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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Anna und Lasse

© Hilde G.


Lasse war Musiker mit Leib und Seele. Zweimal die Woche probte er mit seiner Band "The Machines" in einem Partykeller, den tagsüber niemand benutzte.
An den Wochenenden traten "The Machines" oft auf. Lasse war begeistert. Nie hätte er gedacht, dass er mit seinen geringen Gitarrenkünsten jemals in einer Band spielen würde. Zu ihren Auftritten kamen am Anfang nur enge Freunde, vielleicht einige Familienmitglieder. Jetzt kamen bis zu hundert Leute zu ihren Auftritten. Manchmal jubelten ihnen auch hübsche Mädels, mit gestreiften Oberteilen, Seitenscheitel und Nietengürtel zu.
Lasse suchte sich dann immer eine von ihnen aus und sang nur für dieses Mädchen die romantischen Songs, sah sie dabei die ganze Zeit an. Die Mädchen waren begeistert von Lasses Gesangskünsten und wenn er Glück hatte, konnte er eine von ihnen abschleppen. Er legte es darauf an und die Mädels ebenfalls.
Eines Abends passierte jedoch etwas Unvorhergesehenes. Lasse und seine Band spielten in einer kleinen Kneipe in der die Leute dicht gedrängt standen und sich zum Takt der Musik bewegten.
Lasse war ein wenig enttäuscht, weil ihm an diesem Abend kein Mädchen gefiel.
Aus diesem Grunde hatte er die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf sich, seine Stimme und seine Gitarre. Als er nach einem Song die Augen wieder öffnete, blickte er direkt in das Gesicht eines Mädchens, das ihn fasziniert anstarrte. Als Lasse ihren Blick erwiderte wurde das Mädchen rot und schaute weg. Sie entsprach ganz und gar nicht seinem Beuteschema. Ihre Haare waren verwuschelt und strohblond, nicht glatt und seitengescheitelt und sie trug nicht mal einen gestreiften Pullover. Trotz allem fühlte Lasse sich von ihr angezogen. Er wollte sie unbedingt näher kennen lernen, aber aus unerklärlichen Gründen nicht mit ihr in die Kiste. Als die Band ihr kleines Konzert beendet hatte trank sie für gewöhnlich noch ein bis zwei Bier, bevor sie sich auf den Nachhauseweg machten. Genauso machten sie es auch an diesem Abend. Die Band setze sich an den Tresen und bestellte sich ihr Bier. Sofort wurden sie von einigen Mädels belagert. Lasse versuchte alle so gut es ging abzuwimmeln. Er hielt Ausschau nach dem Mädel, das ihm so gut gefallen hatte. Schließlich sah er sie in einer Ecke stehen. Sie hielt ein Glas mit einer undefinierbaren Flüssigkeit in der Hand und blickte zu ihm rüber. Lasse meldete sich bei seinen Bandkollegen und den Mädels ab und ging zu ihr rüber. Sie ging erschrocken einige Schritte zurück als sie ihn kommen sah. "Hallo.", sagte er, als er vor ihr stand. Das Mädchen sagte nichts und wich seinem Blick aus. "Hat dir unser Konzert gefallen?" Sie nickte zaghaft. "Das freut mich. Was trinkst du denn da?" "Cola.", hauchte sie und wurde erneut rot. Langsam wusste Lasse nicht mehr, was er sagen sollte. Mit schüchternen Menschen kannte er sich nicht gut aus.
"Bist du öfter hier?", fragte er nach einer Weile. Sie nickte wieder. Vielleicht nervte er sie auch. Vielleicht wäre es das Beste, wenn er sich einfach verabschieden würde. Doch Lasse blieb vor ihr stehen. Er hatte Angst, dass er sie nie wieder sehen würde wenn er jetzt ging. "Bist du allein hier?", wollte er als nächstes wissen. Diesmal schüttelte sie den Kopf und zeigte auf eine vollbusige stark geschminkte weibliche Person, die sich gerade an seinen Bandkollegen Tobi ranmachte. "Das ist meine Cousine Melissa." "Aha." Diesmal war er derjenige der nickte. Wenn das so weiterging würde es sicher noch ein viel versprechender Abend werden.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte er sie schließlich. "Anna und du?" "Ich bin Lasse." Er streckte ihr seine Hand hin. Sie nahm sie zögernd. Ihre Hand fühlte sich klein und zerbrechlich in seiner an. "Und was hast du heute Abend noch vor?" "Ich werde wohl irgendwann nach Hause gehen, mich in mein Bett legen und schlafen.", erklärte sie. Ihm fiel auf, dass sie eine sehr schöne klare Stimme hatte. Sicher konnte sie gut singen und sie hatte Augen in einem außergewöhnlichen blau, in das er immer wieder versank. Leider senkte sie sofort den Blick, wenn er sie zu lang anschaute.
