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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das Maß der Gesellschaft

© Manuel Sebastian Dold


Als Bernd wie jeden Freitag bereits gegen Mittag nach Hause kam, da seine Praxis, ähnlich vielerorts doch nicht an jedem, vor dem Wochenende früher schloss, traf er zu seiner großen Überraschung Beate im Flur an. Leise näherte er sich ihrer ihm abgewandten Gestalt, noch bevor sie gegrüßt hatte, und strich ihr mit seinen Fingern zärtlich über Hals und Schultern. "Weißt du, ich hab' gerade weder Zeit noch Lust. Mach's ganz schnell, ja?" flüsterte sie, nachdem sie ihren Hintern für einen Moment an seinem gespannten Schritt gerieben hatte. Damit entfernte sie sich aus seinem Griff und lehnte sich mit beiden Händen gegen die Flurwand.
Nach anfänglichem Zögern schob er ihr Hose und Slip so weit herunter, dass ihr Unterleib frei lag. Dann drang er in sie ein, zögerte aber gleich aufs Neue. "Was ist, macht dich das etwa nicht an?" kommentierte sie seine Reaktion, ihr Gesicht, auf dem erster Schweiß zu glänzen begann, gegen die Wand gedrückt. Er setzte mit mehreren heftigen Beckenstößen nach, um tiefer zu dringen. Anschließend beschleunigte er seine Stöße eine Zeit lang, bis er kurz davor stand, seinen Samen zu verspritzen. Im diesem Moment setzte er erneut ab und verharrte. "Komm endlich", keuchte Beate und drückte ihm ihr Gesäß entgegen, dass sein Glied sich wieder verhärtete und weit über die Innenwand ihres Bauches strich. Für ihn vollkommen unerwartet ereignete sich die Ejakulation. Beate spürte es und entzog sich eilig seinem Körper. Unbeachtet ließ sie das restliche Sperma auf den Boden tropfen. "Verdammt, eigentlich müsste ich jetzt noch einmal duschen, aber dafür habe ich nicht mehr genug Zeit." Mit einem schnellen Handgriff zog sie ihre Hosen zurück nach oben und verließ überhastet die Wohnung.
Da Beate offensichtlich einmal wieder die Spätschicht bei ihrer Arbeit im Krankenhaus bekommen hatte, begab sich Bernd abens in sein Stammlokal. Dort traf er auch gleich Emil Bartuschek und Friedrich Waimer, beide ihres Zeichens Steuerberater unterschiedlicher Betriebe und alle drei Bekannte von früheren Abenden. Schneller als erwartet kam ihr Gespräch auf das Thema Sex und da dies sonst nicht unbedingt üblich war, gab es wohl keinen unter ihnen, der dabei nicht etwas an einen dieser sexualpsychologischen Artikel denken musste. "Ich weiß nicht, was du dir darüber so viele Gedanken machst", bemerkte Emil nachdenklich und ließ derweil sein Halbes stehen. "Es ist doch schön, wenn Beate dich so sehr liebt, dass sie derart gewissenhaft ihren ehelichen Verpflichtungen nachkommt." "Die perfekte Frau", grinste Waimer. Emil warf ihm einen, wenn auch nicht ganz ernst gemeinten, tadelnden Blick zu: "War ja klar, dass du das sagen würdest." Unberührt zuckte Waimer mit den Schultern: "Nicht dass ich es von ihr verlangen würde, aber meine Ute würde nie auf so was kommen. Die lässt sich eher behandeln wie eine Prinzessin." "Mach dir deshalb jedenfalls keine weiteren Sorgen, Bernd", wandte Bartuschek schnell ein. "Das ist doch ganz natürlich. Du hast dich sicher auch schon mal, als dir gerade nicht so danach war, dazu gezwungen. Ich meine, es stimmt schon, dass es bei einem Mann ein bisschen was anderes ist..." "Und dass ist eben der Punkt", mischte sich erneut Waimer ein. "Kann sich ein Mann so sehr zum Sex zwingen, wie eine Frau, oder andersherum, kann eine Frau so frei über ihr Geschlechtsleben verfügen, wie ein Mann?" "Die Antwort auf diese Frage wird wohl nur eine Frau wissen können." Da ihm das Thema langsam selbst unangenehm wurde, nahm Friedrich an, dass es Bernd nicht anders erginge und rief die Bedienung an ihren Tisch, um nachzubestellen.
Am Sonntag kam das befreundete Ehepaar Tivers zu besuch. Beate hatte sie vor Jahren auf einer Busreise kennengelernt, als sie selbst noch ungebunden war.
Und obwohl Bernd es gar nicht so weit kommen lassen wollte, wandte sich das Gespräch, kaum dass Beate den Raum verlassen hatte, seinen Sorgen mit ihrem gemeinsamen Liebesleben zu, selbstverständlich durch Umwege über einige andere Themen. Jasmien Tivers zuckte abwertend mit den Schultern: "Also wenn ich einmal ganz ehrlich bin, so muss ich sagen, ist dass doch vollkommen normal. Gerade für eine Ehe. Sicher, ein bisschen komisch find ich es schon. Ich hätte ihm zumindest was vorgespielt, aber letztendlich ist es doch beneidenswert, wenn man so ehrlich mit diesen Dingen umgehen kann." Lachend schüttelte sie ihren Kopf. "Herr je, das Gespräch über dieses Thema ist vollkommen ausgeufert." "Nein, red ruhig weiter", warf ihr Gatte Daniel ein. "Dass interessiert mich wirklich." Zum Glück wandte sich die Unterhaltung auf diese Weise anderen Bereichen zu, wie der gesellschaftlichen Stellung der Sexualität in modernen aufgeklärten Zeiten, als Beate in den Raum zurückkehrte.
Gleich die ersten beiden Kunden des Montagmorgen, die Bernd im Eheberatungsinstitut zu betreuen hatte, waren einer dieser Fälle von deutlichen kulturellen Unterschieden, wie er sie nur allzu häufig sah, jedoch auch nicht häufiger als ganz andere Fälle. So erzählt er den beiden, um ihnen ihr Problem zu veranschaulichen, seine eigenen Sorgen als Beispiel des unterschiedlichen Verständnisses von Selbstverständlichkeiten. So war schließlich wieder er der Mittelpunkt der Diskussion. Herr Dietrichsen warf ihm einen vertraulichen Blick zu, wie er ihn sonst wohl öfter mit Freunden austauschte: "Also ich hätte diese Nutte so was von verrotten lassen." Seine Frau schien sich nicht direkt betroffen zu fühlen, war aber dennoch davon überzeugt, dem Mann auf der anderen Seite des Tisches helfen zu können: "Dass liegt alles an dem nach wie vor ungebrochen herrschendem Patriarchat, dass die Frauen zu solchen Handlungen treibt. Ein unbewusster Zwang, da sich die Frauen noch immer unterlegen fühlen und folglich immer dienstbar sein wollen." "Nun denn, ich fürchte, ich muss schon zum nächsten Kunden." Bernd zog die Schultern hoch, dass seine Nackenmuskeln knackten. "Tut mir leid, dass ich Sie mit meinem privaten Kram belästigt habe. Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, dass Ihnen diese Stunde nicht voll berechnet wird." Er geleitete das Ehepaar zur Tür und verabschiedete sich von ihnen. Am Abend fuhr er nach Hause und nahm Beate vor dem Essen noch einmal richtig durch. Dieses Mal gefiel es ihr wieder.

Eingereicht am 04. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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