Der Brief des Herrn Jedermann
© Enrico Andreas Brodbeck
Heinrich Jedermann, geboren am 24.06.1915, gestorben 24.06.2005.
"Ruhe in Frieden und mögest du im Jenseits die Erfüllung finden." So steht es eingemeißelt auf einem kleinen Grabstein, der als einziges Zeugnis seines Daseins auf dem Urnengrab aufgestellt worden war.
Als man seinen angewesten Leichnam am Anfang der Woche in seiner kleinen Zweizimmerwohnung fand, hatte sich sein Kopf mittlerweile auf dem Küchentisch abgesenkt. Neben dem Kopf lag ein Abschiedsbrief, auf dem die rechte Hand mit der Schreibfeder am letzten Wort erstarrt war. Die junge Hilfskraft des Pflegedienstes, die fünfmal in der Woche jeden Morgen zu Herrn Jedermann kam, um ihm bei seinen täglichen Erledigungen zur Hand zu gehen, hatte angenommen, dass Heinrich Jedermann an seinem Sekretär eingenickt war.
Sie mochte den alten Herrn, da er ihr mit seinen Lebensweisheiten und seinem ungebrochenen Optimismus immer einen Anstoß für den betrüblichen Lebensalttag mit auf den Weg gegeben hatte. Deshalb war es für sie auch unvorstellbar, als der Notarzt attestierte, dass Herr Jedermann seinem Leben wahrscheinlich selber ein Ende gemachte hatte. Die Korridortüre zu der Wohnung von Herrn Jedermann war weit geöffnet, so dass man das Geschehen in der Wohnung leicht verfolgen konnte. Ein paar Nachbarn hatten sich aus Neugierde
vor der Türe eingefunden, da sie die Ankunft des Notarztes von ihren Wohnungen aus mitbekommen hatten.
"Ausgerechnet der Herr Jedermann", flüsterte eine ältere Dame ihre Nachbarin zu, "war immer ein feiner Mensch gewesen und nun so etwas!"---"Weiß man schon etwas näheres über die Todesursache", fragte die rüstige Dame neben ihr, und machte ein mitleidsvolles Gesicht. "Nein noch nicht, aber ich meine gehört zu haben, dass die junge Frau vom Pflegedienst sich bestürz darüber geäußert hatte, dass Herr Jedermann wohlmöglich keines natürlichen Todes gestorben ist!"---"Ach
Herr Gott, ist er denn überfallen worden?"---" I wo, wo denken sie denn hin Frau Müller, Suizid sacht man heute dazu."---"Oh Gott, oh Gott wie schrecklich, dass tut man doch nicht, man darf sein Leben doch nicht einfach so wegwerfen!"---"Ach, Frau Müller, Sie immer mit Ihrer religiösen Einstellung, was nützt einem der religiöse Beistand, wenn einem der Sinn an einem Leben in dieser Gesellschaft gänzlich verloren gegangen ist?"---"Aber Selbstmord ist doch keine Lösung!"---"Ich
weiß nicht Frau Müller, so prickelt ist unser Dasein nun wirklich nicht und wer weiß schon, wie lange wir noch Leben?"---"Aber Frau Schmitz, nun malen Se den Teufel aber nicht an die Wand, als ob das Leben uns nichts mehr zu bieten hätte!"---"Ach nee, Frau Müller, betrachten Sie doch das Leben von Herrn Jedermann mal genauer, vor 15 Jahren ist seine Frau verstorben, seitdem lebt er alleine und zurückgezogen in seiner Wohnung."---"Ja aber Frau Schmitz, da waren doch bestimmt auch
