Der Todesengel
© Michael Stuerze
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Als das Gift zu wirken begann, stahl sich in Andreas Draxlers feistes Gesicht ein Lächeln, das so kalt war wie das Polarmeer, nur ungleich schwärzer.
Die Körper seiner Opfer zuckten und wanden sich hilflos am Boden, blieben aber stumm. Draxler hatte nichts anderes erwartet. Seine Opfer schrien nicht, sie gaben nicht den kleinsten Laut von sich. Das taten sie nie. Und das obwohl das Toxikum, das er über den Betroffenen versprüht hatte, ein Nervengift war. Es lähmte zuerst die Gliedmaßen, so dass sie nur noch unkontrolliert zuckten. Alle motorischen Fähigkeiten kamen nach weniger als zwei Minuten völlig zum Erliegen. Die Sicht wurde trüber und trüber, Tast-
und Hörsinn ließen nach, bis die Welt vollkommen still und schwarz und leer war. Schließlich setzte die Atmung aus, und der Tod griff mit kalten Fingern nach seiner Beute. Zumindest wenn Draxler unterwegs war.
Er war sich der Tatsache bewusst, dass er ein Massenmörder war. Oh ja, fast täglich vergiftete oder vergaste er Tausende, manchmal, an guten Tagen, sogar Zehntausende. Gegen ihn wirkten Hitler und Stalin wie Ministranten beim sonntäglichen Gottesdienst.
Draxler verdiente sein Geld damit, dass er Leben nahm. Jeden Tag der Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Und er war gut in seinem Job. Niemals ging er unbedacht oder unkonzentriert vor. Er überstürzte nichts, nahm nie mehr Gift oder Gas als nötig und sorgte dafür, dass die Leichen nach jedem Massaker kontrolliert entsorgt wurden. Im Regelfall in einer Müllverbrennungsanlage.
Ein letztes, kurzes Kratzen und Schaben, dann war das Haus so still wie ein Grab. Ein Grab, in dem Draxler der einzige war, der noch atmete, dessen Herz schlug und warmes Blut durch seine Adern pumpte. Er schätzte, dass sich die Zahl seiner heutigen Opfer bei etwa fünftausend einpegeln würde.
Gewissensbisse, Skrupel oder gar Schuldgefühle waren für Draxler Fremdworte in Bezug auf seine Tätigkeit. An besonders guten Tagen, etwa an seinem Geburtstag, oder an einem wirklich warmen Tag im Frühling pfiff er sogar ein Liedchen, wenn er sein Gift verspritzte.
Heute pfiff er nicht, heute lächelte er nur kalt. Aber es war ein Lächeln, das zu viele Zähne zeigte und seine Augen als unbeteiligte, aber nicht weniger eisige Beobachter außen vor ließ.
"So", dachte Draxler, "musste sich Gott gefühlt haben, als er die Sintflut auf die Menschheit losgelassen hatte." Es gefiel ihm, dieses Gefühl der Macht. Die Macht, Leben zu vernichten. Okay, das Gefühl wenn sein Schwanz beim Sex zu zucken beginnt, gefiel ihm weitaus besser. Dennoch hatte das Empfinden, Herr über Leben und Tod zu sein, etwas Animalisches, etwas Urtümliches an sich, das in Draxler eine Saite zum Schwingen brachte. Hatten sich so die Caesaren im alten Rom gefühlt, wenn sie ihren
Daumen senkten und Gladiatoren in den Tod schickten, oder die Mayas, die ihren Götteropfern bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust rissen? Er wusste es nicht, glaubte aber fest daran, dass dem so war.
Er stand noch zwei oder drei Minuten vornüber gebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt, während er seine Opfer anstarrte. Langsam wanderte der Blick aus seinen kastanienbraunen Augen über die Leichen. Äußerlich sah es so aus, als überprüfe er seine Arbeit, aber innerlich vollführte er ein irrsinniges Tänzchen. Wieder ein paar dieser Schmarotzer weniger.
