Der Mann ohne Kopf
© Ralf Bruggmann
Eines Tages verlor ein Mann seinen Kopf. Er war einfach nicht mehr da, sass nicht mehr auf seinem Hals, wo er doch eigentlich sein sollte. Bereits beim Erwachen am Morgen fiel ihm sein Verlust auf, als es ihm nicht gelang, seine Augen zu öffnen. Erst dachte er, ein Traum halte ihn noch umklammert. Doch nachdem die erste nächtliche Benommenheit von ihm gewichen war, tastete er nach seinem Kopf und griff ins Leere.
Nun lebte er schon einige Jahre in seiner Wohnung, darum war ihm der Weg zur Toilette wohl bekannt und er brauchte dazu kein Augenlicht. Er entleerte seine Blase, die sich über Nacht stark angefüllt hatte. Ob er seiner Zielgenauigkeit vertrauen konnte, wusste er freilich nicht. Er sah nicht, wohin der Strahl führte, er hörte kein vertrautes Plätschern. Vorsichtig schob er ein Bein nach vorne, und schnell berührte es das kalte Porzellan der Toilettenschüssel. Weit daneben konnte seine Position also nicht sein.
Die neue Situation brachte seine morgendlichen Rituale gehörig durcheinander. Um richtig wach zu werden, pflegte er sein Gesicht mit kaltem Wasser zu erschrecken, doch nun war da kein Gesicht mehr, das erschreckt werden wollte. Auch die Zigarette, mit welcher er jeweils den Tag begrüsste, konnte er nicht mehr rauchen. Immer mehr Tätigkeiten tauchten auf, für deren Verrichtung man einen Kopf brauchte. Die Rasur wurde hinfällig, das Shampoo verlor seinen Wert, und es galt auch keine Zähne mehr zu putzen. Während
er diese Dinge nicht sonderlich vermisste, da er sie bisher nicht allzu gerne getan hatte, fiel ihm der Verzicht auf das Frühstück ungleich schwerer.
Mit knurrendem Magen und einiger Mühe gelang es ihm, sich anzukleiden, ohne genau zu wissen, womit. Er hatte seinen Anblick im Spiegel noch nie leiden können, doch nun vermisste er ihn irgendwie.
Wie der Mann seine Wohnung verliess, erhielt der Verlust seines Kopfes eine völlig neue Dimension. Hatte er sich zuvor noch in einem ihm vertrauten Umfeld bewegt, erwartete ihn vor der Türe des Hauses eine seltsame Fremde. Unzählige Male hatte sich sein Blick schon auf die nahen Gebäude geheftet, auf die Zäune, die Strasse, den Bürgersteig. Doch nun büssten diese Dinge ihre Form und Gestalt ein. Er versuchte, sie sich vorzustellen, doch es gelang ihm nicht, sie in Gedanken neu zu erschaffen. Zum ersten Mal fühlte
er sich verloren.
Eigentlich wollte er seinen täglichen Spaziergang absolvieren. Seit er seine Arbeit verloren hatte, ging er jeden Morgen durch die Gassen der Stadt, vorbei an den Häusern, den Schaufenstern, den Menschen. Er brauchte diese Routine, diese feste Grösse in seinem Leben, sonst hätte ihm die Leere der Arbeitslosigkeit noch mehr Angst bereitet.
Doch nun, da er keinen Kopf mehr besass, wurde ihm seine gewohnte Schlenderei unmöglich. Er war sich zwar relativ sicher, dass er sich dennoch hätte orientieren können, schliesslich war ihm sein Weg nur allzu bekannt. Aber er befürchtete, er könnte sich verlieren und sein Heim nicht mehr finden. Nur wenige Meter von der Haustüre entfernt kehrte er der neuen Fremde der Welt bereits wieder den Rücken zu und begab sich zurück in seine Wohnung, zurück in den spärlichen Rest von Vertrautheit, der ihm noch geblieben
war.
Da er ohne Kopf weder essen noch trinken konnte, glaubte er, verhungern und verdursten zu müssen. Doch seltsamerweise schien sich sein Körper der neuen Situation schneller anpassen zu können als sein Geist, denn schon nach wenigen Tagen war das Verlangen nach Nahrung verschwunden. Der Verlust der Atmung wurde dem Mann erst nach einiger Zeit bewusst, und er wunderte sich, warum die Dinge, die für das Leben eigentlich Voraussetzung sind, plötzlich jede Relevanz und Notwendigkeit verloren hatten.
Langsam gab er die Hoffnung auf, sein Kopf könnte eines Morgens wieder auf seinem Hals sitzen. Auch die Fragezeichen, was eigentlich geschehen war, verblassten. Obwohl er zu Beginn nicht daran geglaubt hatte, setzte nach und nach ein Effekt der Gewöhnung ein. Er liess sein neues Wesen, sein neues Leben zu, ohne sich jedoch tatsächlich damit abfinden oder gar anfreunden zu können.
Nach der ersten Verwirrung verschoben sich seine Gedankengänge zusehends. Der Verlust der Sinne und Wahrnehmungen, die einen Kopf voraussetzen, raubte ihm unzählige Inhalte seines bisherigen Lebens. Alles verlor seine Bedeutung, die Arbeit, das Geld, jegliche Optik und Akustik, jeder Geruch und Geschmack. Er war aus der Gesellschaft gekippt, doch ungleich schlimmer war der Wegfall von Freundschaften und Familienbanden. Oft fragte er sich, ob ihn jemand vermisste, wie häufig wohl seine Mutter bereits das Telefon
hatte klingeln lassen und sich nun immer grössere Sorgen machte. Er erinnerte sich an unzählige Ereignisse und Erlebnisse, an all jene Menschen, die sein Leben bis anhin bereichert hatten. Nun waren sie weg, sie fehlten, und er konnte nicht einmal weinen.
Was ihm in der Realität verwehrt blieb, gelang in seinen Träumen. Im Schlaf kehrte er in sein ursprüngliches Leben zurück. Die Normalität, die ihm früher oft nicht sonderlich behagte, begrüsste er wie einen guten alten Freund, er umarmte sie. Die erträumte Welt gestaltete er in grösster Perfektion, erschuf ein Paradies, das er nur betreten konnte, wenn er die tägliche Hölle verliess.
Schliesslich waren es diese Träume, die ihn zerbrechen liessen. Immer grösser wurde der Kontrast zwischen der Schönheit der Illusionen, in die er sich flüchtete, und der Leere der Wirklichkeit. Jeden Morgen, wenn er erwachte, starb er und wurde erst beim Einschlafen wieder geboren. Die täglichen Tode quälten und schmerzten ihn, doch noch schlimmer war das Leben zwischen dem Sterben und der Geburt. Hatte er früher nicht an ein Existieren nach dem Tod geglaubt, durchlebte er diese Pein nun jeden Tag. Als er sich
dann entschloss, dem morgendlichen Sterben keine neue Geburt folgen zu lassen, fühlte er sich seltsam leicht. Bevor seine letzte Flucht unwiderruflich zu Ende ging, tastete er noch einmal nach seinem Kopf. Tatsächlich war er wieder da, war wieder zurückgekehrt. Doch es gelang ihm nicht mehr, seine Augen zu öffnen, er hatte vergessen, wie es funktionierte. Er spürte noch ein leichtes Nicken, den bitteren Abschiedsgruss seines Kopfes.
Eingereicht am 08. Januar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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