Unterwegs
© Roman Polygonmasta
Ich bin unterwegs. Es ist am Ende des Tages. Das letzte Licht der Sonne und der Mond scheinen im Gleichgewicht. Der Kiesweg wirkt weiß im Gegensatz zum Schwarz des Waldes. Dazwischen eine große graue Fläche. Aufsteigender Nebel löst die Grenze zwischen Wald und Wiese auf.
Wir wollten uns noch im Sommer treffen. Inzwischen ist es Herbst geworden. Zwar friert es noch nicht, aber kalt ist es geworden. Zunächst war ich erleichtert, als du mich eingeladen hast. Ich habe die letzten paar Tage an wenig anderes denken können. Je näher ich unserem Treffen bin, umso mehr Fragen tauchen auf. Warum hast Du mich zu Dir eingeladen, anstatt unseren gewöhnlichen Treffpunkt zu wählen? Warum waren die Worte deiner Einladung mit so viel Bedacht gewählt? Das ist sonst nicht unbedingt deine Art. Und
warum kommt es mir so vor, dass der Weg zu dir immer länger wird, je weiter ich gehe? Am besten hätten wir uns im Sommer öfter gesehen.
Beruhigend, dass mir zumindest der knirschende Kies am Weg das Gefühl vermittelt, mich fortzubewegen. Ich ziehe meinen Schaal enger und stecke meine Hände in die Manteltaschen. Eigentlich ist mir selten kalt. Aber heute hat sich die Wärme des Tages fast abrupt verflüchtigt. So muss es in der Wüste sein, wenn es Nacht wird. Ich bemühe mich ein angenehmes Gehtempo zu finden, um nicht automatisch immer schneller zu werden. Ich will nicht außer Atem sein, wenn ich bei dir bin. Der Wald in deiner Gegend hat immer
schon etwas Unheimliches an sich. Auch tagsüber kommt es mir so vor, als würde uns jemand aus dem Dunkel zwischen den dichten Bäumen beobachten. Ich habe dich oft in solchen Momenten beobachtet und aus deiner Arglosigkeit geschlossen, mir das einfach einzubilden. Schließlich lebst du hier schon ein ganzes Leben lang. Dir müssten also diese Beobachter bekannt sein, wenn es sie gäbe.
Jetzt müsste ich eigentlich da sein. Mittlerweile ist das Restlicht des Tages vollkommen verschwunden und ich versuche im kontrastlosen Dunst zwischen Weg und Wald etwas zu erkennen. Es ist eine sehr ausgedehnte Wiese und man kann sich in Momenten wie diesem schnell einbilden etwas erkannt zu haben. Meistens sind es optische Täuschungen, verursacht durch sich überlagernde Nebelschwaden, die über die Wiese ziehen und einzelnen Lücken, die dazwischen entstehen. Nachdem ich einige Minuten angestrengt versuche etwas
im spärlichen Licht des Mondes zu erkennen, bin ich sicher, dass da nichts ist. Ich bin wahrscheinlich zu früh angekommen, obwohl der Weg hierher heute überdurchschnittlich lange gedauert hat. Vielleicht verspätest du dich aber auch nur.
Ich beschließe mich auf eine Bank am Rande des Weges zu setzen und auf dich zu warten. Wäre es nicht deine Gegend würde ich wahrscheinlich keine Minute länger hier bleiben als notwendig. Ich zünde mir eine Zigarette an und versuche mich am Rot der Glut zu wärmen. Es ist das hellste Licht und die wärmste Farbe seit Stunden. Mir wird auch nach der dritten Zigarette nicht warm. Und je länger ich hier sitze und die Wiese beobachte, desto seltsamer kommt mir der Wald dahinter vor. Wo ich herkomme, gibt es auch tiefe
Wälder. Dort gibt es Wälder von denen keiner so genau weiß, was sich darin so alles verbirgt. Und ich bin als Kind schon ab und zu des nächtens den Wald erforschen gegangen, weil es einfach spannend war. Aber ich habe noch nie einen Wald erlebt, in dem es absolut keine Geräusche gibt. Irgendetwas raschelt immer im Unterholz, irgendein Vogel meldet sich immer in der Dunkelheit. Und auch wenn nur ab und zu ein schwacher Wind weht, wie heute, rauscht ein Wald. Vielleicht ganz leise, aber hörbar. Seit ich hier sitze
habe ich das Gefühl, es würde sich am Waldrand immer wieder das eine oder andere Gebüsch bewegen, wie wenn es dort von nächtlichem Wild angestoßen worden wäre. Ab und zu wiegt sich ein schwarzer Baumwipfel vor dem kaum helleren Himmel. Aber es ist nicht das geringste Geräusch wahrzunehmen. Der Wald ist absolut stumm.
