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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Nicolas wundersame Himmelfahrt   Versuch einer Novelle

© Ulrich Rakoún


"Ni - co - la!", ertönte die Stimme der Mutter lautstark über das gesamte Haus, schlich sich dann unsanft durch die im Erdgeschoss liegenden Zimmer bis hinauf in das alte und nach frischem Bohnerwachs riechende Treppenhaus und wieder geradewegs hinunter durch die mit dickem Eichenholz verkleidete Kellertür, aber dann nur noch für wenige Stufen die Kellertreppe hinunter, wo sie auf den Kater Frederico traf und sich deshalb gleich wieder auf den Weg nach oben in Richtung Küche, Wohnzimmer und überdachter, nach allen Seiten verglaster Veranda machte, um dort auf ihr Ziel, nämlich einen kleinen Jungen im Alter von sieben, nein ganz genau sieben und dreiviertel Jahren zu stoßen, der seine Nasenspitze ganz fest gegen die vereiste Fensterscheibe gepresst hielt, vielleicht um auf diese Weise den Versuch zu unternehmen, die sich an der Außenseite des Glases gebildeten Eiskristalle einzufangen, festzuhalten oder einfach nur zu zerdrücken oder vielleicht auch, um den zwei im Vorgarten des Hauses an einem Tannenbaum hochkletternden Eichhörnchen zu verstehen zu geben, dass es ihn auch noch gab und er gerne draußen bei den Tieren im Schnee gewesen wäre, was er sich jedoch als ein artiger Junge nicht zu tun gewagt hätte.
Sei es wie es sei oder wie auch immer. Die Mama hatte mal wieder im unpassenden Moment gerufen, und ein kleiner Junge, von dem schon erwartet wurde, dass er sich wie ein ganz großer verhalten sollte, der immer sofort auf die Rufe der Erwachsenen reagiert, zuckte etwas erschrocken zusammen, in der Vorahnung, dass das laute Ausrufen seines Namens diesmal bestimmt nichts Gutes zu bedeuten hatte. Sicherlich gab es wieder irgendeine unangenehme Aufgabe oder Arbeit, die die Mutter für ihn bereithielt und die ihn von der Freude, die der Augenblick mit sich brachte, nämlich den Eichhörnchen und den sich fortwährend neu bildenden, verzauberten, ihn beinahe am Atmen hindernden Eiskristallen an einer halbgefrorenen Fensterscheibe vor einem weiß verschneiten winterlichen Garten, seinem manchmal beobachteten und ein anderes Mal nur erträumten "Winter-Garten" zuzuschauen, trennen konnte. Dies ganz sicher bald würde. Es hatte schon so lange keinen so schönen, weißen Winter mehr in Bologna gegeben, und andere Jungen in seinem Alter waren längst mit dem Schlitten unterwegs oder vertrieben sich die Zeit mit irgendwelchen Spielen im Schnee - wie zum Beispiel einen Schneemann bauen. Nicola aber hatte immer irgendeine wichtige, ihm manchmal lästig erscheinende Aufgabe für die Mutter, die seit über einem Jahr Witwe war, zu erledigen. Er und seine ältere Schwester Marcella halfen der Mama in allen ihren häuslichen Aufgaben, so gut es eben ging. So gut, wie man es von kleinen Kindern in diesem Alter schon erwarten konnte. Einem Jungen von sieben und einem Mädchen von zehn Jahren.
"Nicola, wo steckt der Bengel bloß wieder," ertönte die jetzt schon etwas bedrohlicher klingende Stimme der Mutter, die sich immer näher anhörte, bis sie den Kleinen endgültig in Geist und Seele erreichte, wobei sie den Körper jedoch zuerst noch ganz behutsam ausklammerte. Ihn von der verzaubernden Wirkung des winterlichen Vorgartens unfreiwillig befreite - dabei die Kinderseele ihren allzu schönen Tagträumen entriss und in die weniger angenehme Seite der Alltagsrealität eines norditalienischen Wintertages versetzte. Nein, besser gesagt zurückbeförderte! Vor allem von seinen geliebten Tieren entzweite, ihrem Spiel auf den Ästen einer großen im Winter verschneiten Tanne im Vorgarten seines Elternhauses.
"Nicola, habe ich dir nicht schon so oft gesagt, dass du sofort antworten sollst, wenn ich rufe! Du weißt doch, dass mir jedes Wort schwer fällt, seitdem der Papa nicht mehr da ist und ich alles mit euch beiden Kleinen allein schaffen muss. Wenn deine Schwester und du mir nicht helft, lebe ich bestimmt nicht mehr lange, und dann seid ihr beide ganz alleine und müsst entweder zu Tante Sophia oder in ein Waisenhaus." Wieder hatte die Mama das mit der Tante und dem Waisenhaus gesagt, dachte Nicola verärgert. Aber wenn schon ohne die Mama weiterleben, dann lieber in einem Waisenhaus und nicht bei der bösen Tante Sophia, die Kinder absolut und ganz und gar nicht ausstehen konnte und die selber deshalb auch niemals Kinder bekommen hatte. Nein, Marcella und er würden lieber in ein Heim für Kinder ohne Eltern gehen, wenn die Mutter nicht mehr leben sollte. Das wäre für sie beide sicherlich die bessere Lösung. Ganz gewiss und bestimmt sogar!
"Hier bin ich doch, Mama", rief der Junge viel zu laut, weil die Mutter jetzt beinahe hinter ihm stand und erschrocken von der hohen mädchenhaften Kinderstimme ihres Kleinen, die das Stadium des Stimmbruchs noch nicht ganz erreicht hatte, in sich zusammenzuckte. "Ich habe doch nur einen Moment lang den Eichhörnchen beim Spielen zugesehen. Was gibt es denn so wichtiges zu tun. Soll ich einkaufen gehen, Mama?" "Aber nein, mein Junge, sagte die Mutter jetzt ganz liebevoll, mit einem fast schon zärtlichen Unterton, den Nicola bei seiner Mutter so sehr liebte und den er seit dem Tod seines Vaters Umberto manchmal bei ihr vermisste, weil die Mama oft traurig und deprimiert und dann gar nicht in Stimmung war, besonders freundlich und liebenswürdig gegenüber ihren Kindern zu sein.
