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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Bettgeflüster

© Sylvia Thomas


Ein schriller Ton durchzuckt die Nacht. Das Läuten eines Telefons.
Frau Krause liegt starr in ihrem Bett. Mit weit aufgerissenen Augen scheint sie zur Salzsäule erstarrt. Herr Krause, mehr schlafend als wach, tatscht in der Dunkelheit in ihr Gesicht. "Aufstehen, Erna. Das Telefon."
Aber Frau Krause rührt sich nicht. Sie liegt einfach so da und starrt an die Decke. Nein, denkt Frau Krause, nein.
"Erna, hörst du nicht.", brummt Herr Krause, noch immer schlaftrunken.
Nein, nein. Das Klingeln endet nicht. Es soll endlich aufhören. Aber es endet nie, wenn es aufhören soll, denkt Frau Krause und gerät in Versuchung, sich wie ein störrisches Kind die Ohren zuzuhalten.
"Erna, nun komm schon, was soll das!", Ihr Mann rüttelt sie stärker. "Wach schon auf. Hörst du das Klingeln nicht?"
"Natürlich höre ich das Klingeln.", flüstert Frau Krause.
"Na und, willst du nicht endlich aufstehen und `rangehen?"
"Nein", antwortet Frau Krause bestimmt.
Herr Krause wird langsam wach. "He? Was hast du gesagt?"
"Ich habe gesagt, dass ich nicht rangehen werde", wiederholt Frau Krause.
"Und wieso, wenn man fragen darf?"
"Wieso, wieso. Wie kannst du so eine Frage stellen. Es ist halb drei, Erwin. Halb drei Uhr nachts", wiederholt sie zur Sicherheit, man kann ja nie wissen, ob der Mann es auch richtig versteht.
"Na und?", fragt Herr Krause verständnislos.
"Halb drei. Drei Uhr nachts", wiederholt Frau Krause und denkt, dass Männer wirklich schwer von Begriff sein können.
"Ich weiß. Es ist halb drei Uhr nachts. Und das Telefon klingelt. Geh endlich ran."
"Nein."
"Nein?"
"Nein."
"Hm", brummt er, als würde er endlich verstehen.
Frau Krause weiß, dass es nicht so ist. "Was, hm?", fragt sie.
"Was weiß ich, das Klingeln nervt. Geh endlich an das verdammte Telefon."
"Nein."
"Darf man nun endlich fragen, weshalb?"
"Du verstehst gar nichts, Erwin, gar nichts. Ich will es dir erklären." Sie setzt sich auf und beginnt ihrem Mann, wie einem kleinen Kind beizubringen: "Nächtliche Anrufe bedeuten nichts Gutes. Nachts ruft nur jemand an, wenn etwas Schreckliches passiert ist. Als mein Rudi starb, rief man mich mitten in der Nacht an. Als Else den Unfall hatte, rief man mich mitten in der Nacht an. Ich will nicht, dass etwas Schlimmes passiert", erklärt Frau Krause.
"Oh." Mit einem Stöhnen lässt sich Erwin in die Kissen fallen. "Mein Gott, selbst wenn irgendetwas passiert sein sollte, wirst du es erfahren, wenn nicht jetzt, dann später. Verhindern kannst du es nicht, indem du nicht rangehst. Und nun geh schon. Gute Nacht." Für Herrn Krause ist die Angelegenheit erledigt. Er legt sich hin und zieht das Kissen über den Kopf.
Das permanente Klingeln zerrt an Frau Krauses Nerven. Nein, denkt sie trotzig, ich werde nicht `rangehen. Nicht jetzt. Und nicht heute Nacht. Nachts kann man schlechte Nachrichten nicht so leicht verdauen, der Geist ist noch nicht ganz wach und du musst dich mit allem abfinden, was dir gesagt wird. Am Tag ist das anders, da kann man denken. Man schaltet schneller. Da haben selbst schlechte Nachrichten ihr Entsetzen verloren. Nein, alles nur nicht nachts geweckt werden und schlechte Mitteilungen hören.
