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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Ein ganz normaler Tag

© Günter J. Matthia


1
Es ist ein ganz normaler Tag. Glaubt Harald zumindest.
Frühling in Berlin, die Sonne wärmt schon kräftig genug, um uns aus unseren Pullovern zu treiben, die Mäntel in die Schränke zu verbannen. Noch nicht endgültig, man weiß ja nie, aber heute gehen wir in Hemd oder Bluse spazieren, je nach Geschlecht. Die jungen Leute natürlich im T-Shirt, soweit junge Leute spazieren gehen.
Samstag. Der Haushalt ist in Ordnung, alles geputzt und blitzblank. Hunde tollen über die Wiesen im Tiergarten, einige ganz mutige Damen sonnen sich bereits im Bikini an der Böschung des Landwehrkanals. Das Eis schmilzt sahnig auf seiner Zunge, als Harald von der Schleuse kommend weiter schlendert. Rechts der Zoo; die Gitter gestatten einen Blick auf Wasservögel und Wildhunde. Links der Kanal, grünes Wasser, behäbig unterwegs nach Brandenburg und dann wohl in irgendein Meer.
Frau Heller aus dem Erdgeschoss kommt ihm entgegen mit ihren beiden Kindern, das Baby im Buggy, der Zweieinhalbjährige mit Brotkrümeln unterwegs, um Spatzen zu erfreuen. Komisch, dass man in dieser großen Stadt Nachbarn trifft, wenn man spazieren geht. Millionen Menschen, aber man trifft immer wieder auf Bekannte. Freundlich nicken sie einander zu, ein Schwätzchen scheint nicht angebracht, man schlendert weiter.
Harald weicht einer Gruppe jugendlicher Fahrradfahrer aus, die waghalsig ihren Slalom um die Passanten veranstalten, verfolgt von zwei Hirtenhunden, die fröhlich kläffen. Er ist fast an der zweigeteilten Brücke, auf der Zoobesucher und Tiergartenspaziergänger getrennt das Wasser überqueren können.
Ihm wird schwindlig, er taumelt, die Bäume drehen sich, er bekommt keine Luft mehr, es wird finster um ihn. Vom Aufprall auf den Boden spürt er nichts mehr. Sein restliches Eis sickert in den Sand.
2
Wie viel später schlägt er die Augen auf? Die Armbanduhr, die er als erstes erblickt, weil sein Handgelenk vor seinem Gesicht gelandet ist, verrät es ihm. Es ist jetzt 17:34, vorhin war es gegen 14:00 Uhr gewesen. Vorhin. Vor dem - vor was eigentlich? Und warum hat kein Mensch ihn in ein Krankenhaus gebracht? Oder träumt er? Oder ist die Uhr kaputt?
Er will sich aufrichten, aber es geht nicht. Die Beine gehorchen nicht, ihm ist als hätte er keine Arme. Sein Körper ist ohne Gefühl, mühsam kann er lediglich den Kopf bewegen. Er versucht, aus dem schlau zu werden, was er sieht.
Da drüben liegt ein Kind im Gras, die Augen geschlossen, bleiche Haut, die Zunge hängt ein Stück aus dem Mund. Es rührt sich nicht. Niemand rührt sich.
Frau Heller liegt ein Stück weiter, der Buggy ist umgefallen, das Baby hängt, festgehalten von den Gurten, halb auf der Erde, halb in der Luft. Es scheint den kleinen Jungen nicht zu stören. Ein leichter Wind spielt mit seinen blonden Locken, ansonsten regt sich das Kind nicht.
Harald begreift noch nicht, was er sieht. Kann er seinen Körper zwingen, sich aufzurichten? Nein, es geht nicht. Der Kopf beginnt rasend zu schmerzen, etwas möchte aus dem Magen an das Tageslicht, und es kommt auch heraus, übel schmeckend, gelbliches Grün, kleine feste Stücke zwischen all dem Schleim, der kleine Bläschen wirft. Das Erbrochene läuft über sein Hemd, er kann sich nicht drehen, um den Schwall auf die Erde zu lenken. Es stinkt. Er stinkt. Er holt tief Luft. Keine gute Idee, denn sein Magen reagiert mit einer zweiten Konvulsion.
