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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Würde ich es auch verlernen?

© Jana E. Hentzschel


Als mir mein bester Freund Ralf an einem Donnerstagnachmittag in unserem Lieblingscafé verkündete, dass er nächste Woche ein Vorstellungsgespräch in Köln hat, brach ich innerlich zusammen. Das war dann mittlerweile der Fünfte aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, der mich verließ, indem er Leipzig verließ. Natürlich konnte ich es keinem übel nehmen. Alle folgten ihren beruflich besseren Perspektiven. Die hätte ich wahrscheinlich außerhalb auch, aber ich war viel zu feige, mein Glück alleine zu versuchen, mich alleine durchs Leben zu kämpfen. Auch Ralf konnte ich nur zu gut verstehen.
Ihn zog es nach Köln, weil sein Freund dort lebte. Und wer will schon auf Dauer seinen Partner in über fünfhundert Kilometer wissen? Aber genau diese fünfhundert Kilometer würden dann zwischen Ralf und mir liegen.
Nun war ich ohnehin schon frustriert, da ich nicht die blasseste Ahnung hatte, wie es mit mir weitergehen sollte. Mein Freund, mit dem ich bereits über ein Jahr zusammen war, war neunundzwanzig und wollte Kinder - je früher desto besser. Ich war einundzwanzig und hatte das Gefühl, noch etwas erleben zu wollen, allerdings beinhaltete diese Empfindung kein Windeln wechseln. So wurde ich immer gereizter. Ich konnte mich zu nichts aufraffen und für nichts entscheiden. Jeden Tag wachte ich mit einem anderen Gefühl auf. An dem einen Morgen wollte ich raus hier, wollte genauso mutig sein, wie einige meiner Freunde. Am nächsten Morgen konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, auch nur einen Kilometer von hier wegzuziehen. Ein anderer Morgen brachte mir meine Leidenschaft für das Malen zurück, und ich wollte malen, immer nur malen und träumte meinen mutigsten Traum - eine eigene Ausstellung. Und ganz klar am darauf folgenden Morgen war ich von meinem Talent nicht mehr ansatzweise überzeugt. Es war zum Verrücktwerden. Und jetzt wollte auch noch der Einzige, der meine Unzufriedenheit verstand, weil er selber unzufrieden war, weg.
Mein Tee war mittlerweile kalt geworden, da ich keinen Schluck runterbrachte. "Komm doch einfach mit", schlug Ralf vor. "Es tut dir bestimmt gut, wenn du hier einmal rauskommst." Ich stimmte ihm zu, dass ich hier mit meinen Überlegungen nicht recht weiterkam. Also saß ich am darauf folgenden Sonntag mit ihm, einem Wochenendticket und einem Rucksack mit Klamotten für eine Woche im Zug. Mein Freund war natürlich alles andere als begeistert, aber das war vorherzusehen - und irgendwie war es mir egal.
Ich nahm mir vor, die Zeit zu nutzen und gründlich über alles nachzudenken, um dann, wenn ich wieder zurück sein würde, zu wissen, was ich will.
Marco, Ralfs Freund, war attraktiv, charmant und lustig. Er arbeitete als Bibliothekar in der Uni und hatte eine große, gemütliche Wohnung mit Blick auf den Rhein. Mittwochs hatte Ralf sein Vorstellungsgespräch und ich zog alleine durch die Stadt. Ich fand ein nettes Café, bestellte mir einen Cappuccino und begann ein wenig in meinem Block zu malen. Als ich mir gerade überlegte, ob ich mir noch einen zweiten Cappuccino bestellen sollte, rief mich Marco an. Er fragte, ob ich mir vorstellen könne, im Cateringbereich zu arbeiten. Er hatte eben in seiner Kantine durch Zufall erfahren, dass die Firma, die diese Kantine betreibt, an einem anderen Standort noch Servicekräfte sucht - und zwar dringend. Marco hatte sich die Adresse geben lassen und wartete nun darauf, dass ich sie haben wollte. Ich tat ihm den Gefallen, war jedoch in keinster Weise gewillt, dahin zu fahren. Kantine?
Was soll ich denn in einer schäbigen Kantine? Und dazu noch als Servicekraft. Ich bin gelernte Köchin, da hat er wohl etwas gehörig durcheinander gebracht. Zu Hause würde ich das vielleicht machen. Aber hier in der Fremde? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Ich nahm mir meinen Block, lehnte mich zurück und suchte mir ein neues Motiv. Servicekraft in einer Kantine ... So ein Blödsinn! Was hat er sich denn dabei gedacht?
Ich malte völlig gedankenverloren und war dementsprechend erschrocken, als die Kellnerin plötzlich neben mir stand und mich fragte, ob sie mir noch etwas bringen dürfe. Ich entschied mich gegen den Cappuccino, bat nur um die Rechnung. Sie grinste plötzlich und fragte, ob ich aus Sachsen käme. Ich bestätigte das und erfuhr, dass sie ursprünglich aus Dresden kommt.