Das Telefon klingelt weiter, immer weiter. Es dringt in jede Zelle ihres Gehirns, martert und nagt.
"Erna, es nervt. Ich kann so nicht schlafen. Geh ran."
"Nein."
"Erna, es muss nichts passiert sein. Irgendjemand kann sich verwählt haben. Falsch verbunden."
"Möglich."
"Ja, möglich. Also geh schon ran."
"Nein."
"Wieso?"
"Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich."
"He?"
"Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wie oft ist schon jemand am Telefon, der nicht uns wollte? So gut wie nie", beantwortet sich Frau Krause ihre Frage selbst. "Es ist sicher eine schlechte Nachricht."
"Bestimmt hat sich jemand verwählt."
Herr Krause stopft sich kleine Teile eines Papiertaschentuchs, das immer unter seinem Kopfkissen liegt, in seine Ohren und zieht die Decke über den Kopf.
Bald hört Frau Krause nur noch seine regelmäßigen Atemzüge und das Klingeln des Telefons. Wie kann man schlafen, wenn das Telefon klingelt, fragt sie sich und erwartet den nächsten Klingelton.
"Erna, das Telefon klingelt noch immer", mahnt schlaftrunken ihr Mann.
"Ich weiß."
"Du solltest rangehen."
"Nein."
"Es kann doch nicht die ganze Nacht klingeln."
"Dann geh du doch ran."
Herr Krause glaubt, sich verhört zu haben. "Ich? Wieso ich? Wer wollte denn dieses Telefon? Ich nicht. Ich habe gesagt, wir kommen auch gut ohne aus, aber du hörst ja immer auf deine Tochter."
"Sie meinte, es wäre gut, wenn einmal etwas passiert."
"Und da hat sie recht. Deshalb haben wir jetzt diese Höllenmaschine. Und du gehst nicht ran."
"Du kannst ja auch mal rangehen."
"Ich gehe nie ran."
"Ich weiß. Aber jetzt kannst du ja mal rangehen."
"Nein, verdammt. Ich wollte dieses Ding nicht. Ich gehe nie ran. Auch nicht jetzt."
"Ich weiß. Wenn du mich lieben würdest, ich meine richtig lieben, so von ganzem Herzen und so, dann würdest du gehen."
"Ich gehe nie."
"Ich weiß. Das ist es ja eben."
"Aber das heißt nicht, dass ich dich nicht liebe. Was bitte schön, hat ein Telefon mit Liebe zu tun."
"Nichts."
"Sag ich ja."
"Das ist es ja eben."
Wieder legt sich Herr Krause nieder und zieht sich das Kissen über den Kopf.
Das Telefon klingelt weiter. Schrillte, lauter als irgendein Geräusch des Tages. Lauter als der Wecker am Morgen. Lauter als der Lärm tagsüber auf der Baustelle nebenan. Doch Herr Krause schläft.
Frau Krause schläft nicht. Sie starrt weiter an die Decke und denkt deprimiert, er liebt mich nicht, und er versteht mich nicht. Aber so ist das eben mit den Männern. Sie verstehen eine Frau nie. Und er versteht mich nie. Er liebt mich eben nicht. Sonst würde er wenigstens versuchen mich zu verstehen und nicht seelenruhig schlafen.
"Erna, das Telefon."
"Ja."
"Geh endlich ran. Es hört nicht auf."
"Ich weiß."
"Dann geh doch endlich."
"Nein."
"Mein Gott, vielleicht ist es ja auch nur deine Cousine aus Übersee. Bei denen ist es mitten am Tag. Sicher hat sie nur die Zeit vergessen."
"Johanna? Meine Cousine? Ich glaube nicht, dass es Johanna ist."
"Wie kannst du es wissen, wenn du nicht an diesen Apparat gehst?"
"Kann ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass sie das ist."
"Aber du wirst es nie erfahren, wenn du nicht rangehst."
"Richtig. Denkst du wirklich, Johanna ist dran?", fragt Frau Krause zweifelnd.
"Woher soll ich das wissen. Heb ab und du erfährst es."
"Nein."
"Wieder nein?"
"Nein."