3
Alle paar Minuten wiederholen die Radio- und Fernsehsender der Hauptstadt die Aufforderung, Fenster und Türen geschlossen zu halten, nicht hinauszugehen, weitere Anweisungen des Krisenzentrums abzuwarten. Die Kameras zeigen aus Hubschrauberperspektive die Innenstadt. Der Ku'damm übersät mit reglosen Gestalten, Autos, Lastwagen, Busse, die an irgendeinem Hindernis unsanft ihre Fahrt beendet haben. An verschiedenen Stellen brennt es.
Dann Bilder aus dem Klinikum in Steglitz, offensichtlich weit genug weg von der Katastrophe, denn hier bewegen sich die Menschen statt starr herumzuliegen. Ärzte und Schwestern rennen über die überfüllten Gänge, auf der Rampe stauen sich Notarztwagen, Taxis, Polizeifahrzeuge. Was immer fahren kann, bringt Patienten.
4
Doch davon weiß Harald noch nichts, er hat keine Ahnung, was eigentlich passiert ist. Er liegt auf einem Weg im Tiergarten, kann sich nicht rühren und riecht sein Erbrochenes.
Das Kind im Buggy muss wohl tot sein, überlegt er. Das Kind auf der Wiese auch. Ein wenig kann er jetzt sogar den Kopf heben, mühsam und unbeholfen, aber es geht. Im Wasser treibt ein Hund, nein, er schwimmt nicht, er treibt. Was ist denn bloß geschehen?
Ein Hubschrauber kommt in Sicht, hoch, viel zu hoch. Harald kann nicht winken, nicht rufen, er kann nur zusehen, wie der Helikopter Kreise dreht und wieder hinter den Baumkronen verschwindet.
Es ist so still, nachdem das Knattern des Beobachters in der Luft verklungen ist. Kein Laut aus dem Zoo, kein Lachen, auch kein Weinen. Kein Vogel zwitschert, kein Hund bellt hinter Radlern her. Der Kopf droht zu platzen, es tut weh, so weh.
5
"Fahren Sie die Krankenhäuser in Potsdam an." ordnet das Krisenzentrum über Funk an. "In Berlin sind alle Kapazitäten hoffnungslos überbelegt. Und fahren Sie auf keinen Fall ohne Schutzausrüstung in die Nähe der Sperrzone. Mitte, Schöneberg, Tiergarten, Charlottenburg sind nicht zugänglich." Ständig laufen Meldungen über Windstärke, Windrichtung, den vermutlichen Weg, den die unsichtbare Giftwolke nimmt über die Monitore.
Man kann Berlin nicht evakuieren. Die Straßen, die aus der Stadt führen, sind verstopft, seit die ersten Meldungen ausgestrahlt wurden. Menschen sitzen in ihren Fahrzeugen fest, nichts geht mehr vorwärts und zurück nach Hause können sie auch nicht. Wie die Einsatzfahrzeuge nun nach Potsdam kommen sollen, ist den Fahrern der Notarztwagen so wenig klar wie denen, die es angeordnet haben. Es weiß überhaupt kaum jemand, was eigentlich los ist. Manch Sanitäter kommt zu nah an die Gefahrenzone und wird selbst zum Opfer. Eine Übersicht hat niemand im Augenblick.
6
Harald hat schon gar keine Ahnung von dem, was sich da außerhalb seines Blickfeldes abspielen mag. Das erfährt er erst viel später aus den Zeitungen und den unermüdlichen Wiederholungen im Fernsehen. Einstweilen reicht das, was er sehen kann, schon aus, um jegliche Neugier auf mehr Informationen auszulöschen, vielen Dank auch.
Ganz leicht zucken seine Füße, es scheint, als ob langsam, unendlich langsam, die Kraft zurückkehrt. 17:56 Uhr sagt seine Uhr. Er muss hier weg, oder nicht? Nach Hause. Im Fernsehen nachschauen, was eigentlich los ist, falls es so etwas wie Fernsehen noch gibt. Oder nein, doch lieber ins Krankenhaus.
Es geht aber noch nicht, noch kann er nicht aufstehen. Immerhin, der Oberkörper stützt sich auf den Arm, als läge er auf seinem Sofa. So kann er sich jetzt besser umschauen. Das Ergebnis ist wie erwartet nichts, was er gerne betrachten würde: Sie sind alle tot.
Als wäre nichts geschehen, liegt die junge Frau, nur mit dem Bikini bekleidet, an der Böschung. Die Sonnenbrille verbirgt, ob die Augen geschlossen sind. Aber die Haut ist so weiß, der Mund steht halb offen, als wolle er tief Luft holen und könne nicht. Die Brust hebt und senkt sich nicht.