"Nein, Nicola nicht einkaufen, du sollst mir lediglich ein Glas mit Kompott aus dem Keller holen, das ich im letzten Herbst eingekocht habe, damit wir heute etwas zum Nachtisch haben. Geh nur schnell hinunter, dann können wir gleich essen, und du kannst draußen mit den anderen Kindern im Schnee spielen. Du magst doch den Schnee so sehr, dass du es stundenlang in der Kälte draußen aushalten kannst. Nimm Marcella nur mit, dann könnt ihr ja zusammen mit dem Schlitten fahren oder einen schönen Schneemann bauen. Das macht deiner Schwester bestimmt auch viel Freude. Aber jetzt geh nur schnell und hol deiner Mutter den Kompott und dann kommt beide gleich zum Essen in die Küche."
Nicola eilte geschwind aus dem eben noch warmen Verandazimmer durch das besser beheizte Wohnzimmer in den Flur, von wo aus die Treppe zum Keller hinab ging, dann die Kellerstufen hinunter bis er in einem langen dunklen Raum mit vielen Regalen ankam, auf denen sich eine beträchtliche Anzahl an großen und kleinen, grünen und braunen Gläsern und Flaschen befand, die alle fein säuberlich mit einem Etikett versehen waren, auf dem die Mutter das Datum des Einkochens und den Inhalt genau vermerkt hatte. Der Lichtschalter war für den fast schon achtjährigen Jungen immer schon etwas zu hoch an der Wand angebracht gewesen, so dass er erst auf eine Kiste steigen musste, um das Licht anknipsen zu können und damit der einzigen nackten Glühbirne in dem Raum zum Leuchten zu verhelfen. Und in die unheimlich anmutende Dunkelheit einen schwachen Lichtschein zu werfen. Was hatte die Mutter gesagt? Immer das Glas mit dem ältesten Datum darauf nehmen, versuchte sie ihm oft einzuschärfen, damit nichts von den guten Sachen verfallen konnte, und so suchte Nicola, der seine Kiste zum drauf steigen bereits vor die Regale gestellt hatte, gewissenhaft die Regale ab, wobei er mit den am höchsten gelegenen anfing, weil er wusste, dass die Mutter hier meistens die früher eingemachten Gläser aufbewahrte. Ein Glas Birnenkompott, hier war es ja schon, aus dem August 1934. Ja, das hatte die Mutter noch vor dem Tod des Vaters eingemacht, und niemand hatte bisher daran gedacht, es aus dem Keller nach oben zu holen und seinen Inhalt zu essen. Vielleicht hätte der Papa noch davon gegessen, aber der war ja nun bei dem lieben Gott, wie die Mutter ihren Kleinen immer wieder am Abend vor dem zu Bett gehen erzählt hatte, nachdem ihr Papa eines Abends nicht mehr aus der Fabrik, wo er als erster Ingenieur beschäftigt gewesen war, nach Hause zurückkehrte.
Der Papa hätte einen furchtbaren Unfall gehabt und sei von einem hohen Gerüst gestürzt. Ja, das war die ganze schlimme Geschichte gewesen. Und dann mussten er, Marcella und die Mama ganz in Schwarz gekleidet hinter einem schwarzen Kasten hinterher gehen, den man bald langsam in die Erde hinunterließ. Die Mama hatte jedem ihrer Kinder noch eine Blume in die Hand gegeben, die sie auf den Kasten werfen sollten, und danach wurde Erde auf das Holz geworfen und das Loch wieder zugeschüttet. Da es inzwischen zu regnen angefangen war, hatten die Erwachsenen nach einer kurzen Zeit der andächtigen Besinnung und des Weinens am Grab beschlossen, sich langsam unter den kilometerlang, sich durch ganz Bologna hinziehenden Arkaden, auf den Heimweg zu machen und waren dabei noch in einer Osteria eingekehrt, um einen "Caffè corretto" zum Aufwärmen zu trinken und sich ein wenig über den gestorbenen Vater zu unterhalten. Dann waren sie auf dem Rückweg an den beiden Zwillingstürmen, dem recht schiefen und kleineren Torre Garisenda, der mal wieder mit gekrümmtem Hals in die Kochtöpfe der Stadt hineinschnupperte und dem etwas größeren Torre Asinelli, von dem aus man an guten Tagen die Alpen sehen konnte, an der Piazza di Porta Ravegnana vorbeigegangen, um Tante Sophia nach Hause zu bringen. Danach fuhren die Mama, Nicola und Marcella den Rest des Weges mit dem Taxi nach Hause, weil alle schon sehr müde und abgespannt nach der Beerdigung gewesen waren und sich die Mama gleich ins Bett legen wollte. Ja, so hatte es sich vor über einem Jahr zugetragen, und der Papa war seit diesem Tag nicht mehr bei ihnen gewesen, weil er in dem Kasten, den die Mutter Sarg nannte, tief unter der Erde liegen sollte. Seine Seele aber sei beim lieben Gott im Himmel, hatte die Mama immer wieder ihren Kindern erklärt, denn der Papa sei stets ein guter Mensch gewesen, der niemandem etwas Böses getan oder gewünscht habe. Danach hatte die Mama dann manchmal stundenlang geweint, bis ihre Augen schon ganz rot gewesen waren und verbrachte ein paar Male sogar den ganzen Tag im Bett, so dass eine Nachbarsfrau für die Kinder und die Mama das Essen kochten musste.
Ja, das mit dem Tod des Papas war nun schon ein ganzes Jahr oder etwas länger her, denn es war noch Herbst gewesen, und der Papa hatte mit der Mama und den beiden Kindern gegen Ende September noch eine schöne Fahrt durch ihre italienische Heimatregion - die Emilia Romagna gemacht. Ja man nennt uns den Bauch Italiens und wir als Bologneser wohnen sogar noch mittendrin, fügte die Mama scherzhaft hinzu. Sie waren mit der Bahn bis nach Parma gefahren, woher die Mama stammte und hatten dort ihren Bruder und ihre Tante besucht, denn die Eltern der Mama waren schon beide tot. Der Papa hatte auch schöne Ausflüge von Parma aus mit ihnen unternommen, wie den zum Castello di Torrechiara, das auf einem Hügel südlich von Parma erhaben und fast schon majestätisch über die Landschaft schaute, und sie hatten förmlich im gold, gelb und rot der Blätter baden können, denn die Landschaft sei ihnen wie ein einziges buntes Farbenmeer vorgekommen. Ja, eine Symphonie von Farben hatte der Papa noch gemeint, aber Nicola hatte sich unter einer Symphonie noch nichts Richtiges vorstellen können und deshalb den Papa um eine Übersetzung des fremdartig klingenden und mysteriös anmutenden Begriffes gebeten. Eine Symphonie sei an sich ein Begriff aus der Musik, hatte der Papa dazu gemeint und bedeute so viel wie Einklang oder Zusammenstimmen. Man könne ihn gelegentlich aber auch für andere Bereiche verwenden, wie etwa für Farben oder sogar Gerüche. Auch den neuen Veilchenduft der Mutter, "La Vera Violetta di Parma", das der Papa gerade für die Mama in Parma gekauft hatte, ließe sich gut auf den Namen "Sinfonia" taufen, denn es roch wie eine Symphonie von hunderten von Blumen und Blüten, die ihren wundervollen Duft an alle Lebewesen in der Natur spendeten.