Während ich mir Erklärungen für dieses Phänomen suche, fällt mir eine Unregelmäßigkeit am Wegrand auf. Mir ist unklar, warum ich es nicht früher gesehen habe. Da dürfe ein schmaler Weg in die Wiese hinein führen. Eher ein frischer Trampelpfad. Ich versuche dem Pfad zu folgen, was gar nicht so leicht ist. Kaum glaube ich ihn verloren zu haben entdecke ich ihn einige Meter weiter wieder. Einiges Suchen und Finden später, weitet sich der Pfad zu einer gossen runden Stelle an der das Gras niedergetreten ist. Im Zentrum
befindet sich etwas Dunkles. Ich komme näher und sehe, dass es eine Tür ist, die flach auf dem Boden liegt. Eine recht gewöhnliche Tür, wie der Eingang zu einem Einfamilienhaus, nur eben horizontal. Ich beuge mich hinunter, um sie mir genauer anzusehen. Dort wo der Türspalt am Boden wäre erkenne ich vage ein Licht unter der Tür. Ein beklemmendes Gefühl. Ich bin mir langsam nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich den richtigen Ort gefunden habe. Ich richte mich auf und sehe mich um. Es sieht so aus wie dort wo du
eigentlich zu Hause bist, soweit ich das abschätzen kann. Aber weder konnte ich deine Hütte in der Wiese finden, noch hast du mir einen Hinweis am Weg hinterlassen, wie ich dorthin gelangen könnte.
Üblicherweise haben wir uns immer direkt am Weg getroffen und sind dann gemeinsam zu dir gegangen. Ich hatte dir öfter vorgeschlagen, mir den Weg zu deiner Hütte durch die Wiese zu zeigen. Ich wollte dir ersparen mich jedes Mal vom Weg abholen zu müssen. Du hast gemeint, es würde dich nicht stören, mich abzuholen, du würdest das gerne tun. Bis es dir irgendwann lieber war, wenn wir uns an unserem gemeinsamen Platz treffen würden. Den hatten wir entdeckt, als es irgendwann zu spät geworden ist, die Heimreise
zu dir oder zu mir anzutreten und einen Ort zum Schutz suchten. Seither ist viel Zeit vergangen und ich war lange nicht mehr hier. Und als wir noch den Weg zu dir gemeinsam gegangen sind, wollte ich nur dich sehen. Keinen Weg, keine Beobachter aus dem Wald und keine Wiese. Ich hatte versucht dein Bild vom Hintergrund zu lösen und es so besser zu erfassen. Daher kenne ich jetzt den Weg nicht wirklich. Aber es muss trotzdem ziemlich genau dieser Ort sein, wo deine Hütte steht.
Es war kein leichter Sommer dieses Jahr. Letztes Jahr war es noch um einiges unbeschwerter. Es hat uns gut getan, einfach nur am Rücken zu liegen und die Wolken ziehen zu beobachten. Einfach so. Du und ich. Wir haben immer wieder kleine Dinge entdeckt, die uns erstaunt haben. Wir konnten stundenlang darüber reden und anschließend stundenlang darüber schweigen. Nie wäre uns das Schweigen verdächtig vorgekommen. Und wir haben es letzten Sommer auch wieder geschafft das Meer zu sehen. Beide sind wir in Wäldern und
Wiesen aufgewachsen. Das Meer hat uns fasziniert. Wir kannten es beide nicht aus der Kindheit. Und im letzten Winter haben wir uns gegenseitig und unseren gemeinsamen Platz gewärmt. Wie in den Jahren davor.