Die Sonne ist so gut wie verschwunden, die Nacht wird barmherzig verbergen, was Harald jetzt so deutlich sehen muss: Alle sind einfach umgesunken, wo sie liefen, fuhren, saßen. Offensichtlich haben die Hirtenhunde das Rennen in den letzten Sekunden doch noch gewonnen, sie liegen zwischen den verkeilten Fahrrädern der Jugendlichen.
Und der Gestank ist wirklich nicht auszuhalten. Harald riecht nicht nur sein Erbrochenes, stellt er fest. Woher kommt nur dieser… Er blickt an seinem Körper hinab. Seine Hose ist nass - und nicht nur nass. Wie ein Baby in die Windel hat er Darm und Blase entleert, nur dass er keine Windel trägt, weil er kein Baby ist. Er sollte dringend duschen, falls er das alles nicht träumt.
7
Der regierende Bürgermeister lässt sich berichten. Ein Verkehrsunfall war geschehen, und ob der Militärtransporter nun überhaupt berechtigt gewesen war, mit solcher Ladung mitten durch die City zu fahren, wer ihn gesteuert hatte, wohin er das Giftgas hatte bringen wollen und wo um alles in der Welt es herkam - das spielt momentan wirklich keine Rolle. Er regiert eine Stadt, in der das Unvorstellbare geschehen ist. Er regiert eigentlich nicht, überlegt er. Er reagiert höchstens noch auf den Schock.
Die Deutsche Regierung ist tot, soweit die Politiker sich in einem der Gebäude des Regierungsviertels aufgehalten hatten. Viele hatten allerdings die Stadt für das Wochenende verlassen. Angela Merkel ist in Sicherheit auf Auslandsreise, Franz Müntefering ebenfalls. Aber die übrigen Minister? Und all die Angestellten und Abgeordneten? Vermutlich ist von der deutschen Regierung und dem Bundestag so gut wie nichts übrig. Davon muss man zumindest jetzt ausgehen, in Augenschein genommen hat noch niemand den Bezirk.
Aus den USA hat eben der Präsident angerufen, sein Entsetzen und Mitgefühl ausgedrückt. Es ist, so weit jetzt bekannt, immerhin amerikanisches Gift, das diese Stadt getroffen hat.
Ein Gemisch von Kampfstoffen für den chemischen Krieg, ein Vorrat, von dem kaum jemand gewusst hatte, dringt durch die Ritzen in die Häuser, erwischt immer noch Fliehende in ihren Autos, die nicht rollen sondern im Stau stehen. Die Hubschrauber liefern die Bilder vom Unfallort, von den aufgeplatzten Behältern, eindeutig ist die Beschriftung durch die Teleobjektive zu erkennen.
Die Fachleute des Militärs wussten sofort, welches Gift sich in der Innenstadt breitmacht. Sie streiten sich laut über die Wirkung, darüber, wie lange man nicht in die City hineingehen kann. Fahrbare Mess-Stationen sind unterwegs, die Konzentration des Giftes scheint bereits nachzulassen.
Der Bürgermeister muss vor die Presse treten. Aber was soll er den Menschen in Deutschland mitteilen? "Eure Freunde und Verwandten in Berlin sind tot oder liegen im Sterben. Ich war zufällig nicht in der Gefahrenzone, weil ich am Stadtrand einen Freund besucht habe…"
Was kann er der Welt sagen? "Wir hatten Reserven von Kampfstoffen in der Nähe der Stadt, nun ja, leider ist da was schief gegangen…"
Er hat keine Ahnung was er sagen soll, und doch muss er in den nächsten Minuten vor die Mikrophone.
8
Jawohl, Harald ist auf die Beine gekommen. Wer sagt es denn. Er wird es schaffen. Er stolpert den Weg entlang, macht einen Bogen um die Körper, die da liegen. Er will die Gesichter nicht sehen.