Ja, die wunderschöne Landschaft hatte die ganze Familie in ihren Bann gezogen und auf eine seltsame, fast schon traurig anmutende Weise verzaubert, denn man konnte in ihr schon erkennen, wie alles Leben in der Natur allmählich im Herbst seinem Tod entgegen ging, um irgendwann, nach dem allmählich sich ankündigenden Winter, wieder von neuem zu erwachen. Aber der Papa war auch gestorben und würde trotzdem nicht wieder zu neuem Leben erwachen so wie die Bäume draußen in der Natur, die ihre bunten Blätter auf den Boden fallen ließen. Die ganze herrliche Farbenpracht musste danach zusammengeharkt und auf einen großen Haufen geworfen werden, wo man sie verbrennen würde. Das hatte Nicola im letzten Herbst im Garten seines Elternhauses mit angesehen, als der Vater die abgefallenen Blätter und trockene Zweige und Äste zusammensuchte und verbrannte, wobei die Kinder ihm nach besten Kräften halfen.
Somit musste dann wohl auch die alte Symphonie sterben, überlegte Nicola nicht lange, und Gott würde für das nächste Jahr eine neue komponieren müssen mit ganz neuen Noten und Versen darin. Ja, und dieses neue Jahr war nun gekommen, und die Mama, Marcella und er, der kleine Nicola hatten die schöne Musik, die neue Symphonie draußen ganz ohne den Papa hören müssen, der ja nun in dem Holzkasten tief unter der Erde lag. Die Mutter war in diesem Jahr im Herbst nicht wieder zu ihrem Bruder und ihrer Tante nach Parma gefahren, aber sie hatte viele lange Spaziergänge durch die schönen Parkanlagen von Bologna mit ihren Kindern unternommen. Und Nicola öffnete seine Augen und Ohren, um keinen der zauberhaften Klänge der Natur, die der Papa den Kindern auf so eindrucksvolle Weise näher zu bringen versucht hatte, zu verpassen. Jetzt erst wo der Papa nicht mehr da war, konnte er mit seinem kleinen Kinderverstand die Musik richtig verstehen. Das Leben musste sterben, um wieder neu zu werden - das war die ganze Botschaft der Symphonie gewesen. Das war es, was der Papa seinem kleinen Jungen hatte sagen und vermitteln wollen. Mit - t - eilen wollen. Mit auf den Weg seines Lebens hatte geben wollen. Und Nicola verstand mehr und mehr, was die Noten auf der Tonleiter für ihn und sein Leben bedeuteten.
Vielleicht hatte der Papa schon etwas von seinem frühen Tod geahnt und sich deshalb beeilt, seinen Kleinen noch ein paar Ratschläge mit auf den Lebensweg zu geben! Vielleicht hatte er deshalb noch die wunderschöne Reise nach Parma und durch die herrliche Herbstlandschaft mit ihnen unternommen - vielleicht…? Aber Nicola konnte den Papa ja nicht mehr fragen, und mehr als eine leise Ahnung wird es bei ihm wohl nicht gewesen sein, denn niemand kannte das Ende seines irdischen Daseins, niemand außer Gott allein. Das hatte der Pfarrer im Kindergottesdienst den Kindern schon oft erzählt, und Nicola hatte dabei jedes Mal gut aufgepasst.
Aber jetzt war Ende Dezember 1935 und der Herbst schon eine Zeit lang vorbei. Nicola brachte schnell das Glas mit dem Birnenkompott zu der Mama in die Küche, und in weniger als einer Minute saßen alle beim Mittagstisch und ließen sich die Spagetti mit der Tomatensauce, den Parmesankäse darüber und den Kompott als Nachtisch gut schmecken. Dann endlich war es so weit, dass die Mutter ihren beiden Kleinen ihr Ja-Wort gab und sie mit ihrem neuen Schlitten, den sie zu Weihnachten bekommen hatten, nach draußen zu den anderen Kindern in den Schnee gehen durften. Die Mama würde sich wie immer eine Stunde nach dem Essen hinlegen und danach ihren Kaffee trinken. Mit heißer Milch und wenig Zucker. Dann würde sie ihre Stopf- und Bügelarbeiten erledigen und später das Abendbrot für ihre Kinder und sich selber vorbereiten. Danach würde sie nur noch darauf warten, dass Nicola und Marcella nach Hause zurückkämen, und sie alle wieder glücklich beisammen wären. Wie an jedem anderen normalen Wintertag, der wie heute ein Sonntag war. An den anderen Tagen, an denen Marcella und er zusammen in die Schule gehen mussten, konnten sie erst nach den Schularbeiten nach draußen in den Schnee. Aber heute war ja Gott sei Dank ein Sonntag, und es mussten keine Schularbeiten erledigt werden.
So standen Nicola und seine Schwester wenige Minuten später mit ihrem neuen Schlitten im Vorgarten ihres Hauses, und schon kurz darauf zog der kleine Bruder sein größeres Schwesterchen, das auf dem Schlitten Platz genommen hatte, auf dem mit festgetretenem Schnee bedeckten Bürgersteig, der sich neben der Straße befand, hinter sich her. Ihr Ziel war die nahe gelegene, große Parkanlage in der sich um diese Zeit viele Kinder im Schnee tummelten. Einige der Jungen und Mädchen rodelten mit ihren Schlitten die Abhänge hinunter, andere machten eine Schneeballschlacht, und wieder andere probierten auf dem großen Teich in der Mitte des Parks, der mit einer dicken Schicht von Eis, durch die man nicht mehr hindurchgucken konnte, um vielleicht wie im Sommer einige der sich unter der Wasseroberfläche befindlichen, vom vielen Füttern der Kinder fett gewordenen roten Goldfische zu beobachten, ihre neuen Schlittschuhe aus. Überall an den Seiten des Teichs standen Erwachsene und passten gut auf, dass alles mit rechten Dingen zuging und den Kindern nichts passieren konnte. Dass niemand von ihnen ins Eis einbrach und sie es nicht zu wüst trieben und sich vielleicht einen Arm oder ein Bein beim Schlittschuhlauf brachen und dann vielleicht noch ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Aber es lief alles ganz friedlich und glatt ab, und die Erwachsenen und Eltern machten sich mal wieder ganz umsonst so viele Sorgen, dass etwas Unvorhergesehenes und Schlimmes eintreten konnte. Auch Nicola und Marcella zogen mit ihrem Schlitten den für Kinder beträchtlich steilen Hügel hinauf, um ihn dann jeder abwechselnd wieder hinunter zu rodeln. Und eine gemeinsame Schlittenfahrt hatten die zwei auch schon versucht, waren dann aber kurz darauf mit ihrem Schlitten umgekippt und kopfüber in den tiefen Pulverneuschnee seitlich der Abfahrt gefallen, was Gott sei Dank noch einmal glimpflich für beide ausgegangen war.
