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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das Schamgefühl

© Teodor Horvat


Schon aus dem Fenster des Schnellzuges sah Herr Schmidt seine alte Mutter. Sie stand auf dem Gleis und wartete ungeduldig auf ihren verlorenen Sohn. Er hatte nur durch ein Wunder überlebt, dachte sie und das konnte sie ganz bestimmt nur dem lieben Gott verdanken. Das Herz des Herrn Schmidt klopfte vor sehr großer Aufregung ganz laut, sodass er ein Gefühl hatte, dass andere Menschen auch sein Herzklopfen hören könnten. Ungeduldig wartete er, dass der Zug endlich hält und dann sprang er aus dem Zug hinaus und rannte zu seiner Mutter. Seine alte Mutter stand nur auf dem Gleis und konnte sich nicht bewegen vor zu großer Erregung. Aber Herr Schmitt kam endlich zu seiner Mutter und umarmte sie ganz fest. Heiße Tränen kamen aus seinen Augen und er konnte nur noch sagen: Bitte verzeih mir! Dabei dachte er vor allem an seine Mutter. Sein vergangenes Leben und alles, was einmal geschah.
Er wusste nur, dass er zusammen mit seine Mutter und noch vielen Landsleuten in ein Vernichtungslager gebracht wurde, als er noch ganz kleines Baby war. Warum er dort war, wusste er damals ganz bestimmt nicht, aber die Machthaber hatten, da keinen Zweifel und ein sehr weiter und schwerer Fußmarsch, in ein 50 Kilometer entferntes Internierungslager, begann. Unterwegs wurden die Kinder von den Soldaten mit Gewehrkolben angetrieben, manche Menschen blieben unterwegs liegen. Jene Menschen, die zurückbleiben, oder versuchten davonzulaufen, wurden einfach erschossen.
Als die Volksdeutschen endlich in Internierungslager ankamen, dort war nichts mehr zum Essen. Gefunden haben sie noch nur leere Baracken, auf deren Boden ganz viele Menschen, Kinder und Alte schliefen. Tür- und Fensterrahmen aus Holz waren schon zum Heizen als Brennholz verbraucht.
Das Essen war immer schlechter und wenig.
Wegen mangelhaftem Essen, Krankheiten und schlechter oder gar keiner Hygiene begann man zu sterben. Das Krankheitselend begann zuerst bei den Säuglingen, die, abgesetzt von der Mutterbrust, auf die gemischte, dünne Nahrung umgesetzt, prompt mit Durchfällen oder Verstopfung, mit Blähungsbeschwerden oder Hautausschlägen reagieren. Das traurige Schicksal endete mit verschiedenen Erkrankungen und am Ende mit dem Tod. Säuglinge und Kindern unter zwei Jahren waren in den letzten Monaten fast restlos dem Hunger und der Kälte zum Opfer gefallen. Das Schicksal der Kinder war das Grauenvollste, was man während seiner Lagerzeit überhaupt erlebt hatte. Kälte, Ungeziefer und der Hunger rafften viele dieser unschuldigen Kinder hinweg. Am Ende, konnte man die Kinder nicht mehr weinen hören, sondern nur winseln die ganze Nacht durch, bis auf einmal alles still war.
Wie Herr Schmidt in einem Vernichtungslager überhaupt überlebt konnte, bleibt für ihn heute noch immer unbekannt.
Am schwersten war es im Winter. Vier Tage gegen Weinachten gab es nichts zu essen. Dann sind viele auch massenhaft gestorben. Im April, nach dem Massenmord im Winter, gab es so viele elternlose Kinder unter dem zehnten Lebensjahr, sodass alle Menschen die Sorge um ihre Zukunft hatten. Aber schon während des Jahres 1946 begannen die ersten Ausnahmen für Kinder ohne Eltern und Pflegeeltern (welche in Zwischenzeit in dem Lager gestorben oder getötet wurden oder von ihren Kindern getrennt waren). Solche Kinder nahm man zuerst aus dem Vernichtungslager und dann steckte man sie in eines von zahlreichen Kinderheimen für Kriegswaisen. Das hat zwar vielen das Leben gerettet, aber auf diese Weise ging auch vielen volksdeutschen Kinder das Bewusstsein über ihren Eltern und Herkunft verloren. Volksdeutsche Kindern ohne Eltern oder Pflegeeltern wurden in Kinderheimen untergebracht, wo sie nicht ihre eigene Muttersprache sondern nur eine für sie Fremdsprache sprechen durften. In solchen Kinderheimen bekamen die volksdeutschen Kindern auch eine Neuerziehung, die gegen die eigenen Eltern gerichtet wurde. Viele deutsche Kinder waren von anderen, fremden Familien adoptiert. Manche von denen erfuhren später von ihrer deutschen Abstammung und dem schweren Schicksal ihrer Eltern, wie zum Beispiel Herr Schmidt, aber viele auch nicht.
Nach offiziellen deutschen Angaben, mehrere Hunderte, vielleicht auch Tausende volksdeutsche Kinder, die aus verschiedenen Kinderheimen für Kriegswaisen, adoptiert waren, haben ihre Identität und Abstammung vergessen.
Als Herr Schmidt viel später gehört hatte, dass seine Mutter noch immer irgendwo in Deutschland lebt, war er nicht besonders glücklich. Unter Berücksichtigung der vergangenen, unangenehmen Ereignisse, welche er in einem kommunistischen Kinderheim erdulden musste, konnte man sein unanständiges und ungerechtes Verhalten gegenüber seiner Mutter schon verstehen. Obwohl sein damaliges Verhalten ganz bestimmt nicht gerecht war, und er sich deswegen immer schämen müsste. Es war doch zu erwarten, dass er und auch andere volksdeutsche Kinder nach der falschen Erziehung in einem Kinderheim für Kriegswaisen ihre richtigen Eltern mit der Zeit als Feinde betrachten würden. Jetzt wusste er auch ganz genau, dass seine Erziehung in so einem Kinderheim ganz falsch war. Aber unter anderem diese falsche Erziehung hatte ihm geholfen zu überleben. Andere Kinder im Kinderheim nannten ihn eine Schwäbin (Švabica) weil er sehr zärtlich und unterernährt war. Die Kinder wollten sich nicht mit ihm spielen und er wurde immer als Feind betrachtet. Nämlich nach dem zweiten Weltkrieg waren alle deutschen nach einem Gesetzakt für Feinde des Volkes erklärt und als solche in ein Internierungslager oder aus dem Land vertrieben. Dabei wurde ihre Vermögen verstaatlich.
Heute lebt Herr Schmidt, zusammen mit seiner Frau, Kindern und Enkelkindern in einer Großstadt am Rhein. Obwohl er seine Enkelkinder über alles liebt, auf seine Kinder kann er mit Recht stolz sein.
Seine alte Mutter, die heute schon lang tot ist, hatte ihm alles verziehen oder besser gesagt: es gab überhaupt nichts zu verzeihen.



Eingereicht am 30. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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