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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Freund und Feind

© Frank Strick


Die Frau kommt ins Zimmer. Er steht am Fenster und sieht hinaus. Die Wohnung liegt im dritten Stock. Er kann keine Jahreszeit erkennen, da es dort draußen keine Pflanzen gibt, weder Bäume noch Sträucher, und die gegenüberliegende Hauswand ist sehr nah und sehr hoch und lässt kein Licht in die Straßenschlucht fallen, an dem er Winter oder Sommer ausmachen könnte. Durch das geschlossene Fenster dringt kein Geruch. Er beugt sich vor und versucht, die Straße auszumachen. Er weiß, dass der Winkel zu steil ist, und dass er sie nicht ausmachen kann, und auch nicht die Menschen und ihre Kleidung.
Es ist Winter, denkt er, und du kriegst nichts davon mit hier drinnen, und es könnte genauso gut Sommer oder Herbst sein, ohne dass du es mitkriegst. Du solltest in ein anderes Land, denkt er, an den Äquator, wo es nur eine Jahreszeit gibt, und wo es immer warm ist. Er weiß, dass das nicht möglich ist. Er weiß, dass sie ihn suchen dort draußen. Dieselben Menschen, die ihn in den Krieg geschickt haben, als sie noch seine Freunde waren. Menschen, die keine Ahnung haben, was Krieg bedeutet. Menschen, die heute behaupten, dass es ein Verbrechen ist, Gefangene zum Reden zu bringen. Menschen, die behaupten, dass es ein Verbrechen ist, wenn der Feind dabei stirbt. Er würde ihnen gerne zeigen, was Krieg bedeutet. Er greift mit der linken Hand die Fensterklinke, dreht sie in die Waagerechte und öffnet das Fenster. Er beugt sich nach draußen und sieht und riecht, dass es Winter ist. Er blickt nach oben, in die kalte, klare Luft. Er spürt die Kälte im Gesicht. Er blickt nach unten und sieht die Menschen und ihre Kleidung. Sie schützen sich mit Pelzmänteln und Daunenjacken und Mützen gegen die Kälte. Im Irak, da gibt es keine Jahreszeit. Im Irak, da gibt es Krieg, nichts als Krieg, da gibt es Kampf und Blut und zitternde, nackte Leiber, und das Sterben.
"Bitte, du weißt, dass es nicht gut ist, wenn du dich im Fenster zeigst."
Er schließt das Fenster und dreht sich zur Frau um. Er weiß, dass sie Recht hat, er hat es ihr selber gesagt. "Sei nicht so streng", sagt er, "ich stecke nur meine Nase da raus."
Die Frau steht an die Couch gelehnt, die in der Mitte des Zimmers zum Fernseher hin ausgerichtet ist. Die Frau versteckt ihn vor den Menschen, die heute seine Feinde sind. Sie hilft ihm nicht, weil sie weiß, was Krieg bedeutet. Sie hilft ihm, weil sie ihn liebt.
"Ich ziehe die Hose an", sagt die Frau, "in der mein Po so schön aussieht."
Er lehnt seine Hüfte an das Fensterbrett. Die Oberschenkel sind an die Rippen des Heizkörpers gedrückt. Die Rippen sind heiß. Die Hitze ist ihm angenehm. Das ist der Winter, denkt er, die heißen Rippen des Heizkörpers und die trockene Wärme, die er ausstrahlt, und die mich so schläfrig macht. Die Schläfrigkeit ist ihm angenehm.
"Ja", antwortet er, "die mit dem schönen Po."
Sie haben vorher miteinander geschlafen, was seine Schläfrigkeit verstärkt. Die Frau hat ihren Morgenmantel übergezogen.
"Der Schneider", fährt sie fort, "er sagt, dass die Hose wie für meinen Po gemacht ist."
Der Heizkörper brennt ihm durch den Stoff seiner Hose hindurch heiße Streifen in seine Schenkel. Er bewegt die Beine, sodass die Rippen eine andere Stelle wärmen.
"Ich finde, dass es eher Röcke sind, die für deinen Po gemacht sind", sagt er.
Sie sieht an sich runter und streicht sich mit der Hand über das Becken.
"Du meinst, mein Po ist für Röcke gemacht?"
