Gedanken
© Rudolf Jagusch
Ich sitze hier in meiner Kajüte im fahlen Licht der aufgehenden Sonne.
Selbstzweifel quälen mich. Werde ich den Weg finden? Wir sind jetzt nun schon neun Monate unterwegs und haben dabei das Cap der guten Hoffnung, welches mein Freund Bartolomeu Diaz bereits vor einiger Zeit umsegelt hatte, lange hinter uns gelassen. So weit wie wir ist bisher kein Portugiese jemals gesegelt. Mit der Entfernung zur Heimat steigt auch die Unzufriedenheit der Mannschaft. Ich kann dies verstehen. Viele haben Familie und sehnen sich an den heimischen Herd zurück.
Mein treues Schiff, die 'Sao Gabriel', schaukelt leicht in der Dünung. Ich habe die Segel einholen lassen, denn heute stehen die Bestrafungen an.
Gott! Wie ich diese Tage hasse!
Es sind alles gute Matrosen, jeder einzelne von ihnen, und die Vergehen sind eher von bescheidener Natur. Aber wenn ich diese Missstände nicht bereits im Keim ersticke, erwächst daraus schnell eine Meuterei. Vor wenigen Minuten haben meine Offiziere die Mannschaft antreten lassen. Gerade beginnt der Trommler mit seinem Stakkato. Die ansonsten vertrauten Geräusche im Schiff sind verstummt, keine Befehle grellen mehr übers Deck, das Lachen, Grölen und Fluchen der Männer ist verhallt.
Ich fühle mich so einsam. Mit niemandem kann ich meine Verantwortung teilen.
Ich muss Distanz wahren, um mit dieser Unnahbarkeit meine Autorität aufrecht zu erhalten. Die Mannschaft schaut zu mir auf wie zu ihrem Gott. Sie vertrauen mir und darauf basiert die ganze Disziplin. Ein Zögern nur im falschen Moment und das ganze Unternehmen wäre dem Untergang geweiht. Sie würden es bemerken und anfangen, hinter meinem Rücken zu reden.
Ein Sonnenstrahl dringt durch das Backbordfenster und lässt meinen Wein im Glas vor mir blutrot aufleuchten. Blutrot! Wie viel Blut wird auf dieser Reise noch vergossen werden? Wie viele Kinder werden ihre Väter nicht wieder sehen? Verflucht, ich muss diese Gedanken beiseite schieben. Ich kann nur mein Bestes tun und den Rest in Gottes Hand legen. Beherzt greife ich zu dem Glas und gieße den Inhalt in einem Zug hinunter. Gerade als ich meine Mundwinkel mit einem Tuch ausputze, klopft es an der Tür.
Mit einem barschen "Ja" fordere ich zum Eintritt auf.
Die Tür schwingt auf und herein kommt mein erster Offizier d'Albuquerque:
"Capitan, die Mannschaft ist bereit."
"Danke, ich komme gleich."
Mit einem Wink erlaube ich ihm zu gehen.
D'Albuquerque verbeugt sich und schließt die Türe hinter sich. Ich stehe auf und gehe zum Logbuch hinüber, welches auf einem Pult nahe beim Backbordfenster steht. Es ist bereits an der richtigen Stelle aufgeschlagen und ich schreibe mit meiner schwungvollen Schrift:
'Die Mannschaft steht zur Bestrafung bereit. Die Matrosen Furio und Columbo erhalten je zehn Peitschenhiebe. Sie haben nicht die vorgeschriebene Menge an Wasser zu sich genommen, nur weil es etwas brackig war. Ansonsten keine weiteren Vorkommnisse.'
Und in der Spalte 'Eintrag von' ergänze ich: 'Der Capitan, im Jahre des Herrn 1497, 24. November, Vasco da Gama'
Eingereicht am 10. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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