"Was hast du denn noch vor?", fragte sie. "Nichts." Sie schwiegen eine Weile.
Normalerweise war Lasse ein Typ, der viel redete, doch an diesem Abend war er verlegen und suchte nach den richtigen Worten. Er wollte Anna nicht verschrecken.
"Wie hat dir unser Auftritt gefallen?" "Ach ihr wart toll!" Lasse lächelte Anna an.
"Danke." Wieder war da dieses Schweigen und Lasse sah aus den Augenwinkeln, dass seine Bandkollegen sich langsam zum Gehen bereit machten. Jeder von ihnen hatte ein Mädel im Arm. "Lasse komm wir gehen.", rief ihm Tobi zu. Lasse war hin und her gerissen. Er wollte lieber noch ein wenig bei Anna bleiben, doch wenn er jetzt nicht mit der Band nach Hause fuhr würde er sich ein Taxi nehmen oder laufen müssen und darauf hatte er keine Lust. "Du ich muss gehen.", sagte er an Anna gewandt. "Schade.", sagte diese. "Vielleicht kannst du mir deine Nummer aufschreiben." Sie nickte und Lasse kramte den Edding aus seiner Hosentasche, den er immer, für den Fall, dass jemand mal ein Autogramm von ihm haben wollte, dabei hatte. Anna nahm den Edding und schrieb ihre Nummer in groß und deutlich auf seinen Arm. Dabei berührte sie ihn auch einige Male und Lasse bekam Gänsehaut.
Er gab Anna zum Abschied die Hand. "Ich ruf dich an." "Ja, bis dann.", sagte sie.
Lasse rannte nach draußen. Zum Glück hatte die Band auf ihn gewartet. "Wo haste denn dein Mädel gelassen?", wollten sie wissen als er bei ihnen ankam. "Die wollte nicht mit." "Na wenigstens haste ihre Nummer.", sagte Tobi, zeigte auf seinen Arm und grinste.
Am nächsten Tag hätte Lasse am liebsten gleich zum Hörer gegriffen und Anna angerufen, doch er hatte Angst, dass sie ihn dann zu aufdringlich finden würde. Er nahm sich vor, sie erst am Nachmittag anzurufen und versuchte sich die Zeit bis dahin damit zu vertreiben seine kleine Wohnung ein wenig aufzuräumen. Er verlor aber schon nach kurzer Zeit die Lust und so beschloss er lieber ein wenig den Fernseher anzuschalten. Leider lief nichts wirklich fesselndes, als nahm er das Buch, das er zurzeit las, zur Hand. Nach einer halben Stunde gab er auf, nahm den Zettel, auf den er noch am Abend zuvor sorgfältig ihre Nummer geschrieben hatte und rief sie an.
"Hallo?" Er erkannte eindeutig ihre Stimme und er wurde ganz zittrig vor Aufregung.
"Hallo ich bins Lasse. Ich wollte fragen wie es dir geht."
"Oh danke, sehr gut. Und dir?"
"Mir auch. Hast du vielleicht Lust dich heute mit mir zu treffen?"
Sie war sofort bereit dafür.
Lasse hatte das Bedürfnis noch einmal zu duschen und sich umzuziehen. Er wollte Anna gefallen.
Viel zu früh erschien er am Treffpunkt und kam sich albern vor, doch schon wenig später traf auch Anna ein. "Hey du bist ja schon da." Sie sah noch besser aus als er sie in Erinnerung hatte. Ihre Augen leuchteten noch stärker und sie schien sogar versucht haben ihre widerspenstigen Haare ein wenig zu ordnen.
"Schön dich zu sehen.", sagte er. Eine Weile standen sie einfach nur da und sahen sich an. Diesmal wich Anna seinem Blick nicht aus. Am liebsten hätte er sie geküsst, aber er fand, dass es dazu noch zu früh war. Er kannte sie ja noch gar nicht richtig. Dass er sonst sogar mit Mädels schlief, die er erst seit wenigen Stunden kannte ließ er völlig außer Acht.
"Und was wollen wir jetzt machen?" Lasse zuckte mit den Schultern.