Er stößt sich vom Fensterbrett ab und von der angenehmen Hitze des Heizkörpers und steht jetzt sehr aufrecht, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt.
"Ein Po ist nicht für Röcke gemacht", sagt er, "noch ist er für sonst etwas gemacht, außer fürs Scheißen vielleicht."
Sie mag es nicht, wenn er so redet.
"Es ist Winter und sehr kalt da draußen", sagt sie. Ihr Kinn zeigt zum Fenster hin.
"Es gibt Röcke, die sind für den Winter gemacht", erwidert er.
Sie streicht sich erneut über das Becken. "Mein Po ist für den Sommer gemacht, ein Sommerpo."
"Und im Winter?", fragt er.
"Im Winter", antwortet sie, "da versteckt er sich in Hosen."
Er sieht sie hart an. Die Schläfrigkeit verschwindet. "Dein Schneider ist ein Lügner."
Sie weicht seinem Blick aus. "Lass uns damit aufhören, bitte."
"Ja", willigt er ein, "es ist wohl, weil wir miteinander geschlafen haben."
Sie zieht den Morgenmantel eng an den Körper. "Lass uns über etwas anderes reden", schlägt sie vor.
"Ich will nicht über etwas anderes reden."
"Man kann über alles reden", sagt sie.
"Ich will aber nicht."
Sie schweigen.
"Was hat er noch gesagt?" fragt er dann.
"Du meinst den Schneider?"
"Ich meine den Schneider", bestätigt er.
"Dass er den Schnitt nachbessert, wenn es vom Komfort her nicht passt, aber dass es aussieht, als wäre die Hose für meinen Po gemacht."
"Ist sie doch auch, denn du bezahlst ihn dafür."
"Jetzt sei ein bisschen anders", bittet sie ihn, "das sagt man doch so."
"Nichts sagt man so", widerspricht er ihr, "man sagt etwas, oder man lässt es bleiben."
Sie sagt nichts, sie sieht geradeaus, rechts an seinem Kopf vorbei, auf die gegenüberliegende Hauswand, und dann schlägt sie die Hände vor das Gesicht. Er sieht ihr an, dass sie gleich weinen wird. "Weine nicht", sagt er zu ihr, "und nimm die Hände aus dem Gesicht."
Sie weint nicht und nimmt die Hände aus dem Gesicht und dreht das Gesicht so, dass er sieht, dass sie nicht weint.
"Warum bloß liebe ich dich, du bist so gemein."
"Ja, das bin ich wohl", bestätigt er. Er sieht sie lange an. Sein Blick ist immer noch hart, er ist es die ganze Zeit über gewesen. Die Schläfrigkeit ist jetzt vollkommen verschwunden. "Dein Frisör ist auch ein Lügner", sagt er.
Sie wendet ihr Gesicht von ihm ab. "Sei nicht so gemein."
"Es ist mir lieber, als zu lügen", erwidert er.
"Ich hasse dich", sagt sie.
"Zieh einen Rock an", erwidert er, "und dann brauchst du mich nicht zu hassen."
"Du meinst, dass ein Rock dich zum freundlichen Mann macht?"
Zum freundlichen Lügner, denkt er, denn es gibt nur eine Wahrheit, und die kennt keiner, also was bleibt einem schon übrig, außer der Lüge, und die unterscheidet sich nur dadurch, dass sie gut ist oder schlecht. Laut sagt er: "Dein Po macht mich zum freundlichen Mann."
Sie wendet ihm ihr Gesicht wieder zu und versucht ein Lächeln. "Lass uns freundlich zueinander sein, bitte."
Er fängt an, auf den Fußballen zu wippen. "Ich scheiße auf deine Freundlichkeit."
"Bitte, du könntest es zumindest versuchen", sagt die Frau und gibt ihr Lächeln auf.
"Ich will es nicht versuchen."
"Ich hasse dich."
Er hört auf zu wippen. "Geh ins Badezimmer, bade dein Gesicht in kaltem Wasser, sieh es dir im Spiegel an, und dann sagst du mir, was du siehst, und dass du mit ihm geschlafen hast."
Sie schüttelt den Kopf. "Du meinst den Frisör?"
