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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Bitte hilf mir - eine Hartz-IV-Geschichte

© Peter Keller


"Bitte hilf mir! Ich flehe Dich an, nimm meine Hand - bitte, bitte!" --- "Wieso sollte ich das tun?" - So fragte ich sie mit meinem heimtückischen, gequälten Grinsen, wieso? - "Sag mir das, wieso sollte ich Dir helfen, hast Du mir mal geholfen?", nein hast Du nicht!. Im Gegenteil Du und alle andern habt mich ausgelacht, für Euch war ich immer nur ein Stück Dreck. "Hör auf bitte! Nimm meine Hand und hilf mir, ich flehe Dich an! - Ne - vergiss es! --- Ich wusste ihre Kräfte würden bald schwinden. Die Kälte war schon im trockenen, dick eingepackten Zustand sehr unangenehm. Sie aber, war im eiskalten Wasser, die Lippen blau, die Augen weit aufgerissen vor Angst. "Bitte, Bitte, ich bitte dich, ich flehe dich an, hilf mir. Ich weiß ich war hundsgemein, wir können über alles reden, aber bitte zieh mich raus".
"Nee!" "Heute ist Zahltag, das hättest du dir alles früher überlegen müssen, als noch Zeit war für ein Entschuldigung, oder ein paar versöhnliche Worte - jetzt ist es zu spät, deine Zeit ist abgelaufen!" Ich stand auf, drehte mich um und ging weg, ihre verzweifelten Schreie in den Ohren.
Sie, eine Arbeitskollegin, im Dauerstreit, selten offen ausgetragen, immer alles hintenrum, eine Meisterin im Lügen, Worte verdrehen, Betrügen, Sticheln und Menschen gegeneinander aufhetzen. Moderner Arbeitsalltag in einem unauffälligen Büro, mitten in einer Gruppe unauffälliger Menschen. So läuft das. Wenn sie dich auf dem Kieker haben finden sie immer eine Möglichkeit dich rauszuekeln. Ob du dann selber gehst, oder entlassen wirst ist gar nicht mehr so wichtig. In dem einen Fall gibt es ziemlich schnell Arbeitslosengeld, immer andern Fall dauert es länger.
Die Zeit mit Arbeitslosengeld ist ganz schnell vorbei. In dieser hat man vielleicht die Möglichkeit eine Weiterbildung zu machen, einen zusätzlichen Betrieb kennen zu lernen, nochmals Hoffnung zu schöpfen. Aber dann ist das Jahr rum, man steht da ohne Job und studiert deprimiert den Kontoauszug.
An genau diesem Punkt war ich gestern. Ich saß in der Kneipe, ein blödes Loch mit unfreundlicher Bedienung - wenigstens schmeckte der Kaffee. Als mich ein alter Bekannter ansprach. "Vielleicht kann ich Dir helfen", sagte er zu mir, hinter vorgehaltener Hand. Ich schaute durch den Zigarettenrauch zum Fenster - und durchs Fenster hinaus in das dumpfe, milchige Licht der Winterlandschaft. Alles war gedämpft und melancholisch. Da war sie wieder, diese eigenartige, einnehmende Trauer, die so schwer war, wie ein Haufen Steine, drückend, erstickend und unsichtbar. Was konnte das für ein Geschäft sein. Es konnte nur etwas mieses sein, sonst würde er einen anderen suchen. Wie so oft raste mir meine Lebensbilanz durch den Kopf, ein fürchterlicher Haufen Enttäuschungen. "Wie soll diese Hilfe aussehen - was muss ich dafür tun?" sagte ich in einem Ton, der zu der kahlen, kalten Landschaft passte, die ich durchs Fenster sehen konnte. "Nichts weiter, du musst nur einen Wagen von hier nach Litauen bringen". "Ach ja, toll! Wie im Film DOWN BY LAW, dann kommt die Polizei, macht den Kofferraum auf und findet eine Leiche, geile Idee, muss ich wirklich sagen, darauf habe ich gewartet. Die nächsten Jahre im Knast.- Das macht Spaß!" ---"Wieso sollen sie dich kontrollieren? - Sag mir das, tausende, sogar zehntausende fahren von Deutschland nach Polen, Ukraine, oder Russland - und das jeden Tag, aber bitte wenn du nicht willst, dann eben nicht." Einen Moment waren wir beide ruhig. "Ich kann mal eine Nacht darüber schlafen. Zuhause habe ich noch einen Berg Wäsche zu bügeln. Beim Bügeln kommen mir immer die besten Ideen. "Sollen wir uns morgen hier treffen?" "Ok, aber kein Wort zu niemanden."
