Der Mann im schwarzen Parka
© Marina Klose
Der Mann im schwarzen Parka hob die Hand. Wortlos ergriff der bullige Barkeeper sein Glas und füllte es erneut mit einer braunen Flüssigkeit.
In der Kneipe war es dunkel und stickig. Eine beißende Mischung aus Schweißgeruch und Zigarettenrauch waberte durch den engen Raum und ließ die ohnehin schon drückende Atmosphäre noch depressiver erscheinen.
Niemand sprach.
Es war bereits in den frühen Morgenstunden. Da hielten sich in einer Kneipe wie dieser nur noch jene Gestalten auf, die dem Leben nichts mehr zu sagen hatten.
Der Mann im schwarzen Parka war einer von ihnen.
Umstandslos kippte er sich den Hochprozentigen in den Rachen und zog die Mundwinkel nach unten. Dann ließ er seinen Blick durch den düsteren Raum wandern.
Der Typ neben ihm hatte seinen Kopf, das Gesicht nach unten, auf den Tresen gelegt. Es war nicht auszumachen ob er wach war oder ob er überhaupt noch lebte.
Im hinteren Bereich der Bar blätterte eine Frau Mitte Vierzig mit glasigem Blick in einem Stapel Unterlagen. Bei näherem Hinsehen erkannte der Mann im schwarzen Parka die Tränen in ihrem Gesicht.
Er wandte sich ab.
Was kümmerten ihn die Probleme anderer?
Er hatte seine eigenen.
Aber er würde nicht herumsitzen und heulen.
Er würde handeln.
Er würde sich zurückholen, was man ihm genommen hatte.
Heute!
Der Mann im schwarzen Parka griff in seine Jackentasche und zog ein paar zerknitterte Geldscheine heraus.
Dabei berührten seine Fingerspitzen das kühle Metall.
Seine Augen blitzten.
Ja, man hatte ihm etwas geraubt, doch bald würde er es wiederhaben.
Er legte das Geld auf den Tresen, zog sich seine schwarze Kappe tief ins Gesicht und verließ die Bar.
Draußen war es noch dunkel. Nur wenige Menschen waren unterwegs.
Der Mann im schwarzen Parka ging langsam die Straße entlang. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und seine Finger umschlossen den kalten Lauf der Waffe. Sein Weg führte ihn ins Zentrum der Stadt. Dort würde er sein Vorhaben wahr machen.
Eine halbe Stunde später hatte der Mann im schwarzen Parka sein Ziel erreicht.
Er blieb stehen, griff in den dunklen Baumwollstoff seiner Mütze und zog sie sich vom Kopf.
"Hallo, mein Schätzchen", sagte er zärtlich.
An dem Grabstein aus weißem Marmor lehnte in einem schmalen Goldrahmen ein Bild seiner Tochter.
Der Mann im schwarzen Parka ließ sich auf die Knie sinken und berührte mit den Fingerspitzen leicht das kühle Glas.
"Bald sind wir wieder zusammen, mein Engel", sprach er leise.
Eingereicht am 20. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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