Ein Stern unter vielen
© Victoria Süß
Nachts sind alle Katzen grau. Diese Tatsache nutzte Beate zu ihrem Vorteil. Jeden Abend schlich sie sich aus dem Haus, auf die große Straße. Es regnete und das Wasser bildete einen dünnen Film auf dem Bürgersteig, auf dem sich die Lichter der Läden spiegelten. Beate war froh ihr Spiegelbild darin nicht sehen zu können.
Mit ihren zerzausten Haaren spazierte sie durch die Gegend. Dabei vergaß sie ihre Sorgen, den tristen Alltag, ihr Aussehen. Die Dunkelheit bettete sie sanft in das Nachtleben ein und machte sie zu einem Teil dessen. Nicht viele Menschen waren um diese Zeit unterwegs. Aber genau das war der Grund für Beates nächtliches Aufbrechen. Sie war irgendjemand in einer großen Stadt und ging in der Masse unter. Nachdenklich schaute sie zum Himmel hinauf, sinnte dabei über die Bedeutung des Lebens. Von einer Sekunde auf
die nächsten überkam sie ein Gefühl von Müdigkeit, welches sich rasch in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Sie seufzte leise und schloss die Augen. Gegen die Melancholie war sie stets machtlos.
Am Himmel waren bereits die ersten Sterne zu sehen, die hell funkelten. Jeder davon eine eigene Sonne, jedoch keine so groß wie unsere. Ein Stern allein war zwischen vielen kaum auszumachen und trotzdem bildete er ein Teil des Ganzen. Und war wichtig.
Beate lebte zurückgezogen und fühlte sich oft einsam.
Sie hasste ihre äußere Erscheinung und verübelte es nicht mal mehr jemandem, der ihr das mit Blicken oder Kommentaren zu verstehen gab. Doch sie wusste nicht weiter. In ihren Augen war die einzige Lösung sich von den Menschen fernzuhalten und in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Ihr Leben war ein grauer Scherbenhaufen, den man nicht mehr zusammenfügen konnte. Beate ahnte jedoch nicht wie in diesem Augenblick ihre grünen Augen leuchteten. Von weitem waren sie einem jungen Passanten aufgefallen. Er sah nur eine
undeutliche Silhouette, die den Weg zum Park einschlug.
Beate hatte genug von den bunten Lichtern und Reklametafeln, sie wollte sich in Ruhe auf die Wiese legen. Jetzt war der kleine Park besonders schön.
Abends trieb sich dort für gewöhnlich niemand herum und er gehörte ihr allein. Die dunklen Bäume mit den verfärbten Blättern, der stille Teich, ein sanfter Windhauch. Bald würde der Winter hier einziehen und alles mit einem schweren weißen Teppich bedecken.
Einerseits freute sie sich darauf, andererseits würde es sehr kalt werden. Noch hatte sie zwar eine Bleibe, aber meistens hielt das nicht lange an. Jetzt wollte sie jedoch nur den Zauber der Natur genießen und ihren Kummer verdrängen. Langsam lief sie den Abhang hinunter und blickte in einen großen dunklen Spiegel.
Beleuchtung gab es kaum, sodass sie nicht viel erkennen konnte. Beate widersetzte sich dem inneren Drang das Gesicht abzuwenden. In Gedanken versunken starrte sie sich an und nahm um sich herum nichts wahr.
Er war ihr die ganze Zeit schon nachgeschlichen, um zu sehen wo ihre kleine Reise enden würde. Noch wollte er sie nicht erschrecken, außerdem genoss er ihren Anblick. Diese Traurigkeit hatte irgendetwas Fesselndes. Nach einigen schier endlosen Minuten wagte er es doch näher zu treten. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Aber sein Gefühl verriet ihm, dass er äußerst vorsichtig vorgehen sollte, da sie sonst weglaufen würde. Ehe er sich versah trat er auf einen schmalen Stock, der unter seinen Füßen zerbrach.
Innerlich fluchend schloss er mit zusammengeknirschten Zähnen die Augen. Einige Sekunden lang traute er sich nicht sie wieder zu öffnen. Er befürchtete sie könnte weg sein. Als er wieder aufblickte schien sie tatsächlich wie vom Erdboden verschluckt. Seufzend lief er umher, auf der Suche nach den wie Sterne funkelnden Augen. Einer inneren Intuition folgend lief er um einen kleinen Busch herum und schaute halbherzig hinter einen Baum. Dort stand sie mit wildem Herzschlag und jederzeit zum Loslaufen bereit. Ihr
Beobachter wollte versuchen Vertrauen zu schaffen und reichte ihr lächelnd seine große Hand. Momente verstrichen in denen jeder von ihnen im Augenpaar des anderen versank. Als Beate bewusst wurde, dass sie nun an der Reihe war etwas zu unternehmen, kam sie einen winzigen Schritt auf ihn zu. Sein Lächeln verstärkte sich und erhellte sein gesamtes Gesicht. Gott, war er schön! Sie kam noch näher und schmiegte ihren Kopf sachte an ihn. Er ging in die Hocke und nahm sie ohne lange zu zögern auf den Arm.
"Ich denke, eine Haarbürste und etwas zu essen würden dir gut tun. Du siehst ganz schön mitgenommen und abgemagert aus", scherzte er auf eine lockere Art.
Diesmal traf Beate dieser Kommentar nicht, sie fühlte sich weder beleidigt noch verletzt. Ob er sich wirklich ihrer annehmen würde? Um ihn dahingehend zu beeinflussen begann sie kurzerhand zu schnurren.
"Ich wusste gar nicht, dass in der Großstadt nachts Katzen unterwegs sind."
Eingereicht am 08. Oktober 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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