Ich ging raus in die Kälte, alles war ganz still, die klirrende Kälte war überall. Auf dem Heimweg musste ich an die Menschen denken, die selbst im Winter kein Dach über dem Kopf haben und eiskalte Nächte draußen verbringen müssen. Wie weit würde es mit mir noch kommen, was hatte das Schicksal noch zu bieten. - Wem sollte ich noch vertrauen, mein alter Bekannter von vorhin, das war eine heimtückische, niederträchtige Sache, darauf durfte ich mich keinesfalls einlassen. Meine Frau abgehauen mit unseren, gemeinsamen Kindern. Ich hauste in einem kleinen Loch. Totenstill und einsam. Die Miete war überrissen und ohne regelmäßiges Einkommen war auch alles andere zu teuer. Das Auto konnte ich noch knapp halten. ...und wenn das Telefon klingelte, das kam selten vor, war es eine Werbebotschaft ab Computer, zum Beispiel: GRATULIERE - SIE HABEN GEWONNEN; UM ZU ERFAHREN .... DRÜCKEN SIE TASTE EINS ...
Am nächsten Tag in der gleichen, blöden, verrauchten Kneipe. Zuhause in meinem Loch war mir die Decke auf den Kopf gefallen, für einen Waldspaziergang war es zu kalt, am Fernsehen kam zwar eine wunderschöne Natursendung, aber auch ich kann nicht immer Natursendungen sehen; - also ging ich wieder in die gleiche, blöde, verrauchte Kneipe.
"Ich kann dich beruhigen" sagte er zu mir mit gedämpfter Stimme, "garantiert keine Leiche im Kofferraum, ehrlich." "Aber das Auto ist geklaut, ein BMW X3, wunderschön, grauenhaft teuer und mit fürchterlich vielen PS. Die Mafia in Littauen steht auf Luxusautos aus Deutschland." Ich starrte ihn mit offenem Mund an. "Wenn so ein müder Versager wie ich mit so einer Kutsche durch die Gegend fährt, dann bekommt der erstbeste Polizist vor Freude rote Ohren." "Mein Gott, du hast vielleicht Komplexe - was soll das? - Dein einziger Fehler ist, dass du keine Arbeit hast, da bist du weiß Gott nicht der einzige"! "Du wirst niemandem auffallen, glaub mir - das Auto wird übrigens nach dem klauen unkenntlich gemacht - wir haben da so unsere Tricks, das erkläre ich dir später. Nur soviel vorab: gefälschte Papiere und Umlackieren sind selbstverständlich, aber der absolute Hammer ist" - seine Stimme wurde leiser - "wir wissen sogar wie man eine, irgendwo im Auto versteckte, GPS-Box stört, mit einem elektrischen Impuls, so dass weder die Polizei noch der Besitzer den Wagen orten kann. Das ist das neueste vom neuesten, du siehst das Internet - Zeitalter hat nicht nur den braven Menschen neue Möglichkeiten gebracht, sondern auch mir - so einfach ist das"! "Was sagst du jetzt?" - fragte er nach einer kurzen Pause und einem großen Schluck aus seinem Glas. Ich war ehrlich beeindruckt. Ich hatte eigentlich von nichts eine Ahnung, ich war schon froh, dass ich, purer Zufall, mit der Abkürzung GPS etwas anfangen konnte. Während den letzten zehn Jahren sind in meinem Wortschatz sicher zehn, oder zwanzig neue Begriffe dazugekommen. Von C - wie Chatbox bis W wie WAP. Passte irgendwie alles zur Globalisierung, zu deren Opfer ich mich ohne weiteres dazu zählen konnte. "Die Entscheidung fällt mir sehr, sehr schwer" sagte ich und schaute ihn an wie ein Hund, der dauernd getreten wird. "Lass dir Zeit, aber denke daran, du bist nicht der einzige der als Fahrer in Frage kommt. Arbeitslose zwischen 45 und 60 gibt es Tausende. Andererseits geht es auch nicht nur um ein Auto, sondern um viele. Wir klauen auf Bestellung, der Dieb läuft mit dem Telephon am Ohr durch die Stadt. Wenn einer ein bestimmtes Auto haben will, dann bekommt er es. Die Favoriten sind momentan Porsche Cayenne und BMW X5.
Ich dachte an meine vielen, gescheiterten Versuche ein bürgerliches Leben zu leben, an die vielen Bewerbungen, die paar Vorstellungsgespräche, an die "Was können sie eigentlich?", an meine gescheiterte Ehe - und sagte zu.