Sicher, seine Arbeit war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, diese Brut vermehrte sich schneller als man das Gift zu ihrer Vernichtung herstellen konnte, aber er war nicht allein. Es gab da draußen Etliche wie ihn. Und es gab sie weltweit. Etliche, die jeden Tag aufs Neue versuchten, das Antlitz der Erde von diesem Abschaum zu säubern.
Ein kaum wahrnehmbares Huschen hinter seinem Rücken ließ Draxler herumfahren. Seine Augen verengten sich zu dunklen Schlitzen. Jemand aus der Familie, die dieses Haus bewohnt hatte, war noch am Leben. Aber das Gift zeigte bereits seine Wirkung, auch wenn die Dosis nicht tödlich gewesen war. Vollkommen orientierungslos kroch der Überlebende am Boden herum. Erst nach links, kurze Pause, dann nach rechts, kurze Pause und wieder nach links zurück. Bei jeder Bewegung stieß er an die toten Körper seiner Familienmitglieder.
Draxler schnaubte kurz. Hier die Giftspritze einzusetzen wäre reine Verschwendung von Ressourcen. Um den letzten hier umzubringen bediente er sich einer weitaus konventionelleren Methode. Er hob den Fuß und trat zu. Mit einem lauten Krachen brach der Chitinpanzer und die grünen, stinkenden Eingeweide der Kakerlake verteilten sich unter der Sohle von Draxlers derben Arbeitsschuhen.
- 2 -
Den Tag beendete Draxler wie immer. Während er seinen Computer anschaltete, aß er stückweise eine Pizza und spülte jeden Bissen mit einem Schluck Bier hinunter.
Die Internetverbindung war rasch hergestellt und die weite Welt des Cyberspace lag vor ihm. Doch anstatt sich auf schmuddelige Pornosites zu klicken, oder irgendwelche illegalen Sachen herunterzuladen, spielte Draxler lieber PC-Games. Diese Art der Spiele waren von jeher seine Leidenschaft, doch seitdem er entdeckt hatte, wie viel Spaß es machen konnte, online gegen andere Leute zu spielen anstatt gegen dumme Computergegner, ließ er kaum einen Abend aus. Vor einiger Zeit hatte er sich sogar einem so genannten
Clan angeschlossen. Die Jungs nannten sich TMW-Clan, "The Merciless Warriors- Die gnadenlosen Krieger". Im Laufe der Zeit wurden die Leute im Clan sein Familienersatz. Er konnte mit ihnen reden, Spaß haben und dabei nackt in seinem schweren Ledersessel sitzen, ohne dass sich jemand daran störte, weil niemand ihn sah.
Er stülpte sich die Kopfhörer auf die Ohren, rückte sein Mikrofon zurecht und startete ein kleines Tool, den so genannten Teamspeak. Der Teamspeak erlaubte es Draxler, sich während des Spiels mit seinen Freunden zu unterhalten. Die Bedieneroberfläche zeigte an, dass die Hälfte seiner Ersatzfamilie bereits mit Kopfhörern auf den Ohren an ihren Rechnern saß.
"Nabend", rief er fröhlich. Der grüne Punkt vor seinem Benutzernamen leuchtete auf und deutete darauf hin, dass das Mikrofon offen war. Die anderen konnten ihn hören. Doch niemand antwortete ihm.
"Hey Ihr Langweiler, der Todesengel ist da." Todesengel- das war der Name, den er sich gegeben hatte. Jeder, der den Ego-Shooter "Call of duty UO" spielte, schuf sich ein mehr oder weniger einfallsreiches Alter Ego. Draxler fand, dass sein Nickname mehr als passend war, bedachte man die berufliche Tätigkeit, der er nachging. Als Kammerjäger war er ein Todesengel, auf dessen Konto Abertausende von Leichen gingen. Und auf den virtuellen Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges war er nicht weniger
produktiv. Seine Clankollegen wussten das und begrüßten ihn allabendlich stürmisch. Jedoch nicht heute. Eisiges Schweigen schlug ihm entgegen.
