Der Tisch kann nicht wertvoller sein, als die Menschen die daran sitzen
© Ulrich Rakoún
Reich ist man, wenn man etwas hat,
das mehr ist als materielle Dinge.
Ingeborg Bachmann
Ich hatte wie jedes Jahr an Sylvester meine sieben besten Freunde eingeladen, die wie üblich an dem großen Esstisch in meinem Wohnzimmer Platz nahmen und auf die guten Dinge warteten, die da kommen sollten. Alle waren wir fröhlich und ausgelassen und freuten uns darauf, den Jahreswechsel gemeinsam zu erleben - wie in jedem Jahr. In ein paar Minuten würde ein Party-Service unserer Stadt draußen schellen und das warme und kalte Buffet anliefern, das ich vor einer Woche aussuchte und bestellte. Ich kannte ungefähr
die Geschmäcker meiner lieben Gäste und hatte mich deshalb in der Auswahl der Speisen darauf eingestellt, denn ein Freund von mir war strenger Vegetarier und ein anderer aß schon seit Jahren nur noch Fischgerichte, so dass die Tafel für jeden von ihnen etwas geeignetes enthielt, damit der Abend ein gelungener werden würde und niemand meiner Freunde enttäuscht sein musste. Die äußeren Dinge schienen mir immer sehr wichtig. Einige versilberte Kerzenleuchter warfen aus angemessener Entfernung einen sanften Schimmer
auf das in einer nicht so stark beleuchteten Nische sich befindende Wunderwerk der Koch- und Backkunst. Das äußere Gemälde wurde klangfarblich untermalt von herrlicher Musik aus dem neuen CD-Player, den ich zu Weihnachten von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte: Vivaldi und Cherubini, dazwischen Pop und Rock. Für jeden Geschmack war etwas dabei. Alles im Stil sehr kultiviert und angemessen - auch wie in jedem Jahr.
Meine Freunde, sieben an der Zahl, waren wie immer sehr angetan von der festlichen Atmosphäre, die in dem Raum und in meiner mir ziemlich klein erscheinenden Wohnung herrschte, und es wurde reichlich gegessen und getrunken, so dass alle sehr zufrieden schienen mit dem, was ihnen auf den kalten und warmen Platten angeboten wurde. Der Alkohol zeigte schon bald seine erste Wirkung, und man lachte und scherzte ausgiebig, tauschte Erinnerungen an das alte Jahr aus, das gerade erst zu Ende gehen sollte und das jedem
von uns etwas anderes gebracht hatte. Einer von uns hatte eine phantastische neue Stelle angetreten und ein anderer war arbeitslos geworden, weil seine Firma Arbeitsplätze ins Ausland verlegte. Einer wurde von einer schweren Krankheit wieder gesund, und einem anderen war die unheilvolle Diagnose "Krebs" mitgeteilt worden. Alles hatten wir, wie in jedem Jahr vorher, gemeinsam getragen oder wenigstens den Versuch in diese Richtung unternommen, und so blickten wir voller Hoffnung und Zuversicht auf das
langsam am Horizont auftauchende neue Jahr und was es wohl für jeden von uns bringen würde. Furcht und Sorgen blieben in der Verbannung - waren wie ausgelöscht, denn jeder fühlte sich im Kreis mit den andern gut aufgehoben und geborgen. Das neue Jahr sollte nur kommen, man würde es schon gemeinsam durchstehen und meistern, denn dazu war wahre Freundschaft ja da, einer für den andern präsent zu sein, wenn es ihm mal nicht so gut gehen sollte. Am heutigen Abend ging es aber allen gut, denn Trauergeister waren zur
Feier nicht zugelassen worden, wurden ausgiebig belacht und mussten draußen bleiben, wie es sich eben für Sylvester gehörte.