Sein Auto steht beim Café am Neuen See. Dorthin muss er sich schleppen. Über die Brücke, die er schon vor sich hatte, bevor - bevor das geschehen ist. Er ist inzwischen überzeugt, Terroristen hätten getan, wovon die Medien schon seit Jahren als Möglichkeit sprachen. 2001 hatten sie Flugzeuge in Gebäude gesteuert, um möglichst viele Menschen zu töten, dann hatte es die Anschläge in Spanien und England gegeben und nun eben massenhaften Tod für die deutsche Hauptstadt. Heute früh hatte Frau Heller im Hausflur gesagt: "Wir sind bisher verschont geblieben, aber wer weiß wie lange noch." Harald hätte eher erwartet, dass in Dänemark etwas passiert, nach all dem Irrsinn, der angeblich wegen ein paar harmloser Karikaturen in Gang gekommen war, aber, wie seine Nachbarin gesagt hatte, "was weiß man schon von den verdrehten Gehirnen der Mohammedaner Nichts. Die haben kein Gehirn, die sind ferngesteuerte Zombies, plappern nach was der Obermufti plappert und binden sich Sprengstoff um den fetten Bauch."
Harald teilt zwar nicht ganz die Meinung seiner Nachbarin, die ihre Informationen vorwiegend aus der BILD und den Privatsendern bezieht, aber von allzu viel Vernunft oder gar Menschlichkeit bei den Islamisten geht auch er nicht aus. Wegen Karikaturen einen Krieg anzetteln - das ist so intelligent wie Flugzeuge in Gebäude steuern oder Bomben in der U-Bahn und in Doppeldeckerbussen zünden. Oder in Berlin Spaziergänger umbringen. Er erinnert sich, was die Nachbarin zum Schluss sagte: "Wir sollten sie zumindest aus unseren Ländern loswerden, statt ihnen Arbeitslosengeld und Wohngeld und Kindergeld und was noch alles in den Hintern zu schaufeln. Wenn ihnen die westliche Welt so zuwider ist, warum verschwinden sie nicht in ihre Wüsten und Einöden?"
Harald steigt vorsichtig über die Leiche eines kleinen Jungen, höchstens vier Jahre alt, der lacht noch im Tod, vermutlich weil seine Eltern ihm gerade ein Eis kaufen. Seit 14 Uhr ungefähr. Der Eiswagen steht noch am gleichen Fleck, die vier Kunden liegen jetzt Schlange, anstatt anzustehen. Der blonde lachende Knirps ist der letzte in der Reihe. Harald schaut weg. Er will die Gesichter nicht mehr betrachten, hat genug gesehen für die nächsten 150 Jahre. "Ich kaufe nur noch dänische Butter, dänischen Käse..." murmelt er, als er an der Brücke angekommen ist. Ein paar Schritte bis zum Auto, fast geschafft.
Doch der Weg ist versperrt. Auf der Brücke liegt eine Familie. Übereinander. Zwei Kinder Hand in Hand, vielleicht acht der Junge und elf die Tochter, der Vater liegt unter ihnen, halb darüber die Mutter. Verschlungen ineinander, umarmt im Tod. Darüber hinwegsteigen? Die Leichen beiseite schieben?
Harald versucht, sich einzureden, es seien irgendwelche Schaufensterpuppen. Er greift zögernd zu. Der Arm der Frau ist kalt, ihr Kopf schlägt mit einem hässlichen Geräusch auf die Holzbohlen, als er den Körper beiseite zu ziehen versucht. Ohne Vorwarnung gibt Haralds Magen wieder grünen, dünnen, stinkenden Schleim von sich, Spritzer landen auf dem weißen Kleid des Mädchens. Er spürt, dass auch in seiner Hose eine weitere Portion dessen landet, was in die Keramikgefäße mit der Wasserspülung gehört hätte.
Er versucht, weiter an der toten Frau zu ziehen. Doch seine Kraft reicht einfach nicht. Also doch darüber hinwegsteigen, denn er muss zum Auto. Oder irgendwo hin. Irgendwie.
Sein Fuß bleibt zwischen den verrenkten Gliedern hängen, er stolpert und landet auf dem toten Mädchen, aus dessen Mund ein Schwall übelriechender Luft entweicht. Es wird wieder schwarz vor seinen Augen.
9
Die Tagesschau beginnt, während Harald in gnädiger Ohnmacht liegt, mit einem Sprecher, der nur mühsam die Fassung bewahrt. Er hat schon manche Schreckenszahlen verlesen müssen, vom Tsunami berichtet, Zahlen von Toten in Pakistan nach dem Erdbeben verlesen, aber das hier ist Berlin, nicht irgend ein Ort weit weg irgendwo auf dem Globus. Mit leicht brüchiger Stimme verliest er die Nachricht, während hinter ihm die ersten Bilder erscheinen.