Kinder und Enkelkinder, oder?"---"Ja sicher, Kinder sind auch da, aber mit denen hat er sich nicht so gut verstanden!" --- "Wat Ssie so alles wissen über den Herrn Jedermann, Frau Schmitz!"---"Papalapp, was Sie so denken Frau Müller, das hatte er mir vor ein paar Jahren so beiläufig erzählt."---"Demnach hatten seine Kinder, es sind im Übrigen vier an der Zahl, also die hatten angestrebt ihn zu entmündigen, um vorzeitig an ihr Erbe zu kommen."---"Och, wat Sie nicht
sagen, war denn der Herr Jedermann vermögend?"--- "Och ich glaube schon Frau Müller, wäre zumindest eine gute Partie gewesen für Sie!"--- "Ach hörn Se doch auf, wat Sie immer so denken!"---"Aber im Ernst, Frau Müller, seine Frau war ja auch eine sehr nette Person gewesen, immer adrett, fein angezogen, aber nie hochnäsig."--- "Und die hatte mir einmal erzählt, dass ihr Heinrich einen guten Posten bei einer renommierten größeren Firma hatte, und das sie weiß Gott nicht am
Hungertuch nagen mussten."---"Is ja richtig interessant, was Se da erzählen Frau Schmitz, dass wusste ich ja noch gar nicht."---"Wie auch Frau Müller, die Jedermanns waren nach seiner Pensionierung immer auf Achse und so --- so Afrika wissen Se, Amerika und bis nach Thailand sogar."---"Ach, hört sich das gut an, so romantisch, finden Se nich auch, davon träumt unser einer doch immer nur davon!"---"Aber hätte er die Reisen nicht fortsetzen können Frau Schmitz, hätte ihn
bestimmt über die Trauer hinweggeholfen!"---"Nee, nee Frau Müller, den Tod seiner Frau hatte der Herr Jedermann nie überwunden, tat mir damals richtig Leid der Mann, denn schließlich hatten sich er und seine Frau während der Schulzeit kennen gelernt."---"Ja, ja Frau Schmitz ich muss zugeben, dass mir der Mann auch gefallen hätte, war mit seinem hohen Alter noch das blühende Leben und richtig nett, zuvorkommend und so galant!"---"Ja Frau Müller, da muss ich Ihnen zustimmen, dass muss
eine richtige tolle Ehe gewesen sein, die Herr und Frau Jedermann geführt hatten, und dabei ist ihr Leben auch nicht gerade rosig verlaufen --- Sie wissen schon Krieg, Verwundung, Verschollen und zu Letzt noch die Gefangenschaft!"---"War eine schlimmer Zeit damals, als die Männer aus der Gefangenschaft nach Hause kamen und sich so verloren und hilflos vorkamen und so orientierungslos waren, mein Heinz ist damals seelisch daran zugrunde gegangen."---"Und jetzt nach all den Jahren auch der Herr
Jedermann, jetzt, jetzt wo wir doch alles überwunden haben."
Tränen bildete sich in ihrem Augenwinkel und bahnten sich ihren Weg über die Wangen hin zum Kinn. Als der Leichenwagen vor dem Haus zum Stehen kam wendeten sie sich betroffen von dem Geschehen ab und gingen jeder für sich wieder in ihre eigene ruhige Wohnung.