"Ich meine den Frisör", bestätigt er, "und den Schneider."
"Ich habe mit keinem von beiden geschlafen."
Er fängt wieder an zu wippen. "Du bist eine Lügnerin."
"Lass das, bitte."
Sie wendet sich ab. Sie geht aus dem Zimmer, und er geht zur Couch und setzt sich zurecht und denkt, dass er ein Schwein ist und dass es ihm egal ist, und dass es der Krieg ist, der einen dazu macht, und dass es ihm egal sein wird, bis er stirbt, und da kommt dann für ein paar Minuten die Reue, wenn es so ist, wie man sich erzählt. Vielleicht sind es auch nur ein paar Sekunden. Man erzählt es sich vor allem dort, wo der Tod ein ständiger Begleiter ist. Manche behaupten, dass er zu deinem Freund wird. Er weiß, dass das eine Lüge ist. Jemand, der dir nicht von der Seite weicht, ist noch lange nicht dein Freund. Er hat ihn gesehen, in den Augen seiner Feinde und in den Augen derer, die sich seine Kameraden nannten. Er ist nicht dein Freund, und er wird es nie werden. Er ist der Tod. Und wer etwas anderes behauptet, der hat keine Ahnung. So, wie die keine Ahnung haben, die heute, wo der Krieg vorbei ist, den Tod zum Verbrechen machen. Im Krieg, da gibt es kein Verbrechen. Er weiß, wovon er redet. Der Tod ist kein Verbrechen. Der Tod ist der Tod.
Er beugt sich zum Beistelltisch neben der Couch und nimmt den Wodka, den er sich vorher eingeschenkt hat. Vielleicht ist es so, überlegt er, dass die, die den Tod für einen Freund halten, ihn mit dem Teufel verwechseln. Das Eis ist geschmolzen, aber der Wodka hat eine gute Temperatur. Er dreht und wendet das Glas und trinkt einen Schluck und lässt den Wodka über die Zunge laufen und spielt mit seiner Temperatur und der Schärfe, die er hat. Dort, wo er sitzt, haben sie vorher miteinander geschlafen. Die Couch ist verrückt. Er steht auf und rückt sie zurecht. Er gibt ihr einen Stoß mit seiner Hüfte und verschüttet etwas von dem Getränk. Ein paar Tropfen benetzen seinen Handrücken. Er wischt ihn an der Hose trocken und rückt die Couch zurecht, bis sie eine parallele Linie zum Bildschirm des Fernsehers bildet. Er setzt sich wieder hin. Die Reue vor dem Tod ist etwas, an das er glaubt. Er glaubt sehr daran. Vielleicht ist es das Einzige, an das er glaubt. Vielleicht glaubst du daran, überlegt er, weil du es nicht verstehst. Aber es ist nur ein kleiner Bruchteil des Lebens, überlegt er weiter, fast schon der Tod ist es, und heute bist du ein Schwein, und es ist dir egal. Es stimmt nicht, denkt er und trinkt das Glas leer und stellt es zurück auf den Beistelltisch, es ist dir nicht egal, du bist stolz auf das Schwein in dir, denn es ist das Einzige, was dir geblieben ist. Es grunzt und beißt in dir und macht Dinge, die keiner verzeiht.
Die Frau kommt zurück. Sie steht in der Tür. "Wo ist meine Hose?"
Er ignoriert ihre Frage. "Was hast du gesehen?"
"Eine Frau, die unglücklich ist", sagt sie, "wo ist meine Hose?"
"Im Keller, da hängt dein Schneider dran", antwortet er.
"Red nicht so", bittet sie ihn.
"Du glaubst mir nicht."
"So redet man nicht", sagt die Frau.
"Du glaubst, dass ich lüge", sagt er.
"Bitte lass das."
"Sieh nach, wenn du glaubst, dass ich lüge", sagt er, "ich habe ihn erhängt." Er deutet mit einem Kopfnicken in die Richtung der Wohnungstür. "Gestern, als du einkaufen warst und er an deine Wohnungstür klopfte, um mit dir zu schlafen."
"Ich sehe nicht nach."
"Sag, dass du mit ihm geschlafen hast", fordert er.
"Ich hasse dich."
"Mach, was du willst", sagt er.