"In Berlin kam es heute Nachmittag zu einem folgenschweren Unfall..."
Luftaufnahmen. Tausende reglose Gestalten auf den Straßen. Autokolonnen, erstarrt, einige Türen geöffnet. Nicht weit davon entfernt liegen die Fahrer und Passagiere auf den Fahrbahnen.
Schnitt zu den Krankenhäusern. Expertenmeinungen. Der regierende Bürgermeister, der sich seiner Tränen nicht schämt.
Noch immer keine Entwarnung. Zwar habe die Konzentration des Giftgases nachgelassen, aber es sei noch nicht möglich, in die Katastrophenzone vorzudringen. Überlebende dort würde es nicht geben, meinen Militärexperten.
Die Wolke hat sich kaum bewegt, Wilmersdorf ist jetzt auch betroffen, Teile von Treptow, Neukölln und Kreuzberg, aber der Rest der Stadt noch relativ sicher. Natürlich wird jeder evakuiert, so schnell wie möglich. Aber Millionen evakuiert man nicht ohne erhebliche logistische Probleme.
Der Meteorologe ist hoffnungsvoll: Kaum Luftbewegungen in Berlin und Brandenburg. Das mag in all dem Chaos die einzige gute Nachricht des Tages sein.
10
Es ist dunkel. Harald liegt auf vier toten Menschen. Zum Auto will er, zum Auto!
Er rollt sich herab, kommt mühsam auf die Beine, hält sich am Geländer fest und versucht, tief durchzuatmen. Es ist ja nicht mehr weit bis zum Parkplatz.
Immer wieder Hindernisse auf dem Weg, Menschen, Hunde, Fahrräder, aber es gelingt ihm, durchzukommen. Die Autotüre öffnet sich auf den Impuls der Fernbedienung. Die Technik hat also überlebt. Schade, dass so wenige Menschen übrig sind, um Gebrauch davon zu machen. Kann er mit der verschmutzten Kleidung auf den Sitz? Es ist egal, nur weg, wohin auch immer.
Der Motor springt an und die Scheinwerfer zerschneiden die Nacht. Langsam zurücksetzen aus der Parklücke, dann vorwärts. Wenn bloß der Kopf nicht so schmerzen würde.
Er kann doch aber nicht die beiden Menschen überfahren, die da auf der Straße liegen? Sie sind zwar tot, nach allem zu urteilen, was sein widerspenstiger Verstand begreifen mag, aber er kann sie einfach nicht überrollen. Zum Ausweichen ist kein Platz. Er zieht die Handbremse, lässt den Motor laufen, steigt aus.
Eine türkische oder arabische Gestalt, verschleiert. Zumindest muss er kein Gesicht sehen, diese Schleier sind also doch für etwas gut. Er nimmt die Leiche unter den Achseln und zieht sie aus dem Weg. "Schaufensterpuppen..." murmelt er. Dann geht er zum zweiten Körper zurück. Ein Mädchen, vielleicht fünfzehn. Sie trägt ein rotes T-Shirt, BERLIN THUNDER 2006 steht darauf in weißen Lettern. Sie hat Jeans an, die sind nass im Schritt. Das Mädchen stinkt genauso wie er. Harald greift nach den Armen des Mädchens. Erschrocken schreit er auf und zuckt zurück. Die Arme sind warm. Er tritt einen Schritt zurück. Was nun? Was ist hier bloß los?
Da fällt ihm ein, dass das Autoradio funktionieren könnte. Wieso jetzt? Warum nicht beim Einsteigen? Egal. Er geht zum Wagen und drückt auf ON. Jemand berichtet gerade: Die Bundeswehr ist mit Spezialfahrzeugen auf dem Weg, die Streitkräfte helfen mit Sanitätern und Fahrzeugen, natürlich auch mit Helikoptern. Patienten werden ausgeflogen in andere Städte. Reporterteams aus allen Ländern sind auf dem Weg in die Hauptstadt. Die Welt möchte das Entsetzen live in die Stuben geliefert haben und sie bekommt es. Giftgas, hört Harald mehrmals in dem Bericht.