In der Kapelle "Zum ewigen Frieden" hatte man den schweren Eichensarg aufgebart. Rings um den Sarg herum hatte man die Schalen und Kränze, die mit Grußbotschaften auf schlichten Banderolen verziert waren, aufgestellt. Die Vielzahl der Bezeugungen zeugte davon, dass Herr Jedermann trotz seines hohen Alters ein geliebter Zeitgeist war, den jedoch viele Bekannte nicht überlebt hatten. Sie hatten dieses Amt, zu Ehren Herrn Jedermann, testamentarisch festgelegt. Eine kleine Gruppe älterer Herren, die von
ihren Angehörigen gestützt wurden, gingen ehrenbezeugend an seinen Sarg und grüßten zum letzten Appell. Es waren die letzten seiner Kameraden aus dem großen vaterländischen Krieg, für die es nicht eine lästige Pflicht war, hier zu erscheinen. Seine Kinder und Enkelkinder, hatten in den ersten Reihen der Sitzanordnung Platz genommen und waren erstaunt über die rege Anteilnahme. Als der Pfarrer den regulären Teil der Trauermesse abgeschlossen hatte, ging er zum Stehpult und nahm einen Brief aus seinem Gewand. Es
war der Abschiedsbrief von Herrn Jedermann, den man an seinem Todestag neben ihm auf dem Sekretär gefunden hatte. Es war der Letzte Wille von Herrn Jedermann, dass sein Abschiedsbrief nach der Messe verlesen würde. Der Pfarrer schaute betroffen in die Runde der Trauergemeinde und richtete seinen Blick an jeden einzelnen. Dann senkte sich sein Blick und er las mit ruhiger kräftiger Stimme die letzten geschriebenen Worte des Herrn Jedermann:
Liebe Hinterbliebenen, die ihr, so hoffe ich, doch zahlreich erschienen seid. An euch richte ich nun meine letzten geschriebenen Zeilen, in der Hoffnung, dass ihr meinen Entschluss versteht und akzeptiert. Allen religiösen Einwänden zum Trotz, habe ich mich nach langem Dafür und Dagegen entschlossen, mein Ableben selber in die Hand zu nehmen. Viele von euch werden meinen Schritt nicht verstehen, geschweige den billigen. Aber, und die Frage stelle ich euch, was hatte ich vom Leben noch zu erwarten? Als vor 15
Jahren meine liebe Frau und Weggefährtin von mir ging, trat eine große Leere in mein Leben, die sich ausbreitete wie ein Schwarzes Loch, das mit seiner großen Energie mir jeglichen Lebensmut nahm. Heute weiß ich, dass meine liebe Ruth für mich der Engel auf Erden war, der mir mit all seiner Liebe und seiner Güte in vielen Lebenslagen den notwendigen Antrieb gab durchzuhalten oder weiter zu leben. Unsere gemeinsame Geschichte begann während der Schulzeit, also zu einer Zeit, als man uns noch die Tugenden einer
Gesellschaft mit straffer Hand zu vermitteln suchte. Geboren wurden wir beide zu einer Zeit, als die Familienchroniken noch mehr als eine Generation in einem Haushalt vorzuweisen hatte. Es war zu einer Zeit, als man einer Kaiserelite vertraute. Doch deren Glanz und Gloria verblasste schließlich und als eine neue Elite von Führungsriege es sich zur Aufgabe machte unser Geschick in die Hand zu nehmen, hatte unsere Generation verloren obwohl man uns den Himmel auf Erden vorgaukelte. Wir waren regelrecht benommen
von der Idee, als Herrenrasse zu gelten. Ruth und ich hatten einander versprochen für immer füreinander da zu sein. Von da an war meine Ruth für immer in meinem Herzen. Sie war bei mir in meinem Herzen, als ich in den Schützengräben lag und für eine Ideologie kämpfte. Sie war in Gedanken bei mir, als ich als vermisst galt und ich nicht wusste ob ich die Heimat jemals wieder sehen würde. Sie gab mir die Kraft zum Überleben, als ich in Gefangenschaft geriet und sich die Führung des Siegerlandes anschickten meinen
starken Lebenswillen zu brechen. Ruth war der rettende Engel an meiner Seite, der mir, wie bei einem kleinen Kind, die hilfreiche Hand entgegen hielt, als ich 1954 aus der Gefangenschaft entlassen wurde und ich erkannte, dass das Leben in der Heimat ohne mich vorangegangen war. Sie hatte lange Zeit unser Geschick in der Hand und hat mir immer das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden. Während der Währungsreform schafften wir es gemeinsam als starkes Team aufzutreten und der Unbill dieser Zeit zu trotzen. Wie
