Annas Flug
© Ingo Karwath
Anna flog. Sie flog über die Savanne unter ihr hinweg, ohne recht zu wissen, wo sie sich eigentlich befand. Eigentlich flog sie nicht, sie glitt beinahe geräuschlos dahin, wäre da nicht der Fahrtwind gewesen. Der Propeller ihrer Cessna stand schon eine ganze Weile still, nachdem ein Blitz das kleine Flugzeug in dem schweren Gewitter über den Bergen getroffen hatte. Zuerst hatte es die Maschine kräftig durchgeschüttelt, dann war die Elektronik ausgefallen und schließlich der Motor. Nun glitt die antriebslose Maschine
wie ein Segelflugzeug dahin und würde wohl längst abgestürzt sein, hielten es die Thermik hinter den Bergen und der Wind nicht weiter da oben.
Anna überlegte. Mit der Elektronik waren nicht nur alle Bordinstrumente ausgefallen, auch das Funkgerät blieb stumm. Alles, was jetzt noch funktionierte, waren der Kreiselkompass, die mechanische Seilzugsteuerung der Höhen- und Seitenruder und ihre sieben Sinne. Sie versuchte, sich zu orientieren. Bergab ging der niedere Bewuchs über in Bäume, die sich zu einem dichten, undurchdringlichen Regenwald auswuchsen. Manchmal öffnete sich das Land zu einer steppenartigen Savanne, die von schmalen Flussläufen durchzogen
wurde. Sie wusste das Gebirge im Rücken und dass sie jetzt in Richtung Landesinnere flog. Doch ihr eigentliches Ziel, die große Stadt, zu erreichen, rückte in unerreichbare Ferne. In nicht mal einer Viertelstunde würde das Flugzeug am Boden sein, vielleicht noch schneller, wenn die Thermik weiter so dramatisch abnahm. Anna hielt Ausschau nach einem geeigneten Landeplatz, um die Maschine möglichst sanft aufzusetzen. Aber die Savannenflecken waren zu hügelig, auch wenn sie von hier oben spiegelglatt aussahen. Falls
sich die Cessna überschlug, hatte sie kaum Chancen zu überleben.
Sie lachte auf. Überleben! Anna musste in die große Stadt, um sich operieren zu lassen, wollte sie nicht an dem letzten Monat diagnostizierten Darmgeschwür sterben. Die Forschungsstation auf der kleinen Robbeninsel war dafür nicht ausgerüstet, der anwesende Arzt konnte allenfalls Zähne ziehen oder Kopfschmerztabletten verabreichen. Eine OP durchzuführen, blieb dagegen außerhalb seiner Möglichkeiten. Schiffe liefen die Station höchst selten an, und größere Flugzeuge konnten auf dem felsigen Eiland nicht landen.
Kleinere Maschinen trauten sich in der stürmischen Jahreszeit nicht aufs offene Meer hinaus, doch ein halbes Jahr wollte Anna nicht warten. So hatten sie alle dafür plädiert, dass sich Anna mit der Cessna selber ins Krankenhaus fliegen sollte. Zuerst hatte sie sich gesträubt, ihnen die einzige mobile Verbindung zur Außenwelt zu nehmen. Doch die anderen hatten sie beschworen, zu fliegen, die Forschung bräuchte sie noch. Und Anna hatte ihr Leben der Forschung verschrieben, auf Familie und Kinder verzichtet. Sie
war Biologin und zugleich die Pilotin der Gruppe. Diesmal musste sie jedoch alleine fliegen. Um das Projekt nicht noch weiter zu gefährden, konnten sie kein zusätzliches Mitglied mehr entbehren.
Anna seufzte. Da war sie trotz rauen Wetters bis zum Festland gekommen, hatte die Berge überquert und befand sich nun in der nächsten lebensbedrohlichen Situation. Wie kam sie hier unbeschadet runter? Die Savanne ging wieder über in Regenwald, in dem vereinzelt grün bewachsene Tafelberge, Tepuis, standen. Hier unbeschadet zu landen, schien unmöglich. Die Thermik ließ weiter nach und die Cessna sackte ab. Unwillkürlich schrie Anna auf. Ruhig bleiben, jetzt bloß nicht in Panik verfallen, beruhigte sie sich selber.
Sie balancierte die Maschine aus und suchte den Horizont ab. Keine Veränderung, sie musste handeln. Ihr irrender Blick fiel auf den nächsten Tepui und sie entschied sich. Dass die wenigstens der mystischen Tafelberge je von Menschen betreten wurden waren und sich Legenden von Fabelwesen und Sauriern um die geheimen Orte rankten, wusste sie, aber auch, dass die meisten von ihnen flache Plateaus besaßen. Ein idealer Landeort. Gelang ihr das, konnte sie sich mit der im Flugzeug befindlichen Notausrüstung abseilen
oder ab und an Leuchtraketen abfeuern. Sie würde hoch genug sein, um in der Nacht von irgendwem, vielleicht ansässigen Indianern gesehen zu werden.