Dann überfiel mich nach einigen Gläsern Sekt und Wein plötzlich der unsinnige (weil für meine Verhältnisse in vollem Maße überhebliche) Einfall, dass es schön wäre, Sylvester in einem großen Haus, einer Villa mit überdachtem und beheiztem Swimmingpool und Sauna zu feiern. Weil die räumlichen Möglichkeiten ganz anders wären und meine Freunde in der späten Nacht oder am Morgen nicht mehr mit dem Taxi nach Hause fahren müssten, sondern bei mir im Haus in Gästezimmern übernachten könnten. Wir würden dann nachts nach
dem Buffet noch gemeinsam in die Sauna und danach schwimmen gehen und nach Lust und Laune weiter feiern, bis uns irgendwann die Müdigkeit packen und einer nach dem andern sich zur Ruhe begeben würde. Ja, das wäre wirklich traumhaft - weil ein Traum von mir, und augenblicklich, nachdem ich darüber nachgedacht hatte, fielen mir auch schon die Augen zu, wovon ich aber selber nichts merkte, denn ich hatte das beständige Gefühl der inneren Wärme und Geborgenheit, immer noch mit meinen Freunden an dem reichlich gedeckten
Tisch zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten. Vielleicht war die Arbeit heute morgen im Geschäft und der Einkauf danach zu anstrengend gewesen, so dass mich plötzlich diese starke Müdigkeit überkam, die jedoch meine Gedanken nicht lähmte, die mir jetzt wild und bunt im Kopf herumflogen, was mir in keiner Weise unangenehm schien, sondern mich eher in einen sonderbaren Zustand des Abgehobenseins versetzte, der dem des Fliegens (ähnlich wie in Nils Holgersons Abenteuer) wohl am nächsten kam. Ich befand mich
plötzlich (wie Nils auf dem Rücken des Gänserichs Martin über den Provinzen und Städten Schwedens) auf einer Reise durch die Zukunft, wie ich sie mir wohl eben in der Realität der Gegenwart gerade erst gewünscht hatte und konnte deshalb die Gegenwart nicht mehr von der Zukunft unterscheiden, weil beides ineinander überzugehen begann und das Ziel und Ende der beiden zeitlichen Dimensionen, die zu einer einzigen Einheit verschmolzen waren, auf jeden Fall und für jede mögliche Phase meines wundersamen Höhenflugs
noch im Dunkeln lag.
Ja und sieben Jahre sollte mein schöner Traum nun wohl dauern, so glaubte ich jedenfalls zu träumen. Sieben Jahre, die fette und reiche Jahre werden sollten und in denen ich zu einem beträchtlichen Vermögen kam (wohl auf Kosten von meinen sieben Freunden, was mir aber bisher nicht bewusst war). Ein großes Haus sollte mir nach den sieben Jahren gehören, mit einem Luxusauto davor. Auf meinen Konten im In- und Ausland lagen große Geldbeträge, und Goldbestände ruhten in den unterirdischen Tresoren der Banken von
Zürich, Wien und München. Dazu kamen noch einige Bündel mit Aktien und Wertpapieren mit den höchsten Renditen, die ich mein Eigentum nennen durfte.
In den sieben fetten Jahren war ich so mit dem Geld zählen beschäftigt gewesen, dass mir gar keine Zeit mehr für andere Dinge blieb, wie etwa zu einem Spaziergang in der wunderschönen Natur an einem herrlichen, warmen Sommertag. Denn das Gold strahlte fast so hell wie das Sonnenlicht, nur dass es keine Wärme in sich barg, was ich leider erst zu spät bemerkte. Und auch die vielen anderen Besitztümer brachten mir keine wirkliche innere Herzenswärme, Ruhe und Geborgenheit, wie ich sie immer im Kreise meiner Freunde
empfunden hatte.