2.Kapitel
"Papiere bitte", sagte der Beamte in Polnisch, ich verstand natürlich kein Wort, aber was hätte er sonst sagen sollen. Ich gab ihm meinen Paß, mein Herz klopfte bis zum Hals, ich schwitzte, konnte kaum noch atmen - und dann nach einer kurzen Pause - OKAY - bhhhhhh - wow - endlich konnte ich tief durchatmen, Gott sei Dank, diese Hürde war geschafft! Ich fuhr an - die vielen PS begannen angenehm zu brummen und das sündhaft teure Blech unter mir zu vibrieren. Ich kam gut vorwärts und saß ausgesprochen bequem im Ledersessel und gönnte mir ein Sandwich mit französischem Weichkäse, himmlisch! Fettige, ungesunde Sachen essen, das funktioniert bei mir immer. Das beruhigt ungemein. Wenigstens das Essen konnte ich mir noch leisten. Ins Bordell gehen, konnte ich vergessen, das war zu teuer, es blieb nur das Essen, meine einzige Freude. Die Natur aufmerksam beobachten, das kostet noch weniger als Essen, eigentlich gar nichts. Jetzt zum Winterende den Vögeln zuhören und sich auf die ersten Krokusse freuen.
Auf meiner einsamen Fahrt durch die polnische Landschaft blieb mir viel Zeit zu denken und grübeln. Zu viel Zeit, alles hatte ich in meinem Leben falsch gemacht, im Beruf, in der Liebe, überall war ich nur der egoistische Volltrottel. Eigentlich erstaunlich, dass ich mich bis gestern immer im legalen Bereich aufgehalten haben. Aber auch das war ab sofort anders. Er hatte mir 2000 Euros versprochen, eine Menge Geld für ca. 15 Stunden autofahren. 1000 im voraus und die anderen tausend, sobald mein Verbindungsmann in Vilnius meinen Bekannten in Deutschland anrief um den Empfang der Karre zu bestätigen.
Ich freute mich auf die Kohle, obwohl ich zur gleichen Zeit tierisch Angst hatte. Wenn ich Pech hatte, verbrachte ich die nächsten Monate im Gefängnis und wurde zu einer gewaltigen Busse verurteilt, die ich sowieso nicht bezahlen konnte. Bis jetzt war ich zwar arm, aber immerhin noch schuldenfrei. Sollte ich dieses Risiko wirklich mit mir herumtragen?
"Du gottverdammte Fotze!" so schrie ich sie an. "Du kannst nichts anderes, als dich hochvögeln - quer durch alle Hierarchiestufen, hinterlässt nichts als eine Spur der Zerstörung, ohne Rücksicht auf mich. Du hast Karriere gemacht, mich hast du fertig gemacht, rausgeschmissen, oder mindestens knallhart darauf hin gearbeitet, hast mich und meine eigene Leistung überall schlecht gemacht, jetzt stehe ich da vor dem Nichts". - So sah ich mich in meiner Phantasie, zum tausendsten mal, wie ich mich an ihr rächte, wie viel Zeit und Energie hatte ich schon verschwendet mit meinen Rachephantasien und meinen Mordsgedanken, hatte sie und alle andern erschossen, verprügelt und erwürgt. - Aber alles lief nur wie ein Sturm in meinem Innern ab, sie aber - und alle andern - lebte, hatte Erfolg, verdiente einen Haufen Geld - und ich war nichts als ein gottverdammtes, frustriertes Arschloch.
Meine Phantasien betreffend meiner früheren Arbeitskollegin. Die Erinnerung an meine frühere Ehefrau ist etwas anders. So zum Beispiel: "War es eigentlich mit einer Frau mal richtig schön?" - Wir hatten uns geliebt, aber sie war nicht zufrieden. "Hauptsache du kannst deinen Schwanz irgendwo reinstecken, alles andere interessiert dich nicht." Toll, und das nach fast fünfzehn Jahren Ehe, sie reduzierte mich auf einen geilen, alten Bock.
Wieder eine schlaflose Nacht, habe mich in meinem Bett hin und hergedreht, ohne Schlaf, ohne Erholung, alles bricht über mich herein, ich kann keine Ruhe finden. In der Nacht wenn es keine Ablenkung gibt ist das endlose Grübeln und Nachdenken am allerschlimmsten. Auf sich selbst reduziert ohne Fluchtmöglichkeit wie ein Strafgefangener in seiner kleinen Zelle.
Der Druck, der Trieb, das Selbstmitleid und die Enttäuschung wurden so groß. Ich musste zu ihr, obwohl ich mir das nicht leisten konnte. Ihr freundliches Lächeln beruhigte mich und machte mich gleichzeitig geil; als ihre Lippen meine Eichel umschlossen ging es mir schlagartig besser. Prostituierte geben einem kleinen, unbedeutenden Mann, für ganz kurze Zeit, das Gefühl etwas Besonderes zu sein. In meiner Wohnung war nichts, aber auch gar nichts was mich auch nur im entferntesten daran erinnert hätte. Keine Bilder mit nackter Haut, keine Bücher oder Videos mit erotischem Inhalt, nichts dergleichen. Mein Trieb war auch so stark genug. Ich war so hungrig und durstig danach, ich träumte sogar von Sex. Zum Beispiel, sie, schön, einfach wunderschön, auf einem Fahrrad, die Scham nur knapp bedeckt, trat sie kräftig in die Pedale, ich beobachtete sie von hinten und von der Seite, bevor sie nach einem kurzen, flüchtigen Moment vom Nebel verschluckt wurde. Ich wurde fast wahnsinnig und konnte mich nicht zurückhalten. Sie unereichbar und ich verschwitzt, schlaflos und einsam in meinem Bett.