Die beiden beschlossen einfach, ein wenig durch die Gegend zu wandern und sich zu unterhalten.
Lasse erfuhr, dass Anna zwei ältere Brüder hat und das sie in ihrer Familie, obwohl sie schon 19 Jahre alt ist, noch immer als das Nesthäkchen gilt, außerdem erzählte sie ihm von ihrer Schullaufbahn, dass sie gerade dabei war ihr Abi zu machen und danach Germanistik studieren will.
Lasse hingegen erzählte ihr von seinen nichtvorhandenen Geschwistern, seinem schlechten Abitur und seinem gescheiterten Studium.
Trotz allem schien Anna ihn immer mehr zu mögen, sogar richtig begeistert von ihm zu sein. Nach einem ungefähr zweistündigen Spaziergang brachte Lasse Anna nach Hause. Vor der Haustür blieben sie stehen. "Es war mir eine Ehre, diese zwei Stunden mit ihnen verbringen zu dürfen.", sagte Lasse und reichte ihr seine Hand. Anna lächelte ihn an. "Ganz meinerseits." Sie nahm seine Hand und machte keine Anstalten sie so schnell wieder loszulassen. "Wann sehen wir und das nächste Mal?", wollte Lasse wissen. "So bald wie möglich.", antwortete Anna, ließ endlich seine Hand los und verschwand im Haus.
Lasse wurde langsam klar, dass er sich tatsächlich in Anna verliebt hatte. Er war sein ganzes Leben noch nie richtig verliebt gewesen. Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn. Er wusste nicht, wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte und war froh, dass er an diesem Abend Bandprobe hatte. Er brauchte dringend ein wenig Ablenkung.
Leider lenkten die Bandproben ihn nicht ab. Ganz im Gegenteil. Ständig hatte er das Bild von Anna vor Augen, konnte nicht aufhören an sie zu denken und auch sein Gitarrenspiel ließ zu wünschen übrig. "Was ist denn heute mit dir los?"
"Ich habe heute einfach einen schlechten Tag."
"Ja sicher, wir glauben eher, dass du verknallt bist. Ist es das Mädel von gestern."
Lasse nickte und seine Bandkollegen nickten mitfühlend. "Es ist schon schlimm, wenn man frisch verliebt ist. Geh lieber nach Hause und ruh dich ein wenig aus, wir kommen heute auch ohne dich klar."
Lasse nahm ihr Angebot dankend an. Doch auch in seiner Wohnung konnte er nicht aufhören an Anna zu denken. Am liebsten hätte er Anna angerufen, sie gefragt, ob sie noch mal Zeit für ihn hat, doch er wusste, dass das albern war. Er würde den Tag auch ohne sie rumkriegen.
Abends ging er in seine Stammkneipe und schüttete ein Bier nach dem anderen in sich rein.
Nach dem fünften Bier erblickte er ein hübsches Mädchen, das nur darauf zu warten schien, dass jemand sie ansprach. Lasse sehnte sich so nach Zärtlichkeit, dass er zu dem Mädchen ging und sie fragte, ob sie mit ihm schlafe wolle. Das Mädchen willigte ein und so lag Lasse wenig später mit ihr im Bett. Sie hieß Susanne, hatte einen knackigen Hintern, große Brüste und mochte wilden Sex. Lasse hatte Spaß mit ihr und wurde endlich von Anna abgelenkt. Bis das Telefon klingelte. "Ich bins Anna, ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen." Lasse war perplex. "Woher hast du meine Nummer?" "Ich habe im Telefonbuch nachgeschaut. Was machst du gerade?" Er dachte an Susanne, die im Schlafzimmer auf ihn wartete. "Ich hab an dich gedacht." "Das ist schön." Lasse hörte, dass sie sich tatsächlich darüber freute. "Hast du morgen Zeit für mich?" "Ich denke schon." "Gut, du könntest mich um 14 Uhr von der Schule abholen." "Okay ich werde da sein. Schlaf gut und bis dann." Schnell legte er auf, ging wieder in sein Schlafzimmer und war heilfroh, dass Susanne eingeschlafen war.
Noch viel froher war er allerdings, als er am nächsten Morgen aufwachte und statt Susanne nur ein Zettel mit einer Telefonnummer neben ihm lag.
Lasse nahm den Zettel und warf ihn in den Müll. Dann ging er unter die Dusche und freute sich, dass er Anna bald sehen würde.

Eingereicht am 22. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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