"Ey Mann, könnt Ihr mich hören? Lance? Kyborg? Thunder?"
Nichts. Kein Rauschen, kein Knistern. Nichts.
"Na kommt schon", murmelte er. Lauter: "Ich sehe doch, dass Ihr da seid. AimBot? Major Tom?" Nichts.
"Scheiße!"
Draxler überprüfte die Anschlüsse, aber die waren in Ordnung. Und dass irgendwas an seinem Headset defekt war, glaubte er nicht. Der Computer arbeitete einwandfrei, das hatte er gecheckt, indem er eine Mp3-Datei abspielte. Slayers "Angel Of Death" quoll satt und breit aus den Boxen. Er stöpselte seine Kopfhörer wieder ein und registrierte, dass sie perfekt funktionierten.
Aber was, verdammt noch mal, war hier los? Alles arbeitete so, wie es sein sollte.
Abermals rüttelte er an den Verbindungen, nur um wiederholt festzustellen, dass alles okay war.
Draxler schnaufte resigniert, nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche und zündete sich eine Zigarette an. Tief inhalierte er den beißenden, graublauen Rauch und stieß ihn mit einem leisen Seufzer wieder aus. Während er die Bierflasche unschlüssig in der Hand hin und her drehte, starrte er gedankenverloren auf den Bildschirm.
"Hör auf damit!"
Draxler schrak dermaßen zusammen, dass er ein wenig Bier auf seine Hose schüttete. Was war das? Wer hatte da gesprochen? Verwirrt schaute er auf den Bildschirm. Nichts verriet, dass jemand mit ihm geredet hatte.
Na toll, nach einem beschissenen Tag wie heute bekam er zu allem Überfluss auch noch Halluzinationen. Vielleicht, so überlegte Draxler, sollte er ein wenig Gras rauchen, sein Bier austrinken und dann ins Bett gehen. Ja, genau, das sollte er tun.
Er drückte seine Zigarette aus und griff mit beiden Händen nach den Kopfhörern, um sie abzunehmen.
"Hör auf damit!" Die Stimme klang eindeutig nicht menschlich. Was sich da aus Draxlers Kopfhörern ergoss, war eine ekelhafte Melange aus Zwitschern, Zierpern, Schnattern und Schaben.
"Hey, was soll das? Wer ist da?" Er ließ die Hörer zurückschnappen. "Wer spricht da?"
"Hör auf damit", verlangte die unangenehme Stimme wieder und verursachte bei Draxler eine Gänsehaut, die sich wie Krepppapier auf seine Arme legte.
"Wer ist da? Und womit soll ich aufhören, Du Spinner?"
"Du bist ein Mörder. Hör damit auf!"
Alles klar, dachte Draxler. Aus dieser Richtung weht der Wind. Irgendein Vollidiot hatte was dagegen, dass er Wohnhäuser, Restaurants und öffentliche Einrichtungen wie Schwimmbäder, oder Bürogebäude von diesen widerlichen, stinkenden Käfern befreite.
"Wer bist Du", wollte Draxler wissen, doch die Antwort blieb aus. "Irgend so ein psychopatischer, militanter Tierschützer? Ich sag Dir mal was, Du völlig verblödetes Arschloch. Ich töte Kakerlaken. Ja, ich kille diese verdammten Käfer, wenn sie sich in menschlichen Behausungen niederlassen und Krankheiten verbreiten."
"Hör damit auf!"
"Nein. Warum auch, zum Geier? Ich verdiene mit diesem Job meinen Lebensunterhalt."
"Du musst damit aufhören. Die Welt ist komplexer, als Du ahnst."
Der Samen der Wut, der vor wenigen Minuten in seinen Eingeweiden aufgeplatzt war, begann rasend schnell zu wachsen. Das zarte, dunkelrote Pflänzchen, das anfänglich nur ein wenig Ärger gewesen war, färbte sich orange und wurde schließlich so weiß glühend wie kochende Lava. Hätte Draxler diesen Typen jetzt in die Finger gekriegt, er hätte ihn windelweich geprügelt. Indem er die Worte durch seine Zähne presste, zischte er: "Gehörst Du zur Lobby der Kakerlakenfreunde, oder was?"