Allerdings hörte man es ihr überhaupt nicht mehr an. Würde ich es auch verlernen? Belustigt von dem Gedanken, ließ ich mir von meinem Stadtplan zeigen, wie ich am besten zu der Adresse dieser Kantine komme.
Eine halbe Stadtrundfahrt später stand ich vor einem riesigen Bürogebäude.
Allerdings war es bereits kurz nach drei, und ich bezweifelte, an einem Mittwoch dort überhaupt noch jemanden anzutreffen. Und tatsächlich, nachdem mir die dünne Frau am Empfang gezeigt hatte, wie ich in die Kantine gelange, fand ich sie völlig verlassen vor. Aber da die Tür nicht verschlossen war, ging ich hinein und sah mich um. Mir gefiel, was ich sah, und die Kantine war alles andere als schäbig. Sie war hell, sauber und modern. Das viele Glas, die silbernen Ausgabestationen und die riesige, runde, blauschwarze Theke wirkten sehr edel. Durch eine riesige Glastür blickte ich auf die leere Terrasse. Das Klimpern von Schlüsseln ließ mich herumfahren. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann kam mit erstauntem Blick auf mich zu. Er fragte, ob er mir irgendwie weiterhelfen könne. Ich erklärte ihm mein Anliegen. Er nickte, stellte sich als Herr Böhme vor und bot an, dass wir uns setzen. Seiner nächsten Aufforderung folgend, erzählte ich in Kurzform über mich und meine beruflichen Kenntnisse. Dann erklärte er mir mit wenigen, aber gezielten Worten, um was es sich bei dieser Arbeit handelt, und dass er in der Tat jemand wie mich brauchen würde. Unser Gespräch gefiel mir, der Typ schien cool drauf zu sein. Ich entsprach ziemlich genau seiner Vorstellung, und er konnte mir Zahlen bieten, von denen ich in Leipzig nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Dann aber kam ein Satz, der mir persönlich zu cool war. "Frau Schmidt", sagte er und sah mich fest an. "Morgen früh um acht; ja oder nein?" Ich dachte, er beliebt zu scherzen, wollte lachen, doch seine ernsten und wachsamen Augen belehrten meine Mundwinkel, sich lieber nicht zu bewegen. Mir wurde klar, dass er es Ernst meint. Zum Glück saß ich, denn Standhaftigkeit war von einer Sekunde auf die nächste zu einem Fremdwort geworden - und mein Fremdwörterbuch war ja in reichlich fünfhundert Kilometer Entfernung. Ich war gelähmt, unfähig zu denken, und ich stotterte irgendwas von Zeit, Klamotten, Wohnung. Er aber lächelte nur sanft und sagte beinah mitfühlend, dass er sofort jemanden brauche. Und mitten in meine konfuse Welt setzte der obercoole Herr Böhme noch einen Spruch, als würde er dafür bezahlt werden, mich zu schocken. "Sie wollen Arbeit, Frau Schmidt. Ich biete ihnen welche. Sind sie bereit, dafür unter einer Brücke zu schlafen?" Mit dieser Äußerung lag mir ein klares Nein auf der Zunge. Kann man noch unverschämter sein? Ich, eine arme, schutzbedürftige, junge Ossifrau im Winter unter einer Brücke in Köln? Was für ein dreistes Angebot! Doch meine Lippen blieben geschlossen. Wir wussten ja beide, wie es gemeint war, und ganz langsam konnte ich meine wirren Gedanken sortieren. Erstaunt über die Geduld meines Gegenübers, wog ich - so gut es mir in meiner Lage möglich war - alle Vor- und Nachteile ab. Ich dachte an Ralf. Ich dachte an meinen Freund. Ich dachte an meine Familie daheim, und dann dachte ich an Marco. Es müsste doch möglich sein, noch ein paar Tage länger bei ihm bleiben zu können. Und ohne es richtig zu begreifen, was ich da tat, murmelte ich: "Ja, okay." Es kam ganz automatisch heraus, ohne dass ich mir nun wirklich bewusst war, was das letztendlich für mich bedeuten würde. Aber nachdem ich zugestimmt hatte, fühlte ich mich gut und hätte am liebsten sofort angefangen.
Ganz ohne Stadtplan fand ich zurück zu Marcos Wohnung, als wollte mir die Stadt sagen, siehst du, so leicht kann man sich hier zurechtfinden. Marco und Ralf waren schon da, als ich kam. Ralf war von seinem Vorstellungsgespräch nur wenig begeistert und fragte mich, ob ich Lust hätte, morgen mit nach Düsseldorf zu fahren. Ich grinste und sagte: "Morgen? Morgen ist ganz schlecht. Es macht wirklich keinen guten Eindruck, gleich am ersten Arbeitstag zu fehlen ..."



Eingereicht am 05. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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