In diesem Frühling sind wir zwei oder drei Mal in der Wiese gelegen und haben in den Himmel gesehen, aber vor dem Schweigen hatte es kein Gespräch gegeben. Wir haben uns dabei nichts gedacht. Dann war da einer dieser ersten wirklich heißen Tage im Frühsommer, an denen unausgesprochen klar gewesen wäre, womit wir den Tag verbringen. Aber keiner von uns hat etwas gesagt. Keiner von uns hat etwas getan.
Ich bin mir zwar alles andere als sicher, aber wenn das deine Gegend hier ist, dann muss die Tür wohl auch dazu gehören. Was soll schon schlimmes geschehen, wenn ich einfach sehe, was passiert, wenn ich versuche die Klinke zu drücken. Als ich das tue, springt die Tür einige Zentimeter weit auf. Ähnlich einer Autotür. Ich ziehe sie einwenig mehr auf und erkenne Stufen, die darunter in einen Raum führen, aus dem der Schein eines Feuers dringt.
Es ist nicht so, dass ich mir nie Gedanken darüber gemacht hätte, warum du mir nie den Weg zu deiner Hütte erklärt hast. Auch wenn es dich nicht gestört hat mich abzuholen. Vielleicht wolltest du nicht, dass ich ihn selbst finden kann. Vielleicht wolltest du, dass ich ihn immer wieder erkenne, nachdem wir ihn einmal gemeinsam gegangen sind. Vielleicht wolltest du nicht, dass ich den Beobachtern alleine begegne. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn du mich mehr interessiert hast, als der Weg
in deine Heimat. Ich hatte versucht eine Essenz zu finden, indem ich dich von der Peripherie losgelöst sehe. Einen Kern zu isolieren, der mich einer Wahrheit näher bringen sollte. Wie kann ich einen Laut erkennen, wenn die Umgebung tausende kleine Geräusche hinzufügt? Einen Fokus haben, wenn alles darum scharf ist? Oh Gott, dieser Wald ist heute dunkel.
Die Türkante in der Hand halte ich inne und versuche möglichst kein Geräusch zu erzeugen. Ich warte einige Zeit ab und lausche in den Abgang hinein. Ich versuche angestrengt etwas Konkretes zu hören. Es ist zum Verzweifeln. Es ist keine absolute Stille da unten, aber ich kann auch nicht einordnen, was zu hören ist. Wahrscheinlich ein Kaminfeuer, vielleicht bewegt sich auch da unten etwas.
Ich sehe mich noch einmal nach dem geräuschlosen Wald um, und entscheide mich dazu jetzt diese Stiegen hinunter zu steigen. Ich steige ein gutes Dutzend Stufen hinunter und befinde mich anscheinend in einem Wohnzimmer. Ich hatte mich mit dem Kaminfeuer nicht geirrt. An der gegenüber liegenden Wand ist ein Kamin eingelassen um den herum eine Sitzgruppe arrangiert ist. Zwischen mir und dem Kamin steht die dominierende Couch der Sitzgruppe. Ich bin mir sicher das jemand auf dieser Couch liegt und jetzt bin ich sicher,
dass du das bist. Ich verstehe nicht, wieso mir das Wohnzimmer vertraut vorkommt. Und noch weniger verstehe ich nicht, wieso ich den Weg hierher anscheinend noch nie gegangen bin. Aber ich weiß, dass du es bist. Ich begehe nichts Unerlaubtes und ich bin eingeladen. Also wieso Unsicherheit zeigen.
Wir hatten einige Zeit lang ein Spiel gepflegt. Wenn einer von uns, aus der Welt da draußen, an unseren gemeinsamen Ort gekommen war, so hat es sich der andere nicht anmerken lassen, das mitbekommen zu haben. Also hat sich der eine an den anderen "herangeschlichen", ihm die Augen zugehalten um zum Beispiel zu behaupten, er sei beauftragt, nun von ihm eine bestimme Information zu bekommen - mit allen Mitteln. Das war oft der Auftakt einiger vergnüglicher Stunden eines weiteren Spiels.
Ich kann mich noch gut erinnern, als du eines Tages hinter mir gestanden bist, mir die Augen zugehalten hast und ins Ohr flüstertest:
To be continued....
Eingereicht am 20. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.