Nach zwei Jahren
© Yves Rechsteiner
Als das Wasser kochte, nahm er den Topf vom Herd und goss den gläsernen Krug, in dem bereits Teebeutel und Zucker waren, damit bis oben hin voll. Er betrachtete aufmerksam und gleichzeitig gedankenverloren, wie sich die roten Zungen des Tees langsam in das Wasser hineinfraßen. Er nahm den Krug und stellte ihn auf den Küchentisch, an den er sich dann setzte und dort im Sitzen eine Zigarette rauchte. Die Rauchschwaden wanderten langsam in den Block aus Sonnenlicht, der durch das Fenster in die Küche fiel, und wurden
dort zu Materie, zu einer Wand aus marmorisierter Luft.
Nach einer Weile goss er Tee in zwei Tassen und rief: "Der Tee ist fertig." Dann kam sie in den Raum und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Sie sprachen nicht, und beide rauchten still Zigaretten. Der Tee war süß. Zu süß für sie, eigentlich mochte sie das nicht, aber sie wollte nichts sagen, denn es war alles schon genug schlimm.
Zwei Jahre lang hatte er mit ihr dort in der kleinen Zweizimmerwohnung gelebt, und jetzt ist alles vorbei, jetzt würde er gleich die letzte Tasse Tee am Küchentisch trinken, seine Zigarette ausdrücken und gehen, für immer, ohne jemals wieder zurückzukehren. Er drückte die Zigarette aus und lauschte dem Knirschen. Das war sie, dachte er, die letzte Zigarette. Der Gedanke schmerzte ihn so sehr, dass er sich gleich wieder eine neue anzünden musste und fest daran ziehen, damit dieses flaue Gefühl im Magen und dieses
Stechen im Herzen aufhörte. Es half nicht wirklich, aber es ging etwas besser. Am liebsten hätte er jetzt ein Glas Wein, oder noch besser eine ganze Flasche, denn die würde ihm noch mehr helfen.
Auch sie fühlte sich schlecht, und sie wusste, dass es in wenigen Minuten noch viel schlimmer sein würde, denn dann würde er aufstehen und seine Koffer nehmen, die Lampe und die Gitarre. Und er würde gehen, zur Tür heraus, er würde vielleicht Tränen in den Augen haben und sie auch. Sie auf jeden Fall, das wusste sie, sie würde bitterlich weinen, zwar versuchen, stark zu bleiben und nicht zusammenbrechen, aber auf jeden Fall weinen. Sie trank vom Tee, aber konnte das Aroma nicht richtig wahrnehmen. Nur die Süße
des Zuckers haftete an ihren Zähnen und auf ihrer Zunge. Das Aroma des Tees nahm sie nicht wahr, denn sie war zu traurig dafür. Sie zündete sich ebenfalls eine weitere Zigarette an und fragte sich, warum das alles so enden hatte müsse.
Eigentlich wäre doch alles gut gewesen. Sie musste daran denken, wie er vor zwei Jahren bei ihr eingezogen war. Sie hatten sich eigentlich erst gerade kennen gelernt. Ein gemeinsamer Freund hatte sie bekannt gemacht, und sie hatte sich sofort in seine durchdringenden Künstleraugen verliebt. Er hatte gesagt, dass er Musiker sei, und dass er sicherlich irgendwann einmal eine Oper für sie schreiben würde. Das hatte ihr gefallen, und sie wusste sofort, dass sie ihn auch am nächsten Tag wieder sehen werden wolle.
Und das tat sie auch, sie verabredete sich mit ihm, und zwei Wochen später trat er bereits durch die Tür der Zweizimmerwohnung, in der Hand einen Koffer und eine Gitarrentasche.
