Entscheidung mit Konsequenzen
© Victoria Süß
Wie sollte ich zu einem Entschluss kommen? Alice war meine Tochter und ich liebte sie. In der letzten Woche habe ich sie vernachlässigt, der Fall war für mich erledigt. Sie war zwar noch klein, aber ich hatte eine unglaubliche Wut auf sie. Ich hätte nur handeln müssen, aber am Ende habe ich doch gekniffen.
Nun ist es jedoch anders, seit einigen Tagen betrachtete ich die Welt mit ganz neuen Augen. Ich schämte mich für mein vergangenes Denken und Handeln.
Es war ja meine Schuld gewesen. Was konnte sie dafür, dass ihr Vater plötzlich der Meinung war uns verlassen zu müssen? Einfach so, mir nichts, dir nichts.
Selbstverständlich war mir bekannt, dass das in den besten Familien vorkam. Aber wieso gerade in meiner?
Vermutlich war ihm die Verantwortung zu viel. Dabei habe ich ihm mehrfach versichert, dass ich alles auf mich nehmen würde. Er blockte ab und sagte nur: "Mein Entschluss steht fest, das heißt aber nicht, dass ich dich nicht liebe." Schön, von dieser Liebe kann ich meinem Kind keine Nahrung und Spielsachen kaufen. Von dieser Liebe wird mein Kind auch nichts zu spüren bekommen, denn es hat keinen Vater mehr.
Seufzend versuchte ich diese Gedanken in die Tiefen meines Unterbewusstseins zu verdrängen. Sollten doch daraus Alpträume werden, die mich des Nachts verfolgen würden. Das geschah ohnehin bereits. Ich durfte jetzt nicht in Selbstmitleid versinken, mein Kind brauchte mich. Ich habe ihm schon genug Unrecht getan.
Meine Alice.
Ohne lange nachzudenken sprang ich auf und ging zum CD-Player. Ein wenig Musik würde die Tränen versiegen lassen. Ich drehte mein Lieblingslied laut auf und schaffte es beinahe das eigene Schluchzen zu übertönen.
Dann setzte ich mich zurück auf den Boden und widmete mich der dort liegenden Gegenstände. Um es wieder gutzumachen, habe ich für Alice ein paar Kleindungsstücke und einen großen flauschigen Teddybären gekauft. Überall entfernte ich die Preisschilder und legte die Sachen ordentlich in den Schrank. Wenn sie kam, sollte sie ihre Freude daran haben. Fast hätte ich mir das Allerschönste nehmen lassen. Zum Glück war ich rechtzeitig zur Vernunft gekommen und hatte eingesehen, dass ich sie brauchte.
Denn im Moment war mir bloß noch Leonie geblieben. Als hätte sie meine Traurigkeit und Einsamkeit gespürt, kam sie ins Zimmer geschlichen.
"Hallo Leonie", ich rang mir ein Lächeln ab. Ohne einen Ton von sich zu geben legte sie sich auf die Matratze neben mir und blickte mich mit großen funkelnden Augen an.
Nachdem im Raum alles sorgfältig verstaut war, holte ich die zwei großen Einkaufstüten aus der Küche. Darin befanden sich zehn Holzplatten verschiedener Dicke, aus denen ein Puppenhaus werden sollte. Ich hatte als Kind nie eins gehabt, aber Alice würde es besser haben. Damit sie merkte, wie Leid es mir tat, beschloss ich alles selbst zu bauen. Vom groben Gerüst des Hauses bis hin zu den fingergroßen Püppchen. Diese sollten eine richtige Familie sein. Bei dem Gedanken wollte ich schreien oder auf irgendetwas einschlagen.
Wieso musste er gehen? Warum nur?
Am Abend war ich mit dem Bauen weiter gekommen als ich angenommen hatte. Es lag sicher an Leonie, die mir durch ihre Anwesenheit moralische Unterstützung spendete. Wir würden wieder eine Familie werden, so viel stand fest. Ich hatte meinen Durchhänger, aber langsam bekam ich mich wieder in den Griff. Das erstaunte mich ein wenig, weil es noch keine drei Wochen her war, dass Marc uns verlassen hatte.
Wahrscheinlich waren wir nicht füreinander bestimmt.