"Nein" Das zwitschernde Schaben wurde für einen Augenblick so laut, das Draxler glaubte, es zerrisse ihm die Trommelfelle. "Ich bin viel mehr als das. Und ich sage Dir, hör auf, zu töten!"
"Warum, verdammt noch mal? Warum sollte ich meine Existenz auf's Spiel setzen wegen ein paar lausiger Käfer?"
"Tu, was ich Dir sage!"
Mit einem völlig unspektakulären Pfeifen und kurzem Knallen implodierte der Computermonitor. Das Gehäuse des Rechners warf Blasen und aus den Lüftungsschlitzen quoll schwarzer Rauch. Binnen einer halben Minute verformten sich die heißen Plastikteile, schmolzen zusammen und hinterließen einen grau-schwarzen Klumpen Kunststoff- und Elektronikschrott.
- 3 -
Am nächsten Morgen erwachte Draxler mit den dröhnenden Kopfschmerzen eines ausgewachsenen Katers, einem pelzigen Geschmack im Mund und der Vorahnung, dass dieser Tag nicht unbedingt zu den Tagen im Jahr zählen würde, an die man sich gern zurückerinnert.
Auf der Fahrt zu seinem ersten Objekt, einem Kindergarten, in dessen Küche Kakerlakenbefall festgestellt wurde, hielt er unterwegs an einer Trinkhalle und kaufte sich eine Packung Lucky Strike und eine aktuelle Tageszeitung. Manchmal fragte sich Draxler, wieso er täglich Zeitung las. Es stand doch sowieso immer das Gleiche drin: "Parteien streiten sich um Gesetzesentwurf ... Das Ozonloch wird größer ... Schwerer Unfall auf der Autobahn ... Mehr als 5000 Tode bei Erdrutsch in Mexiko ..." Entnervt und
von dem Presslufthammer in seinem Kopf gequält, warf er die Zeitung auf den Beifahrersitz.
"5000 Tote bei Erdrutsch in Mexiko" Er hatte nicht die geringste Ahnung warum, aber diese Zeile sprang ihn geradezu an.
"5000 Tote - 5000 Tote"
Immer und immer wieder taumelte diese Meldung durch seinen Kopf, wie ein Mantra, das an Bedeutung gewinnt, je öfter man es ausspricht. Das Wissen, die Erkenntnis, wie alles zusammen hing, kreiste wie ein scharfzahniger Hai in den schwarzen Gewässern seines Unterbewusstseins. Es tauchte zwar immer wieder kurz auf, verschwand aber sofort wieder in der Dunkelheit, wenn Draxler zupacken und es an die Oberfläche zerren wollte.
"Es ist gestern Nachmittag passiert", schoss es ihm durch den Kopf, ohne dass er damit etwas anfangen konnte. Unwillkürlich kamen ihm die dreihunderttausend Menschen in den Sinn, die die Flutkatastrophe in Asien gefordert hatte. Ihm fiel sogar ein, was er an diesem Tag getan hatte: Draxler hatte ein Hochhaus in Herne gesäubert. Dieser Betonklotz war komplett verseucht gewesen. Die Biester steckten in Rohrleitungen, in Elektroschächten und hinter den Ständerwänden, und das vom Keller, bis hinauf in die
zehnte Etage. Der absolute Horror. Aber Draxler hatte es ihnen gegeben. Es mussten Hunderttausende gewesen sein, die das Gift und das Gas dahingerafft hatte.
"Ja", dachte er, "ich bin eben gut in meinem Job."