Sie betrachtete die Gitarre, die griffbereit neben dem Kühlschrank stand und spürte ihre Eingeweide, und innerlich weinte sie jetzt schon, denn sie wusste, dass sie diese Gitarre jetzt nie mehr wieder sehen würde. Und auch die Lieder, die er ihr immer vorgespielt hatte, würde sie nie mehr hören, und als sie sich das alles vergegenwärtigte, spürte sie, wie ihre eine heiße Träne die Wange hinab kullerte.
Als sie sich ihm wieder zuwandte, merkte sie, dass er sie ansah, dass er sicherlich auch die Träne bemerkt hatte. Und das hatte er, er hatte sie ganz genau bemerkt, hatte sofort das intuitive Verlangen, sie in den Arm zu nehmen verspürt, es aber bleiben lassen, denn das sei jetzt vorbei, von jetzt an müsste sie sich jemand anderen suchen, der sie tröstete, wenn sie traurig war, denn das ist so, wenn man nicht mehr zusammen ist, ja genau so ist das, dann ist man alleine, für eine Weile auf jeden Fall. Sie könnte
ja dann den großen Teddy, den sie auf dem Bett hatte, in den Arm nehmen. Vielleicht würde dieser sie ein wenig trösten können. Er war jetzt sehr traurig und musste sich sehr bemühen, nicht zu weinen. Und es ging, er sagte sich innerlich, dass es weitergehen würde, auf jeden Fall, dass das Leben weiter ginge, auch wenn man sich trennt, dass alles gut sein würde, dass sein Leben jetzt einfach in eine andere Richtung gehen würde. Aber irgendwie konnte er das nicht so richtig glauben, denn wenn er sich die Frau,
die ihm gegenüber saß, so ansah und in sich fühlte, dann war da nur diese Wärme für sie, die er verspürte, und er wollte nicht, dass diese Wärme jemals verschwinden würde. Aber das musste es wohl, er würde bald hier aufstehen, den letzten Schluck aus seiner Tasse trinken und gehen. Adieu. Er würde einfach gehen und nicht mehr zurückkommen.
Ja nicht einmal anrufen würde er. Damit war jetzt auch Schluss.
Als er vor zwei Jahren hier eingezogen war, schien alles so perfekt, und er war so glücklich wie nie zuvor. Sie hatte ihn inspiriert, war seine Muse geworden. Durch sie konnte er die schönsten Stücke schreiben. Er hatte ihr immer vorgespielt, als sie auf dem Bett lag, und sie musste mehr als einmal weinen, weil er sagte, dass er das Stück für sie geschrieben hätte, dass dies nur für sie sei, weil sie die Liebe seines Lebens sei.
Dann musste auch er weinen, all die Gedanken waren wohl zuviel gewesen, und als sie seinen Tränen sah, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, rückte mit dem Stuhl neben ihm und legte ihm den Arm um die Schulter. Dann sagte sie: "Es muss so sein. So ist es das Beste. Vertrau mir, so muss es sein." Aber er erwiderte nichts. Er blieb stumm, so als könne er nicht sprechen.
Er sagte sich auch, dass es wohl das Beste sei, aber als er an seinen Geburtstag dachte, den sie beide hier vor zwei Monaten gefeiert hatten, konnte er nicht mehr richtig daran glauben, dass es das Beste sei, wenn er jetzt gehen würde.
Nein, denn das war vielleicht der schönste Geburtstag seines Lebens gewesen.
Nicht dass sie etwas Besonderes getan hatte, nein, sie hatte gekocht - köstlich - und sie hatten guten Wein gehabt, und auch das Geschenk, das er von ihr erhielt - einen Buddha aus Jade, die er sammelte - war es nicht gewesen.
Es war einfach das Gefühl, das er verspürt hatte, diese Zweisamkeit, diese Zusammengehörigkeit, die ihn durchflutete, als er in der Küche sitzend die Kerzen auf seiner Torte ausgeblasen hatte, die diesen Geburtstag zum besten Geburtstag gemacht hatte. Er war sicher gewesen, dass sie die Frau seines Lebens sei, und in diesem Augenblick war er sogar hundertprozentig davon überzeugt, dass sie für immer zusammenbleiben würden.
