www.online-roman.de       www.ronald-henss-verlag.de
Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Es ist keine Fliege

© Wolfgang Nöckler


Es ist keine Fliege, aber ein fliegendes Getier, das ich beobachte, und es, nein: sie fliegt als ob sie zeichnete, in der Luft zeichnete, ein Muster, ein geometrisches, eine geometrische Fastfliege also betrachte ich, sozusagen. Sie macht keine Kurven, während sie fliegt, dicht unter der Lampe, sondern ruckartige Richtungsänderungen, Kursänderungen vielmehr, vollführt sie, fliegend. Fast möchte ich meinen, ich könnte ein Muster herauslesen, eine Regelmäßigkeit, welche die Fliege verfolge, die keine ist, die ich aber so bezeichne, weil dies die naheliegendste aller mir augenblicklich bekannten Ausdrücke zu sein scheint; Mücke vielleicht, Mücke könnte ich sagen, aber Mücken stechen und ich glaube nicht, dass das von mir betrachtete fliegende Kleintier mich stechen wird, also kann ich von keiner Mücke sprechen, es sei denn es wäre eine Nichtstechmücke, eine harmlose, nicht zu stechen gedenkenden Mücke; doch ich kann kein Muster erkennen. Erst recht nicht, wenn ich ihr genügend lange zusehe. Sie ruht nicht, sie fliegt immer weiter, bewegt sich innerhalb unsichtbarer Grenzen ständig hin und her, von einer Bande zur anderen, ebenfalls unsichtbaren. Wie ein Paarungstanz sieht das ganze aus, doch keine zweite Fliegenmücke erblickt mein Auge und es ist vielleicht nur eine Übung, die Generalprobe des Paarungstanzes. Oder es ist der Totentanz, weil es bald kalt werden wird, weil es Herbst ist, weil die Fliegen und Mücken das nicht überleben, weil sie erfrieren, wenn sie nicht vorher eines natürlichen Todes sterben.
Paarung oder Tod, im Grunde bedeutet beides dasselbe: Weitergabe der eigenen Anlagen, und also ist, was ich betrachte, der Anlagentanz der Nichtstechmücke. Dann sitzt sie plötzlich auf dem Lampenschirm, wo es im Augenblick ungefährlich für sie ist zu sitzen, da die Lampe nicht brennt, da es Tag ist, da dieser hereinkommt über das geöffnete Fenster, und da er die Fliege hierher brachte, vor nicht all zu langer Zeit; sie sitzt auf der Lampe und ruht ein wenig. Nicht viel später fliegt sie wieder, tanzt sie wieder, dicht unter der Lampe, die nicht brennt, vollführt die gleichen Muster wie zuvor und scheint wieder ganz rastlos. Es ist keine Fliege … es ist ein Rätsel.



Eingereicht am 20. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


»»» Kurzgeschichten Alltag «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten und Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««