Anna steuerte. Höhen- und Seitenruder reagierten, und die Cessna bog in Richtung des Tafelberges ab. Sie hoffte inständig, nicht bereits zu niedrig zu sein, wenn sie ihn erreichte, wuchsen doch die Granitfelsen bis zu eintausend Meter in den Himmel. Letztendlich war es gleich, ob die Maschine an einer Felswand oder auf dem Wüstenboden zerschellte. Umso näher der grün bewachsene Koloss rückte, desto waghalsiger erschien Anna die Idee einer Landung auf ihm. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr, das Flugzeug sackte
immer tiefer, segelte zunehmend unruhiger. In unmittelbarer Nähe des Berges nahm die Thermik wieder zu und die Flughöhe blieb annähernd stabil. Die Cessna überflog die Kante des Riesen und glitt nur wenige Meter über den Büschen hinweg. Anna sah sich auf dem Plateau sofort nach einem geeigneten Landeplatz um und suchte mit hektischen Kopfbewegungen das unwirtliche Gelände ab. Ganz am Ende der gegenüberliegenden Seite schimmerte eine blanke Granitfläche zwischen dem Grün. Dort, nur dort, bestand überhaupt eine
Chance, zu landen. Anna steuerte die Cessna auf den Platz zu und drückte sie sofort mit aller Macht nach unten. Sie hörte, wie unter ihr die Äste und Zweige an die Maschine schlugen oder splitternd abgerissen wurden, dann kratzte knirschend der Fels. Der Flugzeugrumpf schlitterte über das blanke Gestein, drehte sich um die eigene Achse und drohte, unter ächzenden Geräuschen zu bersten. Anna griff unwillkürlich nach ihrem Gurtzeug und löste die Cockpitverriegelung. Sekunden später wurde sie aus der tanzenden Maschine
geschleudert. Sie sah noch, wie die Cessna hinter dem Felsen verschwand, danach verlor sie das Bewusstsein.
Anna erwachte. Und fand sich zwischen Pflanzen und Geröll wieder. Vorsichtig tastete sie ihren Körper nach möglichen Verletzungen ab, schien aber außer einigen blauen Flecken und ein paar Prellungen nichts Ernsthaftes davongetragen zu haben. Nebelschwaden waberten über dem Plateau und nebenan plätscherte ein kleiner Bachlauf. Wo befand sich die Cessna? Mühsam und unter Schmerzen stand Anna auf und sondierte die Umgebung, doch das Flugzeug blieb verschwunden. Unmittelbar hinter dem Landeplatz begann dichter, dschungelartiger
Bewuchs, in den das Flugzeug eine Schneise geschlagen hatte. Anna folgte der Spur und stoppte nach zwanzig Metern abrupt ab. Der Tepui war zu Ende und stürzte hier zusammen mit einem schmalen Wasserfall gut tausend Meter in die Tiefe. Sie wusste sofort, was dass bedeutete. Die Cessna lag da unten, und mit ihr die gesamte Ausrüstung. Hier oben würde sie nun niemand mehr vermuten. Bei sich trug sie lediglich ein Notizbuch, ein Taschenmesser und den medizinischen Testsatz zum Nachweis von Tumorzellen im Blut.
Sie besah sich die Umgebung näher. Es hätte bessere Landeplätze gegeben, aber das Blattgrün überwucherte die meisten von ihnen, so dass sie aus dem Cockpit nur schwer auszumachen gewesen wären. Die Fläche auf dem Plateau maß mehrere hundert Meter in beide Richtungen und war zum großen Teil mit einer Art Nebelwald bewachsen. Kühl war es hier, stellte sie fest, aber der Pilotenanzug hielt sie warm. Das Wasser hatte beste Trinkwasserqualität, und Anna fand schnell einige essbare Wurzeln, Früchte und Pilze. Die Pflanzen
sahen zwar ebenso wie die herumschwirrenden Insekten fremdartig aus, ließen sich aber dennoch bestimmten Gattungen zuordnen. Von Fabelwesen oder Sauriern dagegen fehlte jede Spur.
Anna dachte nach. Sie konnte hier auf den Krebstod warten oder gleich dem Flugzeug hinterher springen. Entschied sie sich, zu bleiben, brauchte sie nicht mehr viel. Da war es egal, dass sie weniger besaß als der legendäre Robinson Crusoe. Papageien flogen hier keine herum, dafür prächtige Falter. Und anstatt Ziegen, tummelten sich riesige Käfer und Spinnen. Und auch die Gefahr, dass Kannibalen hier landen könnten, schien äußerst gering. So begann Anna zu funktionieren. Sie aß, was sich anbot, und trank frisches
Quellwasser. Und gegen die Gewitterstürme half ein überhängender Felsvorsprung, den sie zur Hütte ausbaute. Ansonsten studierte sie fleißig die völlig unbekannten endemischen Arten von Flora und Fauna und beschrieb sie in ihrem Notizbuch. Den Tepui zu verlassen, schien angesichts der Schroffheit der Wände, mit vielen Furchen und Schluchten, ohne Ausrüstung aussichtslos.
Tage vergingen, Wochen. Anna lebte sich ein, horchte aber weiter fortlaufend in ihren Körper, als warte sie auf den entscheidenden Niederschlag. Die Blutungen hatten ausgesetzt, die Schmerzen verschwanden nach und nach. Irgendwann kramte sie ihr Testset hervor, nahm sich selbst Blut ab und überprüfte es auf Tumorzellen. Sie waren verschwunden. Anna hatte überlebt.
Eingereicht am 14. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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