Darum versuchte Nicola jetzt wieder nach seiner Schwester eine Allein-Fahrt und probierte dabei etwas für ihn ganz Waghalsiges und Neues aus. Er hatte sich mit dem Bauch auf den Schlitten gelegt und war dann mit Anlauf den Abhang hinunter gerodelt, so wie er es oft bei einigen älteren Jungen aus seiner Schule beobachtet hatte. Aber vielleicht war der Anlauf etwas zu groß für den Jungen gewesen oder der Hügel ein wenig zu steil für sein Alter - auf jeden Fall landete er schon kurze Zeit später im Schnee und rollte dann immer weiter den Abhang hinunter, bis sein kleiner Körper in einem Gebüsch, vor einem dicken Baumstamm zum Stillstand kam und sich danach gar nicht mehr regte, was die Erwachsenen und Eltern, sowie die anderen Kinder sofort in höchste Panik und Aufregung versetzte und in großer Eile herbeieilen ließ.
Als Nicola die Augen wieder öffnete, konnte er mit einigem Abstand unter sich eine Gruppe von Menschen erkennen, die um einen kleinen Jungen herumstanden. Auch ein Mann mit einem langen, weißen Kittel war darunter, der den Leib des Jungen abtastete und mit einem eigenartigen Gerät, einer Art Hörrohr mit einer erweiterten Öffnung, das er mit dem dünneren Ende an sein rechtes Ohr hielt, abhorchte. Dann waren da noch zwei Männer in Weiß, die eine Bahre bereithielten auf die sie kurze Zeit später den Jungen legten und wegbrachten. Nicola konnte noch sehen, wie die Männer die Bahre in ein weißes Ambulanzauto schoben und gleich darauf mit dem Auto in großer Geschwindigkeit davonfuhren. Hören konnte er leider nichts von alledem, was dort unten geschehen war, aber er hatte eine leise Ahnung, dass es sich bei dem Jungen um ihn handelte. Nur um ihn selber, den kleinen Nicola handeln konnte und musste, denn er war ja nicht mehr bei den anderen Kindern und Marcella beim Rodeln. Es musste etwas ähnlich Schreckliches mit ihm, wie mit dem Papa vor einem Jahr passiert sein, nur wo konnte er sich im Moment befinden? Etwa im Himmel beim Papa oder auf dem Weg dorthin? Oder lag er auch schon unter der kalten Wintererde - wenigstens sein kleiner Kinderkörper? Nicola konnte gar nicht denken, so sehr er sich auch anstrengte, denn es war so eigenartig kalt um ihn herum, je höher er in die Luft emporstieg. Jetzt lag "La Rossa", "die Rote" mit ihren roten Ziegeln und dem in der Wintersonne braun-rötlich glitzernden Häusermeer schon ein Stück weit unter ihm, und er konnte gerade noch die Spitze des großen Doms von "San Petronio", der direkt an der Piazza Maggiore, dem Mittelpunkt der Stadt gelegen war, hinter sich erkennen. Dann ging es immer höher und höher hinauf in die schneeweißen Wolken, die sich vor ihm auftaten und sich sofort hinter ihm wieder verschlossen, so dass er sich wie ein Indianer in einem weißen Zelt oder wie ein Eskimo in einem Iglu fühlte, mit dem er auf und davon flog.
Aber Nicola wollte nicht immer höher in die Luft und von der Erde fortfliegen, obwohl ihn der Gedanke an das Fliegen wohl irgendwie faszinierte, denn er hatte schon ein paar Male daran gedacht, wie schön es sei, mit einem Drachen am Himmel und über den Wolken zu fliegen. Wenn er über den Dächern von Bologna dahin gleiten könnte und seine Eltern und Marcella ihn vom Dachfenster oder aus dem Garten ihres Hauses zuwinken würden. Ja und dann war der Papa so plötzlich gestorben, und Nicola hatte den Gedanken vom Fliegen über Nacht aufgegeben, weil es für ihn nicht mehr so wichtig gewesen war und er jetzt nur noch bei der Mama und Marcella bleiben wollte, um den beiden so gut es ging hier unten auf der Erde zu helfen. Er war ja jetzt der einzige Mann im Haus, auch wenn er noch ein kleiner Junge von sieben, nein fast acht Jahren war. Aber hierbei war das Alter nicht mehr so wichtig, dachte Nicola, wenn er nur der Mama in allen Dingen helfen und ihr zur Hand gehen würde, so gut es ein Kind in seinem Alter eben schon konnte.
Doch jetzt schien es Nicola so, als ob er seine Mama und seine Schwester niemals mehr wieder sehen würde, weshalb er auch auf gar keinen Fall weiter in den Himmel aufsteigen, sondern wieder zurück auf die Erde wollte. Er stieß mit seinen Kinderarmen und Kinderbeinen wild in alle Himmelsrichtungen und versuchte um Hilfe zu rufen, aber es kam kein Laut aus seinem Kindermund, der fest und wie ihm schien für immer verschlossen bleiben würde. Es fehlte ihm einfach die Luft zum Schreien, und der Junge erkannte bald, dass er seit einiger Zeit auch nicht mehr wie ein ganz normaler Mensch atmen konnte - weil er tot war.
