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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Unbändiges Verlangen

© Michal Jurka


Eigentlich war es schon draußen auf der Straße zu riechen. Die Frau in der Halle, die sich ihm zuwendete und ihn ansprach, kannte er kaum. Es ging um eine Angelegenheit, die mit der Beheizung zu tun hatte. Oder mit dem Gas. Er wusste nicht, weil er nicht zuhörte, ihr keine Aufmerksamkeit schenken konnte. Was ihm vor dem Haus als ein Hauch, eine Spur, eine Prise zuflog, wurde jetzt, in der Halle, ein immer stärker werdender Strom, der ihn bannte. Es gab Gerüche, Küchengerüche, die lieblich und anziehend wirkten, und solche, die eher abstoßend waren. Gerüche, die Neugier, Appetit und Hunger erweckten. Doch kein Geruch hatte die Wirkung des Gurkensalats, meinte er. Dieser Duft ging in die Breite, alles durchsetzte und ließ den Menschen Verlangen verspüren, brennendes, unbändiges Verlangen, beherrschte ihn und verfügte über ihn mit einer Wucht, die der der Pheromone gleichkam. Er erinnerte sich eines Schulausflugs, der Bus hielt an einem großen Restaurant und alle standen im Nu im Banne des Duftes. Der Gurkensalatduft schwebte deutlich, ja aufdringlich in der erhitzten Luft über dem Platz, eine kühlende Verheißung. Sie rannten, sie stürmten hinein, drängten sich an die Tische, alle verspürten plötzlich solchen Hunger, dass jedes Gespräch verstummte. Und dann hieß es, die Schnitzel mit Gurkensalat wären ausgegangen. Sie bekamen Roulade mit Reis und Salatrübe. Heute noch lagen ihm die Roulade und die Enttäuschung im Magen.
Die kaum bekannte Frau steigerte ihr Zureden, er nahm sie jedoch nicht wahr, es war unmöglich, da sich gleichzeitig auch die Geruchsattacke steigerte. Der Gurkensalat fiel über ihn her. Dieser Duft vermochte auch einen satten Menschen zu bezwingen, auch dieser verspürte Hunger, sobald er den gemeinen, den ordinären Geruch roch, einen der raffiniertesten, den es gab. So viel vermochte der Gurkensalat. Er war schon ohnehin hungrig, doch jetzt war es eine Qual, der Hunger saß wie ein drückender Stein in der Magengrube. Mit Mühe bändigte er seine Ungeduld. Endlich riss er sich los, verabschiedete sich, vielleicht erkaufte er sich mit einem Versprechen, er wusste nicht, er rannte davon. Es trieb ihn, wie den Rüden zur Hündin trieb es ihn zum Lift. Da flog, da wehte der Duft von nirgendher mehr, da herrschte, da residierte er. Als der Lift hinauffuhr, wurde der Geruch weder stärker noch schwächer. Es lag an dem Knoblauch, diese Allgegenwärtigkeit, dachte er, obwohl Knoblauch in anderen Verbindungen gar nicht so roch. Auch die Hitze spielte eine Rolle, grübelte er, weil ihm bewusst wurde, dass alle diese Verlockungen Sommererlebnisse waren. Vielleicht begünstigten höhere Temperaturen die Aromadiffusion? Plötzlich wurde ihm irgendwie bang, die Angst überkam ihn, der Duft könnte aus einer anderen Wohnung, irgendeiner fremden Wohnung strömen, die Quelle war nicht zu ermitteln. So war dieser Duft eben, er drang überall vor, beherrschte alles weit und breit und gab sich überall als Hausherr, wo er in der Tat ein Eindringling war. Die Vorstellung, das enttäuschende Erlebnis aus der Schulzeit könnte sich wiederholen, ließ ihn erzittern. Das durfte nicht mehr passieren, schon gar nicht heute! Er öffnete die Wohnungstür, begrüßte die Gattin, ließ sich Zeit, ging nicht schnurstracks dorthin. Er legte ab, wechselte die Schuhe, wusch schweigend die Hände. Dann betrat er die Küche. Auf dem Tisch sah er einen Teller mit Karbonaden und Kartoffeln und eine Schüssel Gurkensalat.
Als er den Salat gabelte und zum Mund führte, stutzte er. Es wurde ihm auf einmal bewusst, dass es sich eigentlich um nichts als Wasser handelte, eine Flüssigkeit, in der grüne Nudelchen schwammen, lappige Streifchen. Eine Flüssigkeit, die duftete und von der Gabel zurück in die Schüssel triefte. Es kam ihm in den Sinn, dass der fade Geschmack der Nudelchen dem Versprechen des Duftes nicht gerecht wurde, und dass die Herrschaft, die der Gurkensalat über ihn ausübte, im Grunde ein Trugbild war. Eine Einbildung, wie alles, was in Menschen unbändiges Verlangen zu erwecken vermochte.



Eingereicht am 21. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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