Der Job in der Küche des Kindergartens war vergleichsweise einfach. Zwei Stunden, nachdem Draxler das Gift versprüht hatte, waren die Schädlinge tot. Er kehrte sie zusammen und schaufelte sie in einen Müllsack. Glücklicherweise war der Befall nicht stark gewesen. Draxler schätzte die Stärke der Kolonie auf etwa hundert bis hundertfünfzig Tiere.
Rasch verstaute er die Arbeitsmaterialien im Kofferraum seines Wagens und fuhr Richtung Bochum Innenstadt. Das Autoradio dudelte halblaut vor sich hin. Ohne richtig zu wissen warum, beziehungsweise, ohne es bewusst wahr zu nehmen, drehte er die Lautstärke höher. Auf "EinsLive", einem populären Radiosender, liefen die Nachrichten.
"... kamen heute schätzungsweise einhundertzwanzig Menschen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Die Ursache ist noch ungeklärt. Das Wetter ..."
Draxler brach kalter Schweiß aus. Konnte es wahr sein? War die Welt wirklich komplexer, als er dachte? Aber das war doch Wahnsinn.
Nein!
Den Gedanken, der eben überdeutlich durch seinen Kopf geisterte, schob er weit von sich. Das waren wilde Phantastereien, die in Romanen von Stephen King zu Hause waren. Zufall, nichts als Zufall. So etwas konnte es nicht geben, weil es so was nicht geben durfte. Mit einer marionettenhaft wirkenden Handbewegung wischte er alle Bedenken zur Seite. Nur der nächste Auftrag war wichtig, sonst nichts.
Völlig benommen stieg er aus seinem Auto aus und sog die frische Luft in tiefen Zügen in seine Lunge. Die kleine Dönerbude war rasch gesäubert, da die Kolonie nur aus einigen wenigen Tieren bestand.
Als Draxler wieder unterwegs war, verzichtete er darauf, das Radio einzuschalten. Noch mehr Katastrophenmeldungen konnte er heute nicht ertragen. Die Zeitung hatte er bereits in einem Abfallkorb entsorgt.
Wie in Trance brachte er den Arbeitstag hinter sich, ließ am Abend das Fernsehgerät in seiner Wohnung ausgeschaltet und ging zeitig ins Bett.
- 4 -
Die Kakerlake war riesig. Eigentlich zu riesig, um real zu sein. Draxler war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass ein knapp zwei Meter großer Käfer unmöglich echt sein konnte. Trotzdem lief ihm der eiskalte Angstschweiß in kleinen Bächen von der Stirn und rann seinen Rücken hinab. Wo war er hier gelandet? In diesem vollkommen dämlichen MTV-Werbespot für Klingeltöne, die kein Mensch brauchte? Würde die Monsterkakerlake anfangen zu tanzen, wenn ihn jetzt einer seiner Freunde auf seinem Handy anrief? Draxler
bezweifelte das sehr. In Wahrheit glaubte er, dass, sollte ihn jetzt tatsächlich jemand anrufen, dieser Superkäfer ihm die Eingeweide rausreißen und wie Spaghetti einschlürfen würde. Das Erschreckendste war der vollkommen schwarze, leere Raum, in dem er sich befand.
Seine Hände fingen an zu zittern. Todesangst schnürte ihm die Luft ab, wie riesige Stahlbänder, die sich um seinen Brustkorb legten und enger und enger zusammenzogen. Draxler war nicht in der Lage, auch nur ein einzelnes Wort von sich zu geben. Seine Augen, die vor Angst weit aufgerissen waren und wahnsinnig glitzerten, waren starr auf die Schwarzenegger-Variante einer gewöhnlichen Hausschabe gerichtet, deren Fühler zitterten, die aber sonst vollkommen unbeweglich vor ihm stand.
"Ich hatte Dich gewarnt." Die gekerbten Kinnbacken öffneten und schlossen sich blitzschnell, als sie die Worte ausspuckten. Beim Klang der zirpenden und schabenden Stimme zuckte Draxler wie bei einem Stromschlag zusammen.