Nicola wollte jedoch nicht einsehen, dass er sich so schnell von der Erde und von seiner Mutter und Schwester verabschieden und entfernen sollte. Wenn ihm der liebe Gott im Himmel doch nur noch ein wenig Zeit geben würde, allen geliebten Menschen und seinem Kater Frederico richtig "Lebe - wohl" zu sagen, dann würde er sicher sofort zum Papa in den Himmel aufsteigen und keinen Augenblick mehr länger am Leben bleiben wollen. Der liebe Gott musste doch einsehen, dass seine Zeit noch gar nicht gekommen war, weil ihn die Mama noch so sehr brauchte und er sie jetzt im Winter nicht im Stich lassen konnte. Und weil er noch so ein kleiner Junge war, dessen Leben gerade erst begonnen hatte. Wer sollte denn dann das Einkaufen der schweren Lebensmittel und das Hochholen der Kohlen aus dem Keller im Winter für die Familie besorgen? Allein würden es die Mutter und Marcella sicher nicht über den Winter schaffen. Wenn er wenigstens noch ein paar Tage länger bleiben konnte, um zu sehen, wie sie ohne seine Hilfe zurechtkommen würden. Ja, lieber Gott, bitte mach, dass ich noch etwas bei meiner lieben Mama und meiner Schwester Marcella bleiben kann, dann will ich auch bestimmt gehorsam sein und …, dachte ein kleiner Junge fast schon laut, der nun geradewegs wieder hinunter zur Erde schwebte, so als hätte der liebe Gott seine Bitte noch rechtzeitig verstanden, bis er sich schließlich einige Meter über dem Friedhof und bald darauf über dem Grab befand, in dem man vor über einem Jahr seinen Papa in die tiefe Erde hinuntergelassen hatte. Auf der anderen Seite der Grabstelle seines Vaters stand ein großer Engel aus Stein, der an sich schon zu einem anderen Grab gehörte, aber trotzdem auch auf seinen Vater Umberto aufpasste, damit diesem im Reich der Toten nichts zustoßen konnte, denn dort befand sich der tote Körper des Papas ja nun.
Plötzlich konnte Nicola einen Mann in einem langen, weißen Hemd hinter dem Steinengel hervortreten sehen und erkannte sofort, dass es der Papa war. Er musste in seinem dünnen Hemd doch schrecklich frieren, dachte Nicola sofort. Der Papa war kreidebleich und hatte seine Arme weit ausgebreitet und rief "Nicola, komm, komm doch zu deinem Papa in die Ewigkeit."
Jetzt schien es Nicola, als könne er für einen kurzen Augenblick wieder hören und zwar nicht die Stimmen der Lebenden, sondern die Stimme eines Toten, denn er selber war ja auch tot. Und Tote konnten wohl auch nur Tote hören und verstehen. Der Papa lächelte so merkwürdig dabei und hatte von weitem eigenartig gläserne Augen. Nicola liefen Angstschauer über den Rücken, und er begann sich ganz schrecklich vor dem ihm einst vertrauten Menschen zu fürchten. Denn es waren nicht die Augen eines Lebenden, in die er blickte. Aber in die Augen eines Toten hatte Nicola bisher auch nur für einen kurzen Augenblick gesehen, nämlich in die seines Vaters, bevor man sie für immer zudrückte. Der Papa hatte in einem offenen Sarg gelegen, der bald darauf verschlossen wurde, und er konnte sich deshalb auch nicht mehr genau daran erinnern, wie Tote in Wirklichkeit aussahen und was für Augen sie hatten. Sich selber hatte Nicola ja auch noch nie im Spiegel betrachtet, denn sonst hätte er sich einen genauen Eindruck von der Beschaffenheit seiner Augen machen können. Die Augen des Papas hatten nun aber bei längerer Betrachtung einen ganz sonderbaren perlmuttfarbenen, im schwachen Licht der eben die Wolken durchbrechenden Sonne fast schon silbernen Glanz, so als wären sie dem Himmel und dem lieben Gott begegnet. Sie waren beinahe so wie die Augen der Engel in der Kirche, die man aus Holz, Stein oder Marmor anfertigte und dann bemalte.
Genauso schnell wie er aufgetaucht war, war der Papa wieder hinter dem großen Steinengel mit seinen ausgebreiteten Flügeln verschwunden. Dafür konnte Nicola nun eine Gruppe von Menschen, die in dicken, schwarzen Wintermänteln gekleidet waren, von der Friedhofskapelle herkommen sehen. Sie folgten einem kleinen, schwarzen Sarg, wie ihm schien einem Kindersarg, den vier Männer trugen, und mussten sehr traurig sein, weil sie fortwährend weinten, während die Friedhofskapelle noch Trauermusik spielte. Dann wurde der Sarg in einem tiefen Loch, das die Arbeiter vor noch nicht allzu langer Zeit mit großer Mühe aus dem festgefrorenen Boden ausgemeißelt hatten, direkt neben dem Grab von Nicolas Vater in die Tiefe hinuntergelassen. Und Nicola erkannte plötzlich, dass es seine eigene Beerdigung war, die sich da unten vor seinen Augen abspielte und dass er in dem kleinen Sarg liegen musste. Er rief ganz laut, aber ohne eine Stimme nach der Mama und Marcella, aber niemand von den beiden konnte ihn hören, denn die Lebenden konnten die Toten ja nicht mehr hören.
Und dann hatte er für einen Moment lang das Gefühl, sich wieder in seinem Kinderkörper zu befinden und in dem Sarg zu liegen. Er klopfte mit seinem gekrümmten Zeigefinger und als dies nichts nutzte mit der geballten rechten Faust immer wieder gegen den Sargdeckel, aber niemand von den an der Trauerfeier anwesenden Familienmitgliedern, Verwandten und Nachbarn schien irgendeine Notiz von ihm zu nehmen. Dann rief er ganz laut: "Mama, Mama, ich bin nicht tot, macht doch bitte den Deckel vom Sarg auf. Es ist so kalt hier unten, ich friere und bekomme keine Luft mehr!" Nur seine Schwester Marcella drehte sich zu der hinter ihr stehenden Mutter um und fragte diese leise, damit es nicht alle, die an der Beerdigung teilnahmen hören konnten: "Hast du nicht auch etwas gehört, Mama? Es hörte sich an wie unser Nicola, so als wollte er uns noch etwas sagen, bevor man Erde auf den Sarg wirft und das Loch wieder zuschaufelt." "Aber nein mein Kind", entgegnete die weinende Mutter ihrer Tochter. "Das bildest du dir sicher nur ein. Der Nicola ist jetzt auch im Himmel, wie der Papa. Nun ist der Papa nicht mehr ganz so allein".
Als die Beerdigung vorbei war und sich die ersten Trauergäste schon auf den Weg nach Hause machten, konnte sich die Mutter noch immer nicht vom Grab ihres Jungen trennen, und die zu Kindern meistens unfreundliche Tante Sophia, die einen Meter neben ihr stand, drehte sich mit ihrem mahagonifarbigen, hochgesteckten Haar, das Nicola von oben gut erkennen konnte, der Mutter zu und meinte wenig mitleidsvoll: "Du musst dich zusammennehmen, Theresa. Der Junge ist doch tot, und das Leben geht für dich und Marcella weiter. Komm, wir gehen nach Hause, und ich werde erst einmal eine schöne Tasse Cappucino für uns beide kochen." Das alles konnte Nicola, wenn auch nicht hören, so doch genau sehen, denn er befand sich keine zehn Meter hoch über der Grabstelle und der sich nun allmählich auflösenden Gruppe von Trauernden. Als sich seine Mutter schließlich auch mit Marcella und Tante Sophia auf den Heimweg machte, schwebte nur noch er ganz allein über dem Friedhof und dem Grab, seinem Grab, dass nun wieder von den Arbeitern des Friedhofs vollständig mit Erde zugeschaufelt wurde.