bei anderen jungen Paaren auch, waren Kinder für uns der Inbegriff einer funktionierenden Familie. Es war eine schlimme Zeit, in der Ruth immer mit ihrem ungebrochenen Optimismus den Blick nach vorne richtete. Eine neue Führungsriege bildete sich, die nach dem Willen einer anderen Macht agierten. Wir nahmen das System an, ohne zu bemerken, dass wir unweigerlich in einen neuen Krieg zogen. Es war ein Wirtschaftskrieg, dessen Erfolge sich ebenso grandios darstellten wie die Erfolge der Ideologie von einem dritten
Reich. Wir gewöhnten uns an diesem Erfolg und wir arbeiteten mit der Kraft unseres Geistes und mit der Kraft unseres Körpers. Doch in der Waffenschmiede der Technologie wurden neue Apparaturen geschaffen, die den Einsatz unserer Kräfte überflüssig machte. Diejenigen von uns, die noch in diesem System noch funktionierten, wiegten sich in trügerischer Sicherheit, da wir glaubten, dass wir Kinder, von Gottes Gnaden, im Mittelpunkt dieser Gesellschaft stehen, die zu zweifelhaftem Ruf gelangte. Neue Parolen und Ideale
drängten sich in die Köpfe der Gesellschaft --- Zeit und Geld. Ruth und ich und die Kinder lebten gut und ich schaffte meinen Beruf bis zur Pensionierung. Wir nutzten unsere finanzielle Unabhängigkeit aus, um uns die Träume aus zurückliegenden Zeiten zu erfüllen. Und während wir älter wurden, merkten wir nicht, das wir, die Generation die an der Gestaltung dieses Landes mitgewirkt hatten, zu einem unliebsamen Kostenfaktor in einer Gewinn- und Verlustrechnung wurden, die von einer verschworenen Wirtschaftsklientel
erhoben wurde. Wir, die Generation, die wie Phönix aus der Asche dem Gram entstieg und den Modergeruch der Verwüstung und des Todes hinter sich ließ, ist selber zum Modergeruch dieser jungbrunnenorientierten Gesellschaft geworden. Leider kennen wir die versteckten Defekte in unserem Körper nicht, die wie eine Zeitbombe in uns ticken und im nahenden Alter nach und nach zum Vorschein kommen. Die Zeitbombe in Ruths Körper tickte schneller als es mir recht war. Die Natur ihres Körpers hatte die Weichen für das unabwendbare
Ende schon vor langer Zeit gestellt. Der Krebs war stärker als die Liebe und die Güte, die sie mir in all den Jahren geschenkt hatte. An einem Montag ließ sie mich zurück in dieser Welt, die keine Verwendung für Menschen hat, die nicht mehr den Elan und die Kraft haben, um am Kommerz dieser Gesellschaft teilzunehmen. Nach 15 Jahren ohne Ruth, bin ich es leid, dass meine Genügsamkeit mir zur Last gelegt wird, in einer Gesellschaft, die nur dem Profit abtrünnig ist. Ich bin es leid, das man mir indirekt vorwirft,
dass der Zerfall meines Körpers unnötige Kosten verschlingt, die in einer gewinnorientierten Finanzwelt dieses Landes keine Zustimmung findet. Wie viel Würde ist mir als Mensch noch geblieben, wenn die eigenen Kinder einem nach dem Gelde trachten? Ich bin darüber verbittert und habe testamentarisch festgelegt, dass jenes Geld, das ich an euch zu gleichen Teilen verteilen wollte, vor euren Augen zu Asche verbrand werden soll, um euch daran zu erinnern, dass Geld nicht das bestimmende Element in unserer Gesellschaft
sein sollte. Doch nun bin ich müde und verabschiede mich von euch und gebe meinen Enkeln noch einen Satz mit auf den Weg: Wer das Alter nicht ehrt, ist der Kinder nicht wert. Abschließen möchte ich meinen Brief mit einer Definition von "Alexander Roda Roda": "Das Leben ist eine Schmierenaufführung: Vorher nicht geprobt und elend ausgestattet". In lieber Erinnerung an Ruth, Heinrich Jedermann.
Eingereicht am 30. September 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.