"Was ..." Mehr brachte er nicht heraus. Seine Haare klebten ihm mittlerweile schweißnass am Kopf, sein Hemd hatte riesige dunkle Flecken in der Achselgegend. Der süßlich- dumpfe Gestank von verwesendem Fleisch, den die Schabe verbreitete, trieb ihm die Tränen in die Augen und klarer Rotz lief aus seiner Nase.
"Die Welt ist komplexer, als Du ahnst", schnarrte die Kakerlake. "Hast Du geglaubt, Deine Spezies könnte existieren ohne uns? Hast Du das wirklich geglaubt?"
"Ich ... nein ...eh ...", stotterte Draxler.
"Und hast Du geglaubt, dass alles, was Du heute gesehen und gehört hast ein Zufall war?"
"Nein", würgte Draxler hervor. "Nein, ich will davon nichts wissen. Lass mich in Ruhe!"
"Du kannst es nicht ignorieren. Du bist ein Mörder." Plötzlich schien die Schabe noch zu wachsen. Ihr dunkler Schatten fiel auf Draxler, der sich wie unter einer schweren Last hin und her wand.
Die Hände abwehrend nach vorn gestreckt, flehte er: "Nein, bitte geh weg!"
"Ich gehe niemals weg. Nie mehr! Ab heute werde ich Dein ständiger Begleiter sein. Ich werde zu Deinem Schatten werden."
"Bitte ... Ich wusste doch nicht ..."
"Doch, Du wusstest es. Und Dein Tun hat Konsequenzen."
Draxler nahm das wenige an Mut, das er noch in sich finden konnte, zusammen und schrie: "Verschwinde! Das alles passiert nicht wirklich. Du bist nicht wirklich."
Die Schabe warf ihren kopfartigen Auswuchs zurück und schien zu lachen. Diesen Eindruck hatte Draxler wenigstens. Das enervierende, knisternde Lachen wurde lauter, schwoll an, bis es eine Intensität erreichte, bei der Draxler dachte, ihm koche das Gehirn im Schädel.
"Nein ...", brüllte er und erwachte um sich schlagend und schweißüberströmt. Das Lachen klang noch in seinen Ohren nach und er glaubte, verwesendes Fleisch riechen zu können.
- 5 -
Der nächste Morgen war genau so, wie Draxler es erwartet hatte. Der Himmel war schiefergrau, ein stürmischer, kalter Wind peitschte schwarze, regenschwangere Wolken vor sich her, fegte das restliche Herbstlaub von den Bäumen und hinterließ düstere, bedrohlich wirkende Skelette.
Benommen und noch immer erschöpft durch seinen nächtlichen Albtraum schlurfte Draxler in die Küche und setzte Kaffee auf.
Nach einer ausgiebigen und heißen Dusche fühlte er sich einigermaßen erfrischt. Die Wohnung duftete mittlerweile verführerisch nach frisch gebrühtem Kaffee. Der grässliche Traum verblasste zusehends und nach der ersten Tasse Kaffee war er so flüchtig wie ein Nebelfetzen in der Sommersonne. Allmählich fiel die Spannung von Draxler ab und er begann, den Samstagmorgen zu genießen.
Er goss sich eine zweite Tasse Kaffe ein und setzte sich mit der aktuellen Tageszeitung auf die Couch. Die Nachrichten waren nicht ungewöhnlicher als sonst. Von Grenzstreiterein im Nahen Osten war da die Rede, die Koalitionsverhandlungen der beiden großen deutschen Parteien schleppten sich hin, der Brand in einem Essener Wohnhaus hatte zwanzig Menschenleben gefordert.
Draxler zuckte zusammen. Schlangen aus Eis krochen seinen Rücken hinauf und sein Herz setzte einen Moment aus, bevor es wie ein durchgegangenes Rennpferd losgaloppierte.
"Zwanzig Tote bei Wohnungsbrand"
Mit fliegenden Fingern wühlte sich Draxler durch die Seiten der Zeitung, während sich ihm die feinen Nackenhaare sträubten.