Ja, nun war ein kleiner italienischer Junge wieder ganz für sich allein. Er hielt sich weder bei den Lebenden, noch beim Papa im Himmel auf und wusste eigentlich gar nicht so richtig, wo er sich noch befand. Der liebe Gott musste ihn irgendwo, irgendwann vergessen haben. Vielleicht war es gleich nach seinem Unfall beim Rodeln gewesen oder später, als er in den Himmel hinaufstieg. Er hatte sich ja so sehr gewünscht, noch ein wenig bei seiner Mutter und Schwester bleiben zu dürfen, um ihnen helfen zu können, und der liebe Gott war sicherlich böse darüber gewesen, dass er so wenig gehorsam war und sich gegen seinen Willen aufgelehnt hatte. Der Papa hatte sich ja auch dem Willen Gottes gefügt und war jetzt im Himmel.
Dann betete Nicola ganz herzzerreißend, so dass ihn der liebe Gott doch bestimmt hören musste: "Lieber Gott, bitte lass mich entweder zu meinem Papa, der im Himmel ist oder zurück zu meiner Mama und Marcella."
Und im selben Augenblick schlug der Junge die Augen auf und erkannte seine Mutter und seine Schwester, sowie einen Mann in einem langen, weißen Kittel, an dessen Seite sich eine weiß gekleidete Frau mit einer eigenartig großen, wie ein Segelflugzeug ohne Propeller aussehenden Haube auf dem Kopf befand, die sich über sein Bett gebeugt hatten und ihn anlächelten, so als wollten sie ihm zu verstehen geben, dass er sich wieder zu Hause befand. Er hörte wie die Frau mit der großen Haube zu dem "weißen Mann" sagte: "Jetzt ist der Junge endlich aus dem Koma aufgewacht." Dann erkannte Nicola, wo er war. Er lag in einem Kinderbett in einem langen Raum mit vielen anderen Betten, in denen sich auch Kinder befanden. Um sein Bett herum hatten zu beiden Seiten künstliche, mit weißem Tuch bespannte Trennwände gestanden, die man vor wenigen Minuten als er gerade aufgewacht war, zur Seite geschoben hatte, so dass Nicola jetzt von seinem Schlaflager aus gut den ganzen Raum überblicken konnte. Er hätte so gerne mit den anderen Kindern gespielt, aber die Kinder in den Betten machten keinerlei Anstrengungen, mit ihm spielen zu wollen. Und plötzlich erkannte Nicola, dass er sich in einem Krankenhaus befand und spürte, dass sein Kopf mit einer dicken Mullbinde umwickelt war, die ihn an den Rändern ziemlich zwickte und juckte und die er deshalb gerne abgenommen hätte. "Der Verband kommt bald ab, mein Junge", meinte jetzt der Mann in weiß mit einem strahlenden Lächeln, und Nicolas Mutter lachte dabei über alle Maßen und so überglücklich, wie Nicola sie noch niemals vorher in seinem Leben hatte lachen hören. "Ja, mein Junge und wenn du nach Hause kommst, mache ich dir gleich einen großen Topf mit deinen geliebten Tortellini. So wie sie der Sage nach dem Nabel der Venus nachgebildet sind." Und dann lachte sie umso mehr und lachte und lachte unaufhörlich, bis der kleine Junge in seinem Krankenbett plötzlich ganz müde wurde und tief einschlief.
Als er fest eingeschlafen war, sah er einen großen, weißen Vogel, der viel größer als die Adler oder Geier aus dem Zoo in Bologna war, die Nicola bisher gesehen hatte und der direkt auf ihn zugeflogen kam. Der Vogel hielt mit riesigen, ausgebreiteten Flügeln genau vor seinem Krankenbett, das jetzt auf einer grünen, sommerlichen Wiese stand an, und Nicola konnte mit Hilfe einer Leiter, die aus den Federn des Vogels bis auf den Boden zu ihm herab fiel, auf den Rücken des Vogels steigen. Dann flog der Vogel, der beinahe so groß war wie das Haus in dem Nicola mit seiner Familie gelebt hatte oder der wenigstens bis an das Schlafzimmer der Mama im ersten Stockwerk reichte, im Nu wieder in die Luft empor. Vorbei an "La Rossa", in der es im Sommer immer so heiß war, weil die Sonne auf die roten Ziegeln brannte und sie aufheizte wie einen mit Broten voll gefüllten, glühenden Backofen. Vorbei an der alten Universität, dem riesigen Dom von San Petronio, der sich immer noch an der Piazza Maggiore mit ihrem Neptunbrunnen und dem "Riesen" in seiner Mitte befand. Vorbei an den vielen großen und prächtigen Palästen und den beiden Türmen, in deren Nähe die "böse Tante" wohnte, umkreiste ein paar Mal "La Dotta" seine gelehrte Heimatstadt und war schon bald mit dem Jungen auf seinem Rücken über das sich bis in die weite Ferne erstreckende, sanfte Hügelland verschwunden. Ja, das war schon ein wunderbares Erlebnis, so eine Fahrt in der Luft und über den Wolken. Und dies auch noch auf dem Rücken eines großen und sonder- nein wunderbaren Vogels, an dessen Federn sich Nicola jetzt krampfhaft festzuhalten versuchte, um nicht auf die unter ihm sich befindlichen Dörfer und Städte, deren Namen ihm unbekannt waren, aus Schwindel erregender Höhe hinunter zu fallen. Seine Furcht erwies sich jedoch als vollkommen unberechtigt, denn der Vogel schien sehr auf ihn Acht zu geben, und Nicola fühlte sich plötzlich immer sicherer auf dem Rücken des ihm sehr schnell vertraut gewordenen Tieres, denn er hatte sich mit seinem kleinen Körper schon ganz in die Federn des Vogels eingegraben, der mit ihm auf und davon in Richtung Parma flog. Ja, diesmal war es etwas ganz anderes, als bei dem ungewollten Höhenflug nach seinem schweren Unfall, als Nicola wieder zurück zu seiner Mutter und seiner Schwester wollte und noch nicht zum Papa oder zum lieben Gott.
