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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Zwei Arten von Tod

© Christian Stöckmann


An diesem Abend war bereits von 120.000 Toten die Rede gewesen. Er hatte es genau verfolgt, oder es hatte ihn verfolgt, wie man es nahm. Es hatte am zweiten Weihnachtstag mit einer Einblendung am unteren Bildschirmrand begonnen. 6000 Tote bei Seebeben in Südasien während eines Spielfilms an den er sich jetzt, nur vier Tage später nicht mehr erinnerte. Auf der Fahrt zur Weihnachtsfeier mit Feuerzangenbowle bei seinem besten Freund hatte man im Radio von 7500 Toten gesprochen und zwölf Stunden später bereits von über 10.000. Die Zeitungs- und Fernsehberichte überschlugen sich und innerhalb von drei Tagen war die Anzahl toter Menschen über 40.000 auf 60.000 und von 60.000 auf 80.000 gestiegen. Das war die Zahl die heute Morgen in dicken tiefschwarzen Buchstaben auf der Titelseite gestanden hatte. Zusammen mit Fotos von Strandabschnitten, übersät mit Abfällen und aufgequollenen Wasserleichen. Mit Fotos von Leichenhallen bei Temperaturen von 35 Grad und Menschen mit Atemmasken, umherirrend und nach ganzen Familien suchend.
Die Flutwelle war über zwei Kilometer ins Landesinnere gestoßen und hatte gefressen was ihr in den Weg gekommen war. In Indonesien hatte sie eine ganze Provinz, ein ganzes Volk von 50.000 Menschen ausradiert. Ganze Landstriche standen davor in Seuchen und Chaos zu versinken und überall auf der Welt waren Rettungs- und Hilfsaktionen im Gang, nur er war untätig, so kam es ihm zumindest vor. Er hatte den Tag in seinem Taxi verbracht und sich das Bedauern der Menschen über diese Katastrophe anhören müssen.
"Schlimm, was da passiert ist, oder?"
"Ja, schlimm."
"Die armen Menschen, haben jetzt gar nichts mehr."
"Ja, die armen Menschen."
"Die brauchen doch Jahre, bis das alles wieder in Ordnung ist."
"Ja, bestimmt."
"…und das Wetter soll auch an Silvester nicht besser werden."
"..und wenn ich dann diese Arschlöcher höre die sich darüber beschweren dass sie seit Tagen keinen Service mehr kriegen und keine sauberen Pool haben dann geht mir doch alles hoch! Die müsste man in die Bergungstrupps prügeln!"
"Da haben sie Recht."
Am Bahnhof hatten drei kleine Mädchen indischer Herkunft schüchtern an seine Scheibe geklopft und um eine Spende gebeten. Sie hatten Button mit Abkürzungen getragen, die er nicht kannte und er hatte beobachtet wie oft sie vorher am Eingang des Bahnhofs abgewiesen worden waren. Er gab ihnen das Trinkgeld, das er bis dahin eingefahren hatte und sah ihnen nach während sie von Wagen zu Wagen gingen. Einige der türkischen Fahrer in ihren Kastenwagen ließen nicht einmal die Scheiben runter. Er dachte unweigerlich an das Erdbeben in der Türkei zurück.
Jetzt war es Abend und in den Nachrichten sprachen sie von 120.000 Opfern.
Er fuhr durch die Straße, durch die er jeden Abend, durch die er mehrmals am Tag fuhr wenn er frei hatte und unter ihrem Fenster wurde er langsamer und sah hoch. Er sah den Jungen am Schreibtisch sitzen und das Mädchen hinter ihm. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals gelegt und lächelte ihn über seine Schulter an. Das Licht im Zimmer war warm und draußen auf der Straße war es nass und dunkel und eine leere Einsamkeit durchfuhr ihn. Da wo du niemals sein wirst, dachte er. Jetzt lag es auf einmal klar vor seinen Augen. Da, wo du niemals in deinem ganzen Leben sein wirst. Seit Jahren liebte er die Schwester des Mädchens, ihre Familie und alles was mit ihr zu tun hatte doch sie hatte ihn abgewiesen und nur diese Straße und dauernde Abfahren dieser Straße war ihm geblieben. Diese Straße hatte ihm das Herz gebrochen und er fuhr weiter, das Bild der beiden in ihrem Zimmer in seinem Kopf. Am Ende der Straße kam ihm ihr Wagen entgegen. Es war jetzt gegen halb sieben und sie kam von der Arbeit nach Hause. Sie sah ihn während sie abbog. Durch ihr Gesicht im Halbdunklen des Autos zog sich ein kurzes und höfliches Lächeln. Ihr Arm hob sich und im Vorbeifahren winkte sie ihm zu, wie man einem flüchtigen Bekannten zuwinken musste um ihm zu zeigen, das er gesehen worden war, das er sich aber nicht einfallen lassen sollte zu halten um ein paar Takte zu wechseln. Nur ein kurzes Winken, gerade so, das es genug war.
Er liebte sie über alles hinaus und er konnte es ihr nicht sagen, aus Angst dieses Winken und dieses flüchtige Lächeln auf dieser schmerzhaften Straße zu verlieren, denn das war alles was er hatte wenn das Glück mit ihm war und er sie zu sehen bekam. Da, wo du niemals sein wirst, dachte er. Die ruhenden Tränen in seinen Augen ließen die Straße vor ihm verschwimmen. Er hatte an diesem Tag zweimal weinen müssen. Über 120.000 tote Menschen und über den Tod, den er jedes Mal starb, wenn er die Straße runter fuhr.



Eingereicht am 23. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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