"Und wieso jetzt nicht?"
"Es ist eine schlechte Nachricht."
"Eine schlechte Nachricht von Johanna?"
"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie kann ich das wissen?"
"Kannst du nicht, wenn du nicht abhebst und mit Johanna redest."
"Und wenn nun nicht Johanna dran ist?"
"Dann ist es eben jemand anders. Verdammt.", Herr Krause wird langsam wütend. "Wieso diskutiere ich mitten in der Nacht mit dir wer, am Telefon sein könnte? Geh ran und du erfährst es."
Wieder legt er sich hin, die Zipfeln des Taschentuchs in den Ohren und zieht seine Decke über den Kopf.
Das Telefon klingelt unaufhörlich. Immer wieder der gleiche monotone Klang, der sich wie ein Signal in Frau Krauses Herz und in ihren Kopf einschleicht, sie erfasst, rüttelt und schüttelt. Aber sie regt sich nicht. Sie starrt weiter regungslos an die Decke.
"Erna" Herr Krause schüttelt sie nach einer kleinen Ewigkeit wieder. "Erna. Das Telefon"
"Ja."
"Geh schon ran, zum Kuckuck."
"Nein. Ich gehe nicht ran."
"Es ist gewiss nichts Schlimmes. Nun geh schon."
"Das sagst du nur so. Aber du weißt auch, dass es keine gute Nachricht sein kann."
"Weshalb denn nicht?"
"Keiner ruft nachts wegen einer guten Nachricht an. Keiner."
"Du wirst es nicht herausfinden, wenn du das Klingeln ignorierst."
"Vielleicht ist es wieder einer dieser Perverse."
"Perverse, Perverse?" Herr Krause ist plötzlich hell wach. "Was meinst du mit Perverse?"
"Du weißt schon", erklärt Frau Krause geduldig. "Diejenigen die in den Hörer stöhnen und unanständige Geräusche machen."
"Solche Anrufe kriegst du? Warum hast du mir davon nie etwas gesagt?"
Frau Krause zuckt mit den Schultern. "Weil es nicht wichtig war."
"Nicht wichtig? Irgend so ein Verrückter ruft hier an und macht sich an meine Frau ran und du denkst, es sei nicht wichtig?"
"Richtig."
"Das ist sicher der Schulze von nebenan. Der hatte schon immer ein Auge auf dich."
"Ich bin über sechzig Erwin."
"Das weiß ich. Denkst du das weiß ich nicht?", ereifert sich Herr Krause. "Aber dieser Kerl von nebenan weiß das auch. Und es hält ihn nicht davon ab, dich zu belästigen."
"Es belästigt mich nicht. Ich lege einfach auf."
"Der Schulze kann was erleben, wenn der mir zwischen die Finger kommt. Dem werde ich schon beibringen, wie man sich gegenüber älteren Herrschaften zu verhalten hat."
"Erwin, der ist zwanzig Jahre jünger. Und außerdem weiß ich doch gar nicht, ob er jetzt am Telefon ist. Es könnte auch eine schlechte Nachricht sein."
"Sicher ist er dran. Aber wir gehen ja nicht mehr ran. Aber morgen kann er was erleben."
"Vielleicht ist er es auch gar nicht."
"Sicher ist er es. Du wirst sehen. Warte nur bis morgen."
Wieder Stille, die durch den regelmäßigen Klingelton des Telefons unterbrochen wird. Und Erwins schneller gepresster Atem, der Frau Krause verrät, dass ihr Mann nicht schläft.
Plötzlich springt er auf, läuft zum Telefon und reißt den Hörer von der Gabel. Frau Krause liegt noch immer wie gelähmt in ihrem Bett und starrt in der Dunkelheit an die Decke.
"Du verdammter Hurensohn …."
Sein Gesicht erstarrt zu einer Maske.
Neugierig setzt sich Frau Krause auf und schaut zu ihrem Mann am Telefon.
"Und? Eine schlechte Nachricht oder der Perverse?"
Da hört Frau Krause leise den monotonen Klang des Freizeichens.

Eingereicht am 05. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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