Schließlich sollte es dieses Mal auch eine wunderschöne Reise auf einem lebenden Luftschiff werden, die ihn von Bologna über Modena und Reggio nell'Emilia bis nach Parma führte. Alles würde er sich genau dabei von oben ansehen. Es würde wieder Herbst sein, wenn er dort ankäme, so wie damals, als der Papa mit der Familie nach Parma und in dessen wunderschöne Umgebung gereist war. Vielleicht würde er den Papa in Parma wieder sehen, denn es konnte ja sein, dass auch der Papa später nach seinem Unfall noch einmal aufgewacht war. Aus dem Koma, wie die Schwester im Krankenhaus gesagt hatte - so wie Nicola. Vielleicht war er in einem anderen Krankenhaus aufgewacht, einem in Parma und suchte jetzt dort nach der Mama, Marcella und Nicola. Nun, so konnte es sich gut verhalten, denn der Papa lebte ja vielleicht auch noch in seinen schönen Erinnerungen an die herrlichen Herbsttage, die er mit seiner Familie dort verbracht hatte - wenn er vielleicht auch schon für immer tot war. Seine Seele konnte noch einmal dorthin zurückkehren, wo sie einmal glücklich gewesen war, und dann würde sie sicherlich auf seinen Sohn Nicola treffen. Ja, der große Vogel musste es wohl wissen, denn er flog ihn schnurstracks an sein Ziel, mitten in das Herz der großen Stadt hinein, die selber das Herz der Emilia Romagna genannt wird. In die Stadt, in der sie alle einmal so glücklich gewesen waren. Er hielt direkt auf der Piazza Duomo, dem Domplatz von Parma vor dem großen romanischen Dom mit seiner stattlichen Kuppel und seinem hohen, freistehenden Glockenturm, und Nicola musste wieder auf einer Leiter, die zwischen den Federn des Tieres versteckt gewesen war, von dem sicheren Rücken des lebendigen Luftschiffes auf den Erdboden herunterklettern, wo ihn ein Herbsttag mit strahlendem Sonnenschein und lächelnden Menschengesichtern erwartete. Jetzt würde Nicola auch sicher gleich den Papa sehen, der hinter der nächsten Ecke hervorkommen würde, und sie beide hätten wieder eine schöne gemeinsame Zeit miteinander.
Aber so kam es nicht, denn der Papa war auf Anhieb nirgendwo weit und breit mit dem Kinderauge zu erkennen, und Nicola nahm sich fest vor, ihn in und um die Stadt herum so lange zu suchen, bis er ihn endlich gefunden haben würde. Dann konnte seine Kinderseele vielleicht zur Ruhe kommen - vorher nicht. Wo war Nicolas Vater Umberto nur überall mit ihnen gewesen? Nicola versuchte sich zu erinnern. Zuerst würde er im Dom nachsehen, wo der Papa ihnen den aus rotem Marmor angefertigten Bischofsthron gezeigt hatte. Danach waren sie zum Baptisterium gegangen, das reichlich mit Reliefs, Malereien und Skulpturen ausgeschmückt gewesen war. Dann war er mit der Mama und den Kindern zum Palast der Pilotta gegangen, der ein archäologisches Museum beherbergte. Danach in die Galeria Nationale, wo er seiner Familie Gemälde von Leonardo, Van Dyck und anderen großen Malern hatte zeigen wollen. Nicola hatte noch nie vorher so schöne und so große Bilder auf einmal gesehen und stellte immer wieder neue Fragen an den Papa, was denn die Bilder bedeuten sollten. Und der Vater versuchte mit großer Mühe, auf die Kinderfragen seines Sohnes eine passende und für dessen Alter verständliche Antwort zu geben. Am nächsten morgen hatte der Papa nach dem Frühstück im Hotel gelacht und gemeint, dass sie nun zum Theatro Regio gehen würden, wo der "Teufelsgeiger" Niccoló Paganini, der vom Vornamen ja fast ein Namensvetter von Nicola sei, seine ersten Erfolge gefeiert hätte. Zu Mittag wollten die Kinder unbedingt in eine Pizzeria und danach noch in der Gelateria mit dem Namen "I Maestro del Gelato" ein Eis essen, weil draußen an dem Geschäft eine bunte und lustige Reklame mit Eis essenden Kindern auf einem Esel angebracht gewesen war. Am späten Abend waren sie dann alle wieder zu ihrem Hotel gegangen, das auch in der Nähe vom Domplatz lag und das der Papa schon im Voraus von Bologna aus gebucht hatte, da sie der Tante und dem Bruder der Mama nicht mit der ganzen Familie zur Last fallen wollten. Ja und die Verwandten wurden natürlich auch am dritten Tag besucht, so wie es vereinbart gewesen war und sich selbstverständlich gehörte. Und vergessen durfte Nicola natürlich auch nicht den Besuch des Parfümeriemuseums am vierten Urlaubstag, wo sie sich über "La Vera Violetta di Parma" und seine Geschichte informierten. Dort hatte der Papa der Mama noch das teure Parfüm mit dem Veilchenduft gekauft, das sie heute immer zu besonderen Gelegenheiten und im Andenken an den Papa benutzte. Die Ausflüge in die wunderschöne Umgebung von Parma begannen erst einen Tag darauf, und Nicola konnte sich jetzt noch besonders an die Fahrt nach Fontanellato mit der Wasserburg Rocca Sanvitale erinnern. Der Vater hatte ihnen von einem Salon in der Burg eine Geschichte von Aktäon erzählt, wie dieser die Göttin Diana beim Bade beobachtete und von ihr zur Strafe in einen Hirschen verwandelt wurde, den dann seine eigenen Hunde zerrissen. Nicola hatte damals einen tüchtigen Schrecken bekommen. An mehr konnte er sich aber beim besten Willen im Moment nicht erinnern.