"Und was willst du?" will sie wissen.
"Ich will, dass du mir sagst, dass du mit ihm geschlafen hast."
"Ich hasse dich."
"Wenn es das ist, was du willst."
"Ich sehe nach." Sie dreht sich zum Flur hin.
"Mach das", sagt er, "auch, wenn es kein schöner Anblick ist."
Die Frau geht, und er denkt sich, dass er ein Schwein ist, aber dass er es nicht anders will, und dass jeder das machen sollte, was er will, und dass alles andere, was man macht, vergeudet ist. Er fragt sich, ob sie es ihm jemals geglaubt hätte, ohne nachzusehen. Er stellt sich ihr Gesicht dort unten vor, wenn sie es sieht. Sie ist eine tapfere Frau, wenn es nicht um ihn und sie geht, aber dort unten, da geht es um nichts anderes. Er steht auf und geht in die Küche und macht sich einen neuen Wodka. Er kommt zurück und setzt sich in der Couch zurecht, dort, wo sie miteinander geschlafen haben, und er wartet darauf, dass das Eis schmilzt. Er dreht und wendet das Glas und hört die Eiswürfel knacken und klirren. Er nimmt einen Schluck und schmeckt die Temperatur und beschließt, noch zu warten. Er lehnt sich in die Polster zurück und horcht auf die Eiswürfel, und er denkt an das Schwein in ihm, hört es grunzen und beißen, und es hört nicht auf, bis die Frau zurückkommt.
Sie hat einen Revolver in der linken Hand. Er steht auf und dreht sich zu ihr hin. Er sieht die Waffe. Der Lauf ist auf seine Brust gerichtet. Er kennt den Revolver. Er stellt das Glas auf den Beistelltisch.
"Wo hast du den her?", fragt er sie.
Sie setzt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Sie schlägt die Beine übereinander. Sie legt erst das rechte Bein über das linke und wechselt dann. Der Morgenmantel öffnet sich über ihren Beinen. "Das kann dir egal sein."
Er deutet auf ihre Hand. "Seit wann bist du Linkshänderin?"
"Schon immer gewesen", erwidert sie, "bloß, dass es dir nie aufgefallen ist."
Sie steht auf. Sie ist unruhig. "Und jetzt ist es zu spät."
"Zu spät für was?", will er wissen.
"Für alles", erwidert sie, "du hast ihn umgebracht."
"Ein scheußlicher Anblick, nicht wahr?"
Sie nickt. "Ja", sagt sie, "eine scheußliche Sache, und ich habe dich so sehr geliebt, weil ich an dich geglaubt habe, von Anfang an, doch jetzt ist alles vorbei."
"Ich wusste, dass du mit ihm geschlafen hast", sagt er, "und so gut solltest du mich kennen, dass du weißt, wie das endet."
Sie schüttelt den Kopf. "Ich habe nicht mit ihm geschlafen, und wenn du alle Männer erledigen willst, mit denen ich nicht geschlafen habe, dann ist das eine sehr scheußliche Sache."
Er sieht sie an. "Du Lügnerin, ich habe ihn umgebracht, weil du mit ihm geschlafen hast."
Sie sieht ihn ebenfalls an, und es ist keine Angst und keine Liebe in ihrem Blick, nur die Unruhe. "Also gut", sagt sie, "wenn du alle, mit denen ich tatsächlich geschlafen habe, wenn du die alle umbringen willst, dann kannst du bei dir selber anfangen."
Er lächelt. Er verschränkt die Arme vor der Brust. Er sieht sie mit dem harten Blick an. "Ich habe keine Waffe."
"Würdest du es tun?" Sie macht eine Geste, als würde sie ihm den Revolver geben, sie hält ihn ihm hin, doch ihr Finger bleibt am Abzug, und der Lauf des Revolvers bleibt auf ihn gerichtet.
"Einen Scheißdreck werde ich", erwidert er, und sein Blick ist auf den Revolver gerichtet, und es ist ihm egal, ob er mit seiner Antwort eine Gelegenheit vertut, "einen Scheißdreck werde ich tun, woher hast du die Waffe?" Er kennt den Revolver, und er weiß nicht woher. Schade, denkt er, ich weiß nicht, ob er geladen ist, ich müsste ihn von hinten sehen, dann würde ich vielleicht sehen, ob in den Kammern Patronen sind. Wenn es meiner wäre, denkt er weiter, dann wäre er geladen, aber es ist nicht meiner, auch wenn ich ihn kenne.