Aber das würden sie nicht, nein, denn er würde jetzt gleich aufstehen und gehen. Für immer. Sie dachte nach, ob sie ihm nicht vorschlagen sollte, ob sie es nicht nochmals versuchen wollte. Aber sie verwarf den Gedanken, denn sie wusste, es war das Beste, und das hatte sie von ihrer Mutter gelernt:
man muss immer wissen, was das Beste für einen ist. Das ist das wichtigste.
Also stand er auf, ohne ein Wort zu sagen. Auch sie sagte nichts, und sie versuchte noch ein letztes Mal, seinen Duft einzuatmen. Sie wollte ihn niemals wieder vergessen, ihn irgendwie bei sich tragen, auch wenn sie es war, die ihn jetzt rauswirft, auch wenn sie diejenige ist, die sich von ihm trennen will, weil es einfach nicht mehr weitergeht. Es ist Zeit, ja es ist Zeit, das sagte sie sich immer wieder, und auch ihre Mutter und ihre Freundin hatten ihr zugestimmt.
Es ging in den Flur und nahm seinen Koffer in die Hand, kam zurück und nahm die Gitarre in die andere. Dann sagte er: "Ich gehe jetzt", und dabei hatte er Tränen im Gesicht, das wurde ihm erst jetzt bewusst, sein ganzes Gesicht war nass, und als er sah, dass auch sie weinte, schmerzte ihn das noch mehr.
Sie begleitete ihn zur Tür, zur gleichen Tür, zu der er vor zwei Jahren hereingekommen war. Als sie daran dachte, hatte sie das Gefühl, dass ihr Herz für einen Augenblick aufgehört hatte zu schlagen. Jetzt wäre sie am liebsten tot, dachte sie, am liebsten würde sie jetzt gleich sterben, denn dann würde der Schmerz vorbei sein. Und sie wusste, dass in der nächsten Zeit noch sehr viel Schmerz auf sie zukommen würde. Sie fürchtete sich vor diesem Abend, der langsam dabei war, über die Stadt zu fallen. Sie blickte
in die Küche und bemerkte, dass der Block aus Sonnenlicht aus der Küche verschwunden war. Draußen dunkelte es langsam. Heute würde sie alleine sein, zum ersten Mal sei langem, würde er nicht neben ihr schlafen, und zum ersten Mal sei langem, würde sie nicht durch seinen feinen Atem in den Schlaf gelullt werden. Nein, jetzt, in ein paar Sekunden würde sie die Tür schließen, und er würde draußen sein. Sie stellte sich vor, wie er weinend die Strasse entlang gehen würde. Sie machte sich solche Sorgen um ihn. Wer
würde ihn denn trösten, wer ihn in den Arm nehmen?
"Viel Glück." stammelte er hervor, und sie nickte nur, weil sie wusste, dass, wenn sie etwas sagen würde, nichts als ein Gestottere herauskommen würde.
Nein, sie schwieg lieber und bereitete sich auf den Schmerz vor, der jetzt gleich eintreten würde.
Er drehte sich um. Sie betrachtete die Umrisse seiner Gestalt und fand, dass er noch immer der Gleiche war, dass er nicht ein bisschen anders als vor zwei Jahren war, als er hier zur Tür hereingekommen war. Es ist das Gleiche, dachte sie, nur dass er jetzt geht und damals gekommen ist.
Er drehte sich nicht mehr um, und als sie die Tür schloss und von diesem mächtigen Schmerz, diesem unglaublichem Stechen im Herzen, befallen wurde, brach sie zusammen, und blieb dort an der Tür sitzen, auf ihren Schienbeinen.
Sie blieb einfach dort sitzen und lauschte seinen Schritten, die sich immer weiter entfernten, bis dass sie gänzlich verstummten.
Eingereicht am 22. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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