Er geht zurück zu dem Mädchen und legt seine Hand auf die Stirn. Warm. Nicht kalt wie all die anderen Körper. Er fühlt nach ihrem Puls am Handgelenk. Sie schlägt die Augen auf und starrt ihn erschrocken an. "Wer sind sie?" fragt sie, aber sie wartet keine Antwort ab. Stattdessen entleert sich ihr Magen, heißer Schleim spritzt Harald ins Gesicht und auf seine Hände. Sie zittert, holt krampfhaft Luft, will etwas sagen und erbricht wieder. Sie keucht und bringt kein Wort heraus.
Harald hält sie fest, stützt ihren bebenden Körper mit seinen Armen. "Ruhig, Mädchen, es wird alles gut." Ist das nicht ein Hohn? Natürlich. Es ist die platteste Lüge, die er jemals ausgesprochen hat. Was soll denn gut werden? Aber was soll er sonst zu ihr sagen? Hat irgend jemand eine Idee? Nein. Alle sind tot. Nur er nicht. Und das Mädchen, das gerade einen weitern Schwall gelbgrünen Schaum von sich gibt.
Schließlich kommt sie mühsam auf die Beine. Sie sieht sich um und versteht nichts. Ihr Blick fällt auf die verschleierte Frau, die Harald beiseite gezogen hat.
"Zeynep!" ruft sie.
Aber Zeynep lebt nicht mehr. Daran gibt es keinen Zweifel, nicht für ihn und nicht für das Mädchen. Sie weint, will sich nicht von dem leblosen Körper trennen, der einmal ihre beste Freundin war. Harald wartet, schließlich aber führt er sie mit sanfter Gewalt weg. Sie schlägt um sich, brüllt ihn an: "Lass mich in Ruhe, das ist meine Freundin! Lass mich!"
"Du musst ins Krankenhaus, ich auch. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir müssen einen Arzt finden!"
Sie kann sich endlich trennen von der verschleierten Leiche, vielleicht auch nur, weil ihre Kräfte schwinden. Sie lässt sich zum Auto bringen und fällt weinend auf den Sitz.
"Ich heiße Sonja." sagt sie.
11
Um 22 Uhr eine Direktschaltung zum Krisenstab, der in Bonn tagt. Auf einmal ist die frühere Hauptstadt wieder Regierungssitz, wenn auch nur provisorisch. Alle Kanäle senden diese Schaltung, sogar die Privatsender verzichten heute auf ihre Unterhaltungsserien.
"Es ist den Hilfskräften inzwischen möglich, mit schwerem Atemschutzgerät in die betroffenen Stadtteile einzudringen. An der Grunewaldstraße in Schöneberg wurde ein Überlebender gefunden. Er ist kaum ansprechbar, die Ärzte bezeichnen seinen Zustand aber als stabil."
Sicherheitsexperten und Militärsprecher werden befragt, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass ein Fahrzeug mit einer solchen, noch dazu ungesicherten, Ladung, in die Berliner Innenstadt geraten war. Hätten die Behälter nicht viel mehr aushalten müssen als diesen Verkehrsunfall?
Es gibt keine befriedigenden Antworten. Die Mehrzahl der Journalisten vermutet oder unterstellt, dass dies ein Anschlag war, dass das Giftgas zu diesem Zweck in die Innenstadt verbracht wurde. Wer dahinter steckt, ist offen. Offen ist auch, woher das Gift kam. Es hatte mit dem Abzug der Amerikanischen Truppen vor Jahren das Land verlassen. Offiziell zumindest. Die ersten Fragen werden laut, ob wohl noch mehr solche Andenken an den Kalten Krieg im Land versteckt wären.
12
Sonja weint leise, als sie der Übertragung lauscht. Mit Zeynep war sie auf dem Weg gewesen, ihre Familie zum Eisessen im Café zu treffen. Einen Funken Hoffnung will das Mädchen nicht sterben lassen, denn schließlich ist sie selbst am Leben. Vielleicht, nur vielleicht, aber doch immerhin - gibt es eine Immunität, die auch ihre Eltern und ihr kleiner Bruder haben? Harald lebt, Sonja lebt, und laut Radio ein Mann in Schöneberg.
Sie kommen mit dem Auto kaum vorwärts. Immer wieder zwingen verkeilte Fahrzeuge, zurückzufahren und einen anderen Weg zu suchen. Wenn Harald Leichen von der Fahrbahn räumt, bleibt Sonja im Auto und schaut ihm mit weit aufgerissenen Augen zu. Er findet keine Lebenden mehr.