"Warum bist du so gemein?" will die Frau wissen, "ich habe dir nie einen Grund dafür gegeben."
Die Frau, denkt er, für sie gibt es außer sich selber keinen Grund für mein Tun, was ist sie bloß für ein ignoranter Scheißkerl.
"Ich bin nicht gemein", sagt er laut, "ich bin ehrlich."
Er geht einen Schritt zur Seite, in der Hoffnung, von hinten einen Blick auf die Revolvertrommel zu ergattern. Wenn die Kammern, die ich sehen werde, wenn die leer sind, denkt er, dann ist das ein gutes Zeichen, auch wenn ich die Kammer, welche die Patrone trägt, die vom Bolzen durch den Lauf geschickt wird, und die meinen Tod bedeutet, auch wenn ich diese Kammer nicht werde sehen können, ein gutes Zeichen wäre es allemal. Der Lauf bewegt sich mit ihm mit.
"Was ist los", fragt die Frau, "bist du unruhig?" Sie tut einen Schritt zurück, um ihm nicht zu nahe zu sein, denn sie weiß, dass er schnell und erfahren ist. "Gerne würde ich dich einmal unruhig sehen", fährt sie fort, "und jetzt hättest du allen Grund dazu."
"Ich bin nicht unruhig", antwortet er, und macht noch einen Schritt seitwärts, "und ich bin es nie gewesen." Er schweigt eine Weile und denkt nach.
"Das einzige Mal, dass ich unruhig war", berichtigt er sich dann, "das war, als unsere eigenen Leute uns bombardierten, aus der Luft, weil die Wolken so tief hingen, dass sie nicht erkennen konnten, dass wir die feindlichen Linien durchbrochen und den Feind zurückgedrängt hatten." Ja, denkt er, wer da nicht unruhig wird, der steht mit dem Teufel im Bunde. "Aber das ist lange her," fährt er fort, "und heute würde ich nicht unruhig werden." Er sieht sie an. "Da wärest du auch unruhig geworden, mein Schatz. Im Rücken den Fluss, vor dir den Feind, und über dir die fallenden Bomben."
Sie nickt. "Ich werde schon bei ganz anderen Sachen unruhig."
"Mein Schatz", sagt er, und macht eine schnelle Bewegung, und sie reagiert, indem sie den Finger krümmt, und der Bolzen schlägt auf die Patrone auf, und die Patrone wird zum Geschoss, sie kommt schnell, schneller als seine Bewegung, durchschlägt seine Brust und die Lunge und bleibt im Rückgrat stecken. Er geht in die Knie, richtet sich auf und fällt auf die Seite. Sie geht zu ihm hin, den Lauf der Waffe auf ihn gerichtet. Sie beugt sich über ihn. Seltsam, denkt sie, wie schnell das geht, wo es mir doch immer so fern lag. Blut läuft zwischen seinen Lippen hindurch und in den Teppich, obwohl der Mund verschlossen ist. Sie schleudert die Waffe mit einer schnellen Bewegung von sich. Sie sieht auf das Blut. Sie hat den Teppich nie gemocht. Wegen seiner Farbe, und weil er schon da war, als sie hier einzog, und irgendwo auch, weil er ihn nicht mochte. Dafür bist du gerade gut, sagt sie zum Teppich, du Blutsauger. Ihre linke Hand schmerzt. Sie umschließt den gekrümmten, steifen Zeigefinger mit der Rechten und streckt ihn und massiert die linke Hand. Sie sieht auf seine Hände, die zu Fäusten geballt sind und an den angewinkelten Unterarmen aufsetzen wie zum Schlag bereit. Das Blut hat sich in seinem Mund gesammelt, und er ist jetzt voll davon und öffnet sich, um dem Druck nachzugeben. Ein Blutschwall ergießt sich über den blauen Teppich. "Du elender Scheißkerl", sagt sie, "ich habe dich so sehr geliebt."



Eingereicht am 30. September 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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