"Einhundertzwanzig Tote bei Flugzeugabsturz" - "Fünfzig Tote bei Schießerei" - "Vierundvierzig Tote bei schwerem Zugunglück"
Obwohl Draxler das Ergebnis kannte, zählte er die Opfer der Katastrophenmeldungen. Er hatte am gestrigen Freitag vier Aufträge erledigt und dabei etwa zweihundertfünfzig verdammte Kakerlaken erwischt. Das konnte kein Zufall sein. Ebenso wenig glaubte er daran, dass es ein Zufall war, dass exakt an dem Tag, als er das Hochhaus in Herne gereinigt hatte, beinahe dreihunderttausend Menschen bei einem Tsunami in Asien ihr Leben ließen. Konnte es tatsächlich sein, dass er mit jedem stinkenden Käfer auch ein Menschenleben
ausgelöscht hatte? Aber das war schlichtweg unmöglich. Das würde ja bedeuten, er wäre für den Tod von Millionen von Menschen verantwortlich. Und was verband diese widerlichen Schaben mit Menschen? Wieso starben all diese Leute, wenn er einen Kindergarten oder eine Restaurantküche säuberte? Das alles war so vollkommen sinnlos. Aber was noch wichtiger war: Hatte jeder Mensch auf dieser, plötzlich so eigenartigen und fremden Welt, seinen eigenen verdammten Käfer? Oder legte der Kakerlakengott fest, welcher Mensch
im Ausgleich für den Tod einer Schabe ins Gras beißen musste? Er zermarterte sich das Hirn, aber jede halbwegs logische Erklärung blieb auf halber Strecke im Treibsand seines Verstandes stecken.
Ein leises Kratzen ließ Draxler zusammenfahren. Direkt vor ihm, auf dem hellen Parkett seines Wohnzimmers hockte eine große Schabe. Die runden Augen, die so schwarz und glänzend waren wie Onyxe, starrten ihn direkt an. Im ersten Moment war Draxler so verdutzt über ihr Erscheinen, dass er nicht bemerkte, wie ihm die Zeitung aus den Händen rutschte. Doch in der nächsten Sekunde sprang er auf und hechtete über den ovalen Glastisch. Von einer weiß glühenden Wut beherrscht, bemerkte er nicht, dass die Schabe sich
vollkommen untypisch verhielt. Kakerlaken sind nicht schnell, aber sie haben ein hervorragendes Frühwarnsystem, sodass sie immer in die richtige Richtung, von einem potenziellen Angreifer weg flüchten. Draxlers Schabe blieb einfach hocken. Er baute sich vor ihr auf und brüllte: "Es ist mir egal, wenn jetzt irgendwo auf diesem verschissenen Planeten irgendein Arschloch abkratzt. Ich mach Dich fertig, Du dreckiges, stinkendes Stück Scheiße!"
Blitzschnell riss er sein rechtes Bein hoch und trat zu. Von einem Augenblick auf den nächsten war sein Körper mit ausweglosen, brüllenden Schmerzen ausgefüllt. Bevor sein Schädel mit dem Laut einer herunterfallenden Melone platzte, registrierte Draxler noch, dass ihm jeder einzelne Knochen im Leib zerbarst und seine inneren Organe dermaßen zerquetscht wurden, dass selbst der beste Pathologe Schwierigkeiten haben würde, etwas anderes zu erkennen als rohes, blutiges Fleisch.
Wie ein Sack voll alter, blutiger Lumpen sackte Draxler in sich zusammen. Er hatte seine Kakerlake gefunden, oder sie ihn.
- 6 -
Die Welt ist tatsächlich komplexer, als Draxler dachte; als alle denken.
Welcher Mensch kann schon von sich behaupten, die Zusammenhänge zu begreifen, die das empfindliche Räderwerk der Erde zusammenhalten?
Ist es wirklich nötig, eine Spinne zu zerquetschen, oder einer Maus das Genick in einer Falle zu brechen und das nur aus einem einzigen Grund: weil man es kann?
Eingereicht am 24. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.