Ja, so musste es sich wohl zugetragen haben, und Nicola machte sich auf den Weg, seinen Papa überall dort zu suchen, wo sie gemeinsam glücklich gewesen waren. Aber je mehr Nicola suchte und je später es wurde, umso geringer wurde auch seine Hoffnung, dass er seinen Vater Umberto jemals wieder finden würde. Wenigstens für einen kurzen Moment lang wieder sehen durfte, der ihm sicher helfen würde, den Papa in den kommenden Jahren seiner Kindheit und Jugend nicht zu vergessen. Und ihn auch in seinem späteren Leben niemals ganz aus seinem Bewusstsein zu verdrängen oder aus dem Sinn zu verlieren. Es wurde schon langsam dunkel in der großen Stadt Parma, und in den Straßen ging die Nachtbeleuchtung in Betrieb, als Nicola noch einsam und allein herumirrte und niemanden finden konnte, der ihm hätte Auskunft über seinen Papa geben können. Die Leute waren zu beschäftigt und konnten ihn irgendwie nicht verstehen und auch nicht sehen. Auch die Tante und der Bruder seiner Mama nicht. Er schien für sie unsichtbar zu sein. Nur er konnte alle sehen, und er hatte das Gefühl, dass es wieder so war, wie damals auf dem Friedhof nach seinem Unfall, obwohl er ja jetzt nicht tot war, sondern eigentlich nur träumte. Ja, auf dem Friedhof wo er den Papa gesehen und gehört hatte, als dieser hinter dem steinernen Engel hervortrat und Nicola bei seinem Namen anrief, hatte der Junge das erste Mal festgestellt, dass nur die Toten die Stimmen von anderen Toten verstehen konnten. Die Lebenden konnten ihn nicht mehr hören, wenngleich auch Marcella meinte etwas gehört zu haben, als er aus dem Kindersarg heraus rief.
Ja, die Toten konnten wohl noch alles sehen und vielleicht auch manchmal oder ganz selten verstehen, wenn sich ihre Seelen nicht allzu lange von dem Leben auf der Erde und von der Wärme, die sich in und um die Menschen herum befand, entfernt hatten. Von der Wärme, die die Leute in ihren Herzen trugen und die sie sich manchmal bereitwillig gegenseitig schenkten, was viele von ihnen, besonders die Erwachsenen, auch als Liebe bezeichneten.
Es war schon Mitternacht vorbei, als Nicola zu einer kurzen Rast auf einer Bank neben einem Brunnen halt machte, wo er augenblicklich ganz bitter zu weinen anfing. Irgendjemand musste ihn gehört haben, denn plötzlich rief eine freundliche Männerstimme laut seinen Namen aus: "Nicola, Nicola, hab keine Angst. Komm nur nach Hause, dein Papa und deine Mama warten schon lange auf dich." Und im selben Moment fielen dem Jungen die Augen zu, und er überließ sich einem tiefen Schlaf, aus dem es kein Erwachen und Entrinnen für ihn mehr zu geben schien. Erst als ihn am Morgen in der Frühe die Sonne in die noch völlig verschlafenen und fest geschlossenen Augen mit ihrem stechenden Blick hineinschaute und die Vögel mit ihrem Morgenkonzert begannen, fing der Junge allmählich damit an, aus seinem dem kleinen Tode ähnlichen Schlafe zu erwachen und erkannte, wie sich ein ihm nicht ganz unbekanntes, sondern eher vertrautes Gesicht über ihn beugte und leise und sanft seinen Vornamen aussprach.
"Nicola, Junge, willst du denn heute an diesem strahlenden Sonntagmorgen gar nicht mehr aufstehen? Wie fest du nur wieder geschlafen hast. Geh schnell, wasch dich und zieh dir Sonntagshosen an. Der Papa und Marcella sind schon in der Küche und frühstücken. Die Brioches sind noch warm und knusprig und der Kakao ganz heiß. Geh nur schnell, dann kannst du danach mit Marcella nach draußen zum Spielen. Zum Mittagessen gibt es heute auch dein Lieblings-Gericht : Bologneser Sauce und Bologneser Würstchen. Die Mutter hatte die Tür zum Flur geöffnet, und Nicola konnte aus der Küche das Lachen von seinem Papa und Marcella, sowie die donnernde Stimme des Duce aus dem Radio hören und war glücklich wieder zu Hause zu sein.
Als die Eltern in den folgenden Jahren ihren Kindern die Geschichte von dem kleinen Nicola immer dann, wenn diese lieb und artig waren und ihre Tortellini und Tagliatelle al ragù zum Mittag ganz aufgegessen hatten, erzählten - nämlich wie dieser auf einem großen, weißen Vogel von Bologna nach Parma geflogen war, um dort nach seinem Papa zu suchen, hörten diese ihnen ganz andächtig und manchmal stundenlang dabei zu, denn sie hatten noch niemals vorher etwas so schönes und aufregendes, das in ihrer Heimatstadt und in der Emilia Romagna passiert sein sollte, gehört. - Das Märchen von dem großen, weißen Vogel mit dem Nicola zwischen dessen Rückenfedern ein paar Male über Bologna, die man auch "La Grassa", die Fette nennt, kreiste und dann an den endlosen Arkaden und den beiden schiefen Türmen vorbei, wo die zu Kindern meist unfreundliche Tante wohnte, in den blauen und unendlichen Himmel aufstieg. Es würde auch nie wieder etwas so bewegendes und phantastisches in ihrer Heimatregion passieren, denn Nicola war wieder bei seinen Eltern, von denen er sich eigentlich nicht, es sei denn in seinem Traum, jemals entfernt hatte.
Dann lebten Nicola, sein Papa, seine Mama und Marcella noch viele Jahre ihres Lebens glücklich beieinander in ihrem schönen Haus mit dem kleinen Garten am Stadtrand von Bologna.
Und als die alte, weißhaarige Frau aus einem Vorort von Rom das Buch, aus dem sie ihren Enkeln vor dem Einschlafen vorgelesen hatte, zur Seite legte, fügte sie noch leise hinzu, so dass jemand, der noch nicht zu müde war, um es zu hören, es wohl eben noch hören und richtig verstehen konnte:
"Und wenn sie nicht gestorben sind - dann leben sie noch heute."
Nun begaben sich die Kinder (und manchmal auch die Erwachsenen, wenn sie noch wie Kinder denken und träumen konnten), welche eben am einschlafen waren, von Bologna und von überall in der Welt in ihrem gerade erst begonnenen Traum an die Stelle von Nicola (dessen Platz sie aber längst in ihrem Herzen eingenommen hatten) und flogen mit ihm auf dem Rücken des großen, weißen Vogels an den kilometerlangen steinernen Arkaden vorbei, die sich entlang der Häuser von Bologna ziehen und dann in den hohen Himmel hinauf - immer weiter und weiter…auf und davon. Bis sie kein lebendes Auge mehr von unten erkennen konnte. Ihre lange Reise würde sie diesmal von Bologna in die fernen Länder und wieder zurück in ihre schöne italienische Heimat, die Emilia Romagna führen. Von dieser Reise steht jedoch noch nichts in dem Buch der alten und weisen Frau, weshalb sie sich jedes Kind und jeder Erwachsene so erträumen kann, wie er oder sie es sich gerade wünscht…



Eingereicht am 01. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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