Stolz auf mein Tageswerk legte ich mich auf das Sofa um ein wenig fernzusehen. Dabei fiel mir ein, dass ich gestern noch ein Buch über Kindererziehung gekauft hatte. Also schnappte ich mir dieses und versuchte zu entspannen. Leonie setzte sich zu mir, also fing ich an laut vorzulesen. Es schien auch sie zu interessieren, denn ich könnte meinen, dass ihre Augen noch größer als sonst wurden.
Nachdenklich rieb ich mir den Bauch, da ich ein leichtes Hungergefühl verspürte. Ich markierte die Seite im Buch und machte mich auf in die Küche um uns etwas Feines zu kochen.
Ein wenig unter Druck gesetzt fühlte ich mich schon, da ich meine gesamten Ersparnisse für die Geschenke ausgab. Also musste das Puppenhaus wunderschön werden, damit Alice dann sah wie sehr ich sie lieb hatte.
Tag für Tag werkelte ich am Puppenhaus herum, denn es sollte perfekt werden. Ohne Mühe oder Kosten zu scheuen, kaufte ich ein, schraubte, hämmerte und klebte. Mittlerweile war es so gut wie fertig und ich konnte den Gesichtsausdruck von Alice kaum erwarten.
Circa drei Monate nach Beginn der Arbeiten stand ein vollständig von mir entworfen und gebautes Puppenhaus.
Selbst mit den Bewohnern war ich fertig. Da gab es die Mutter, den Vater, die Großeltern und einen Haufen kleiner und großer Kinder, außerdem noch eine Katze und einen Hund. Diese beiden Figuren hatte ich jedoch aus einem versteckten Bastlergeschäft im Stadtzentrum.
Die restlichen habe ich alle selber gebastelt.
Zufrieden fotografierte ich den letzten Schritt meines Werkes: ich setzte die Püppchen ins Haus. Nun war alles dokumentiert und Alice könnte immer sehen, was ich für sie getan hatte.
Nachdem nochmals vier Monate verstrichen waren, in denen ich jede Minute ungeduldig auf Alice wartete, geschah es. Am vierundzwanzigsten August um 23.47 Uhr kam sie. Obwohl es eine Frühgeburt war, ging es mir und meiner Tochter blendend. Ich war unendlich glücklich und hielt sie stundenlang in meinen Armen, wobei ich sie sachte hin und her wog. Ich wusste nicht was ich getan hätte, wenn Alice ein Junge geworden wäre. Jahre später dachte ich darüber nach, aber für mich stand von Anfang an fest, dass ich Alice
bekommen würde.
Noch würde sie mit dem Puppenhaus und den Spielsachen nichts anfangen können, aber bis es so weit war, konnte sie sich an den Anblick dieser in ihrem Zimmer gewöhnen. Die Geschenke sollten ein Symbol meiner Liebe darstellen und den Raum stets mit Wärme und Geborgenheit füllen. Niemals sollte mein Kind das Gefühl haben allein zu sein. Niemals sollte mein Kind sich verlassen fühlen, denn ich würde immer für sie da sein.
Meine Alice.
Vier Jahre später begann sich Alice für das Puppenhaus zu interessieren, meine Freude war nicht mit Worten auszudrücken. Oft saßen wir lange auf dem Boden und spielten mit den winzigen Figuren. Ich hatte das Gefühl, dieses Haus würde ihr eben so viel bedeuten wie mir.
Obwohl ich ihr nie gesagt habe, dass ich damals kurzzeitig über eine Abtreibung nachgedacht habe, wurde ich den Gedanken nicht los Alice verraten zu haben.
Sicherlich waren es die Schuldgefühle, die diese Illusion aufrecht erhielten.
Hatte sie das Recht die Wahrheit zu erfahren? Über ihren Vater erzählte ich ihr manchmal etwas, wobei ich streng darauf achtete ihr ein positives Bild von ihm zu vermitteln. Noch war sie ein Kind und brauchte die Sicherheit geliebt zu werden. Ich denke, ich werde ihr die unzensierte Wahrheit gestehen, wenn sie bereit dafür ist. Und ich auch.
Neben mir erschien Leonie in der Tür und begann zu schnurren. Ich bückte mich zu ihr hinunter, kraulte ihr den Hals und fühlte wie so oft ihren Beistand.
Eingereicht am 21. September 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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