Dann sind sie am Kranzler-Eck. Hier geht es endgültig nicht weiter. Es ist hoffnungslos. Der Ku'damm ist blockiert, sie müssen den Wagen stehen lassen. Tausende Leichen, Hunderte Autos, Lastwagen und Busse.
Harald steigt aus und blickt umher. Wohin will er eigentlich? Im Autoradio hieß es, dass Helfer unterwegs seien. Es war jedoch nicht klar geworden, wo man am schnellsten auf sie treffen konnte. Warum lebt er noch? Warum lebt Sonja? Haben sie gerade nicht tief eingeatmet, als das Gift über sie kam? Haben sie besonderen Abwehrschutz in ihren Körpern? Warum sind sie verschont geblieben - abgesehen vom Kopfschmerz, den vollen Hosen und den Spuren des Erbrochenen auf den Klamotten? Der Hals brennt, ist ausgedörrt.
Sonja klettert aus dem Wagen und sie gehen langsam durch die gespenstische Nacht. Der Verkäufer wird es nicht übel nehmen, wenn die beiden zwei Flachen Mineralwasser aus seinen Beständen entwenden. Er sagt jedenfalls nichts dazu, sondern starrt mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster seiner Imbissbude. Eine Fliege krabbelt über das rechte Auge, das Lid zuckt nicht. Natürlich nicht. Tote Verkäufer spüren so was nicht mehr. Harald schaut weg, aber dieses Bild wird ihn die nächsten Wochen im Traum verfolgen. Eine kleine Fliege krabbelt über einen menschlichen Augapfel und bleibt ungestört.
Er setzt die Flasche an und leert sie in einem Zug. Auch Sonja trinkt gierig. Wie auf Verabredung geben beide Mägen das Getränk in einem Schwall wieder von sich.
"So geht's wohl nicht", meint Sonja, "vielleicht aber mit winzigen Schlückchen?
Wasser ist noch genug das, der Andrang von Kunden ist im Augenblick eher nicht der Rede wert. Zunächst spülen sie den Mund aus, um den widerlichen Geschmack loszuwerden, dann trinken sie in kleinen Portionen. Die Mägen haben wohl dagegen weniger Einwände. Beide nehmen noch je zwei Flaschen in die Hand und gehen dann zögernd weiter in Richtung Gedächtniskirche.
Die Boutique NEW YORKER ist offen. Natürlich ist sie offen, wer hätte sie auch zuschließen sollen? Das Licht brennt, wie überall in dieser toten Stadt.
Erstaunlich, wie schnell das Mädchen mit der Situation fertig wird, denkt Harald, als Sonja zielstrebig den Laden ansteuert und meint: "Ich will mich waschen, ich ziehe mir was anderes an, bevor wir irgendwelchen Hilfskräften begegnen."
Sie steigen über zwei Tote am Eingang. Sonja blickt die Körper misstrauisch an.
"Lass mich nicht allein," bittet sie leise. So weit ist es also mit ihrer Sicherheit doch nicht her, aber Harald ist ja mindestens so froh wie sie, dass er nicht allein durch das Meer von Toten unterwegs ist.
Sonja streift sie das stinkende Hemd über den Kopf, schlüpft aus den Jeans und dem Slip. Hinten in der Boutique, bei den Garderoberäumen für die Angestellten, ist eine Dusche.
"Woher wusstest du von der Dusche?" fragt er sie.
"Meine Mutter arbeitet hier - hat hier gearbeitet."
Ihre Stimme bricht bei den letzten beiden Silben. Sonja hält das Gesicht in den Wasserstrahl und wischt fast wütend die Tränen weg.
Harald sagt nichts, was sollte er auch sagen. Als Sonja sich gesäubert hat entledigt er sich seiner verschmutzten Kleidung und reinigt seinen Körper. Es dauert, bis die Kruste an seinem Hintern aufgeweicht ist. Ihm wird wieder übel von dem Gedanken, dass er sich derart beschmutzt hat, aber er atmet ein paar mal tief durch und bezwingt das Gefühl.
Sonja wartet vor der Dusche, nur ein Handtuch lose um die Hüften gebunden. Für Schamgefühle ist dies nicht der richtige Moment, vielleicht morgen wieder, wenn es ein Morgen geben sollte. Sie traut sich nicht allein in die Verkaufsräume zurück. Sie reicht Harald ein großes Badetuch, das sie aus einem der Spinde geholt haben muss. Dann suchen sie passende Sachen aus, lassen den Gestank ihrer mit Urin und Exkrementen reichlich getränkten Kleidung hinter sich und treten wieder auf die Straße.
