der Rettungsstation und genieße den Blick über den aufgewühlten See.
Irgendwann habe ich das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Ich drehe mich um … und bin nicht mehr allein. Eine junge Frau kommt den schmalen Pfad vom Uferweg zum Wasser herunter und bleibt neben mir stehen. Auf mein Kopfnicken reagiert sie mit einem geflüsterten "Hallo."
Da ich sie unmöglich länger anstarren kann, wende ich mich ab und schaue auf das Wasser.
Es vergehen quälend lange Minuten in Schweigen. Ich fühle mich ein bisschen unbehaglich und in meinen einsamen Betrachtungen gestört und werde unruhig. Schuld daran ist die Anwesenheit dieser Frau.
Fast zwanghaft wende ich mich ihr wieder zu und betrachte sie heimlich von der Seite. Der Horizont und das jenseitige Ufer scheinen sie vollkommen gefangen zu nehmen. Sie ist schön, sehr schön, Sinn betörend. Rotes, schulterlanges Haar weht ungebändigt im Wind, und ihre grünen Augen erinnern mich an die Farbe ufernaher Gewässer der Karibik. Ihr Parfüm ist berauschend. Ihr kurzer Popelinemantel bedeckt kaum ihre Knie und umhüllt eine frauliche Figur. Ihre Sinnlichkeit nimmt mir den Atem. Sie ist mit den Händen
greifbar.
Ich begreife, dass meine Unruhe nichts anderes als aufkeimende Begierde ist. Das erschreckt mich flüchtig, aber ich kann das Gefühl nicht unterdrücken. Es ist einfach da.
Jetzt dreht sie sich zu mir um und lächelt offen. Ich senke den Blick und hoffe, dass sie nicht Gedanken lesen kann, gleichzeitig werde ich rot.
Trotzdem ist es dumm, an so einsamer Stelle, so nahe beieinander, kein Wort zu wechseln. Sie scheint nicht vorzuhaben, weiter zu gehen. Ich muss etwas sagen, irgendwas. Das kann doch so schwer nicht sein.
"Es ist schön hier."
"Ja", haucht sie kaum hörbar.
Ihre Augen schimmern nun wie feuchte Smaragde, und die Glut darin macht mich verlegen. Ist das Lüsternheit? Sehe ich, was ich gern sehen möchte? Dieses vieldeutige Funkeln ist anziehend und furcht erregend zugleich. Es schüchtert mich ein.
"Nur zu kalt, … der Wind."
Wieder hat sie die Worte nur gehaucht. Ihre Stimme erregt mich, sie hat etwas Lockendes.
"Ja, das ist richtig", sage ich.
Ja, das ist richtig, ja das ist richtig …, bin ich blöd, was rede ich da …? Ich höre mir wie einem Fremden zu und schlage mir im Gedanken an die Stirn, Trottel! Das ist doch ganz eindeutig eine …
Hilflos sage ich: "Lange können sie nicht bleiben, in ihrem dünnen Mantel."
" Sie schaut belustigt an mir herunter. "Wie bitte …?"
"Ich weiß, ich bin kaum besser dran", sage ich verlegen
Sie nickt, immer noch amüsiert. Ein Windstoß bläht ihren Mantel. Glatte, lange Beine kommen zum Vorschein. Sie trägt einen kurzen Rock und keine Strümpfe, … bei diesem Wetter. Ein Schauer rieselt über meinen Rücken.
Ihre Ausstattung ist die einer Prostituierten, da bin ich sicher.
"Du bist auch … allein?"
Ich versuche nicht, den Sinn der gestellten Frage zu erfassen. Das plötzliche Du und ihre volle, leicht zitternde Stimme drücken mir die Kehle zu. Meine gespielte Besorgnis, eben noch, ist fort, wie weggeblasen. Ich verwandle mich in einen Tiger und wetze die Krallen. Ich antworte ihr nicht und nicke nur zustimmend. Für Hehres ist in diesem Augenblick kein Platz mehr in meinem Gehirn; es ist kein menschliches Gehirn mehr, sondern das eines Raubtieres.
"Komm …!" befiehlt sie.
Am liebsten werde ich Männchen machen. Sie hakt sich bei mir ein und zieht mich in Richtung Wald. Ich stolpere hinter ihr her. Meine Nasenflügel beben …, was geschieht hier? Noch einmal siegt die Zivilisation, ein schwacher, gestammelter Versuch.
"Aber ich …, ich kann doch nicht einfach …, ich wollte doch nur ..."
"Ich weiß …, es geht mir genauso, Lieber."
"Oh, mein Gott …"
Sie hat mein Stoßgebet gehört.
"Denke nichts, frag' nichts, … bereuen kannst du später, komm!"
Da ist eine Mulde, gepolstert mit Moos. Junge Kiefern bilden einen Sichtschutz Hier ist es fast windstill und überhaupt nicht kalt. Sie sinkt auf den Boden und zieht mich zu sich herunter. Wo ist ihr Mantel? Ihr Rock ist hoch gerutscht, unanständig hoch. Ein Höschen hat sie nicht an. Ich sehe ihre flammende Scham, sie ist eine echte Rothaarige.
Ich lass mich fallen und versinke. Ich rase. Ich zerfleische. Ich töte. Der Tiger, das wilde Tier in mir, tötet und erstickt fast am Blut. Das bin nicht ich, ich könnte mich doch beherrschen, aber … könnte ich das wirklich? Höre ich mich schreien? Bin das ich? Sie ist mir jetzt egal. Wie erbärmlich das ist … und wie herrlich, aber es schmerzt auch. Schmerz und Lust …, was überwiegt? Ich weiß es nicht. Ich würge sie, denn nur ihr Tod kann mir Erfüllung bringen und mich befreien.
"Martin …, Liebling …, wach auf …. um Himmels willen, du bringst mich ja um, … was ist nur los mit dir?"
"Elvira …?"
Elvira ist meine Frau. Ich lass ab von ihr, bin schweißgebadet, tauche auf aus der Tiefe eines Alptraumes, eines Alptraumes …? Meine Frau beruhigt sich, drängt sich mitfühlend an mich, streichelt mein Gesicht, aber sie atmet noch schwer, wegen meiner Attacke. Sie liebt mich und will mir helfen, aber ich habe in einen tiefen Brunnen gesehen … und an seinem Grund mein hassverzerrtes Spiegelbild. Es wird mir von nun an erhalten bleiben. Aber ich werde niemals darüber reden können. Wer will schon wissen, dass Erziehung,
Zivilisation und Kultur Zügel sind, die man in einem Augenblick abstreifen kann …?
Eingereicht am 21. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.