So brauchte ich in den sieben fetten Jahren auch keine Menschen und Freunde um mich herum, denn meine Schätze, die mir inzwischen über den Kopf gewachsen waren, bedeuteten mir alles, mehr als alle Menschen mir vorher in meinem Leben bedeutet hatten. So glaubte ich jedenfalls während des Geldzählens, denn der Gedanke an menschliche Nähe war mir irgendwie fremd geworden, und ich schlich nur noch in die Keller der großen Banken zu den Tresoren, wo meine Schätze ruhten, die mein ein und alles geworden waren.
Ja, so dachte ich in meinem Traum bis zum Ende des siebten Jahres, der mir aber gar nicht so wie ein Traum vorkam, sondern wie die Verwirklichung eines Wunschbildes, das beim Essen mit meinen Freunden Gestalt angenommen hatte und schließlich zu einer neuen Form der Realität geworden war. Einer Wirklichkeit, die mir lieber schien, als alle grauen Realitäten vorher. Auch der Tisch, an dem ich mit meinen sieben Freunden einst gesessen und gegessen hatte, bestand heute nicht mehr aus gewöhnlichem Holz, sondern war
mit einer Schicht aus Gold überzogen worden und zu allem Überfluss noch mit Halbedelsteinen kunstvoll verziert.
Dann kam der Tag, die Stunde oder die Minute (ich kann es in diesem Zustand und Teil des Traums schlecht beurteilen ), in der ich das Gefühl hatte, aus dem Traum zu erwachen und mir fielen plötzlich meine sieben Freunde ein, mit denen ich früher oft gefeiert hatte, wie eben vor sieben Jahren an Sylvester in meiner kleinen Wohnung. Ja, es musste nun bald wieder Weihnachten und Sylvester sein, und ich wollte deshalb schnell versuchen, sie zu erreichen, um sie zu meiner Weihnachts- und Sylvesterparty in meine neue
Villa einzuladen. Einen beheizten Swimmingpool und eine Sauna gab es nun auch im Keller und natürlich genügend Gästezimmer, so dass niemand mehr in der Nacht nach Hause aufbrechen musste.
Beim Anruf des ersten Freundes kam nur die Ansage einer eintönigen Frauenstimme: "Kein Anschluss unter dieser Nummer." Auch beim Anruf des zweiten und dritten Freundes erhielt ich immer wieder die Ansage: "Kein Anschluss unter dieser Nummer." So ging das schließlich bis zur siebten Telefonnummer meines siebten Freundes, und ich hatte plötzlich das Gefühl, hilflos und allein zu sein und ließ mich mutlos auf das vor mir stehende Sofa sinken. Nach einer Stunde rief ich die Auskunft an, die mir
aber auch nicht weiterhelfen konnte, weil die Telefonnummern meiner Freunde, die wie ich alle in derselben Stadt Hamburg wohnten oder gewohnt hatten, während der letzten sieben Jahre aus den Telefonbüchern entfernt worden waren, die letzte erst vor ein paar Monaten und es in ganz Deutschland keine neuen Telefonbucheintragungen für einen meiner Freunde gab. In keiner Stadt und in keinem Dorf. Sie schienen irgendwie vom Erdboden verschluckt zu sein, weshalb ich mich auf den Weg zum Einwohnermeldeamt meiner Stadt
machte, um hier nachzufragen, wohin meine Freunde gezogen sein konnten. Beim Amt wollte man mir nur gegen eine Gebühr die gewünschte Auskunft geben, die ich schnell entrichtete und kurze Zeit darauf die bittere Wahrheit mitgeteilt bekam. In jedem Jahr war während der letzten sieben Jahre einer meiner Freunde gestorben, der letzte erst vor ein paar Monaten. Ich hatte mich in der ganzen Zeit niemals mehr um sie gekümmert, weil ich ja so sehr damit beschäftigt gewesen war, meine Reichtümer zu sammeln und zu zählen,
mein Geld, mein Gold und meine Wertpapiere…
Nun gehörten mir alle diese herbeigesehnten Reichtümer, aber ich fühlte mich ärmer als je zuvor. Was hatte einer meiner Freunde einmal zu mir gesagt, als er mich im Krankenhaus nach einem Verkehrsunfall besuchte: "Der Tisch kann nicht wertvoller sein, als die Menschen die daran sitzen." Ja einen wunderschönen Tisch hatte ich jetzt, einen der mit Gold überzogen und mit Halbedelsteinen verziert war, aber keinen Freund, den ich noch besuchen konnte und der mich, wie in früheren Zeiten in meiner alten Wohnung
besuchen würde. Alle meine mir liebgewordenen Menschen lagen auf dem Friedhof, und da nutzten sie mir als dem Lebendem auch nichts mehr. Sie würden mich gar nicht mehr hören können, dort unten in ihren Gräbern, wenn ich in der eisigen Kälte eines früh anbrechenden, dunklen Winterabends zu ihnen sprechen würde - so wie ich immer am Weihnachtsabend oder in der Sylvesternacht zu ihnen gesprochen hatte.