13
In mehreren der Fahrzeuge laufen noch die Radios. Autobatterien halten ziemlich lange durch, länger, als Harald vermutet hätte. Sie lehnen sich an einen Volvo und hören zu. Endlich erfahren sie mehr über die Ursache der Katastrophe.
Liebeskummer. "Love is a battlefield", hieß es in einem Song vor ein paar Jahren, aber so war das sicher nicht gemeint. Ein amoklaufender Soldat, der den Lastwagen nahm, um seiner Freundin Angst zu machen: Wenn sie nicht zurückkäme zu ihm, würde er eine Ampulle aus einem der Behälter nehmen und öffnen. Aber bis zu seiner Freundin in der Kantstraße war er nicht gekommen. Ein Bus nahm ihm die Vorfahrt, es kam zum Unfall, die altersschwachen Behälter zerbarsten im Feuer, das sich entzündet hatte. Nun ist seine Freundin zumindest diese Entscheidung los.
Vom Auslöser der Katastrophe erzählt ein Zimmerkamerad des Soldaten aus der Kaserne live im Rundfunk. Er beteuert, er hätte sofort seine Vorgesetzten alarmiert, als der Liebeskranke mit dem Lastwagen voller Gift losgefahren war, aber es sei nichts geschehen, um den Transporter zu stoppen. Niemand hatte ihm geglaubt, dass sein Kamerad mit der tödlichen Fracht unterwegs sei. Es war Wochenende, keiner wollte sich zusätzliche Mühe aufhalsen lassen.
Vielleicht wäre es auch sowieso schon zu spät gewesen…
14
Um 23:56 Uhr sieht Harald Scheinwerfer kommen. Die Retter sind da. Er hatte sich mit Sonja auf den Brunnenrand am Breitscheidtplatz gesetzt, um zu warten. Sie ist in seinem Arm eingeschlafen, er hält sie fest und weint ab und zu ein paar Tränen. Als die Motoren der herannahenden gepanzerten Fahrzeuge lauter werden, wacht sie auf. Sie winken den Rettern zu, als einer der Suchscheinwerfer sie in gleißende Helligkeit taucht.
Wie Außerirdische aus einem billigen Science-Fiction-Film kommen zwei Gestalten aus dem Humvee. Die Schutzausrüstung, die sie tragen, lässt Sonjas Angst wieder aufflammen, sie weint und versteckt sich hinter Harald. Nicht mal die Gesichter der Retter kann man sehen, die Visiere sind verspiegelt. Auch Harald zögert erst. Sind das die Guten oder die Bösen? Dann reißt er sich zusammen, schließlich ist das hier kein Film, sondern das, was von der Berliner City noch übrig ist. Sonja und er folgen den beiden und klettern in das klobige Gefährt.
15
Am Sonntag um 4:00 Uhr beginnen die Aufräumarbeiten. Die vielen Leichen müssen geborgen werden, um die spätere Identifizierung sicher zu stellen.
Man kann jetzt mit leichten Atemschutzmasken in die Stadtmitte, in die Häuser. Gelegentlich wird ein Überlebender gefunden, die Symptome sind bei allen gleich: Starker Kopfschmerz, Erbrechen, Ohnmachtsanfälle und volle Hosen.
16
Harald plant, eine Woche später, sein neues Leben. Noch ist er in Frankfurt am Main in der Bundeswehrklinik, aber der Arzt sagte heute Morgen, dass er voraussichtlich am nächsten Tag entlassen werden könnte.
Sonja wartet auf ihn in dem kleinen Krankenhauscafé. Sie hat niemanden mehr, das Gas hat ihre Familie ausgelöscht. Haralds Verwandte in Bayern sind bereit, ihn und das Mädchen einstweilen in ihr geräumiges Haus aufzunehmen. Nach Berlin möchte er nicht mehr zurück. Seinen Arbeitgeber gibt es nicht mehr, die paar Möbel und Wertsachen aus seiner Wohnung kann er sich bringen lassen.
17
Im Pentagon werten Wissenschaftler die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen aus. Es gibt eine Menge Hausaufgaben, denn was soll man mit einem Giftgas anfangen, dem Teile der Bevölkerung einfach so widerstehen können?

Eingereicht am 14. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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