"Der Tisch kann nicht wertvoller sein", hatte mein Freund gesagt. "Hör doch auf", rief ich. "Ich will an Weihnachten nicht allein sein, ich kann nicht…, oh lieber Gott, hilf mir doch ...", schrie ich ganz herzzerreißend und fürchterlich, so dass meine Augen zu schwitzen begannen und den ganzen Kosmos zu erweichen drohten oder zumindest mein Papiertaschentuch von den vielen Tränen aufgeweicht wurde und ich es verärgert auf den Boden warf.
Dann hörte ich die Stimme wieder und immer wieder, aber jetzt klang sie gar nicht mehr wie in einem geheimnisvollen Traum, und ich fühlte, wie sich ein Arm um meine Schulter legte und ich langsam, fast im Rhythmus des Pulsschlags meines Herzens, wieder zu mir kam und zu atmen begann. Ich sah, wie sich ein Gesicht über mich beugte und erkannte meinen Freund Peter, der mich freundlich anlächelte und fragte, warum ich so geschrieen und geweint habe, dass das weiße Tischtuch vor mir ganz nass geworden war. Auch meine
anderen sechs Freunde saßen um den reichlich gedeckten Tisch, auf dem das Sylvesterbuffet immer noch aufgebaut war und starrten mich mit erstaunten Augen an. Dann sagte Peter, dass ich in meinem kurzen Schlaf, der mir wie eine hundertjährige Traumreise oder ein hundertjähriger Aufenthalt in einem verwunschenen Märchenschloss vorgekommen war, etwas halblaut vor mich hingemurmelt hätte, das sich angehört habe wie: "Der Tisch kann nicht wertvoller sein, als die Menschen die daran sitzen." "Ja, das
stimmt", erwiderte ich nun den sieben verblüfften Augenpaaren, die mich immer noch fragend ansahen. "Ich habe es eben auf meiner Reise erlebt. Drum lasst uns heute fröhlich und ausgelassen feiern und sorglos zusammen in das neue Jahr gehen, denn ein Tisch kann doch niemals wertvoller sein, als die Menschen die daran sitzen."
Daraufhin lachte ich von ganzem Herzen und aus voller Kehle, so dass auch meine Freunde anfingen zu lachen, bis die Decke in meinem Wohnzimmer fast bebte und der schiefe Leuchter mit den sieben Kerzen darauf beinahe zu wackeln begann. Mitten in meinem Lachen zwinkerte ich für den Bruchteil einer Sekunde zur Decke, ob vielleicht auch ein anderer da oben mich verstanden hatte. Er hatte, denn es war mir, als hätte noch jemand anders mitgelacht, dessen Stimme ich vorher noch niemals gehört hatte. Vielleicht war auch
dieser jemand glücklich darüber, dass ich so heil und wohlbehalten von einer aufregenden und doch gefährlichen Reise, ohne Schiffbruch an meiner Seele zu erleiden, sicher wieder heimgekehrt war.
Eingereicht am 21. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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