Plötzlich merkte ich, dass irgendetwas mit dem Auto nicht stimmte. Es zog nach links, ich bremste ab, fuhr bei der nächsten Gelegenheit rechts ran, blieb stehen und stieg aus. - " "Scheiße!" - ein Platten, auch das noch. - Jetzt stand ich hier, irgendwo in Polen, ca. 50 km östlich von Posen, konnte kaum ein Wort polnisch. Immerhin, ein Wörterbuch hatte ich dabei, Gott sei Dank. Die Nummer von meinem Bekannten, der von dem ich das teure Auto hatte, trug ich nicht bei mir und kannte sie auch nicht auswendig. "Bloß keine Spuren hinterlassen, das ist das wichtigste" hatte er zu mir gesagt. "Wenn etwas schief läuft - und du geschnappt wirst - dann hast du eben Pech gehabt, aber keine Verbindung zu mir. Wenn sie dich fragen, woher der Wagen stammt - erzähl´ ihnen irgendetwas, aber nichts von mir."
Was sollte ich jetzt machen, Hilfe anfordern, irgendwie zum Beispiel winken, oder so. Das war zu gefährlich. Den Reifen wechseln, gleich hier an dieser stark befahrenen Straße. Ich mit meinen beiden linken Händen, hier in dieser Parkbucht, vermutlich blieb mir nichts anderes übrig. Das konnte Stunden dauern, es war kalt, zum Glück war es erst kurz vor Mittag, es würde noch lange hell bleiben. Ich brauchte schon einige Minuten, bis ich nur mal den Wagenheber und das Werkzeug gefunden hatte. In meinem ganzen Leben hatte ich vielleicht zweimal ein Rad gewechselt, das letzte Mal bei einem Renault 5, vor fast zwanzig Jahren.
Es ging irgendwie. Danach war ich völlig verschwitzt, trotz dem kalten Wetter, hatte aufgeschürfte Finger, hatte mein gesamtes Repertoire an Schimpfwörtern innerhalb zwei Stunden von mir gegeben, mal leise, mal lauter, meistens sehr laut - und immer wieder, bis das verdammte Reserverad am richtigen Ort saß und die Schrauben angezogen waren. - Ok, jetzt brauchte ich dringend einen Kaffee und einen Schnaps. Ich fuhr bis zur nächsten Kneipe, parkte meinen Superwagen und setzte mich in der Kneipe so hin, dass ich das Auto immer im Auge hatte. - Den doofen Witz kennen wir doch alle, schwedische Autos werden aus Schwedenstahl gebaut, deutsche Autos aus Kruppstahl und polnische Autos aus Diebstahl. - Haha, mein kleiner Rassismus, - den finde ich immer voll daneben. Das hielt mich aber nicht davon ab, über blöde Witze zu lachen.
Das Wort Kaffee wird zum Glück überall verstanden. Ich bekam einen herrlich duftenden Kaffee - und nach einem etwas anstrengenden Fingerzeig auch ein leckeres Brötchen. "Sind Sie aus Deutschland?" fragte sie plötzlich und so überfallartig, dass ich mit meinem schlechten Gewissen fast vom Hocker fiel. "Ähm, ja, genau aus Hannover, aber ursprünglich aus der Schweiz." "So, das ist ja schön - und sind Sie jetzt hier auf Urlaub", fragte sie in fast akzentfreiem Deutsch. Ich erholte mich vom Schreck - und, ohne auf ihre Frage einzugehen, plapperte ich etwas unbeholfen: "Sie können aber gut Deutsch". Ich war völlig überrascht von einer, zwar nicht mehr jungen, aber attraktiven Frau angesprochen zu werden. Normalerweise sehen mich Frauen nicht mal mit dem Arschloch an. - Wir fingen an zu plaudern - und ich erfuhr, dass sie ein paar Jahre in Berlin gearbeitet hatte. Es dauerte nicht langen und ich hatte ihr meine ganze Lebensgeschichte um die Ohren gejault. ..."und jetzt fahre ich also für einen befreundeten Autohändler dieses schöne Auto nach Litauen". So kann ich ein paar Euros dazu verdienen. - Natürlich kein Wort davon, dass das Auto gestohlen war. "Würden sie mich ein Stück mitnehmen?" fragte sie mich. "Klar, kein Problem." Ihre Frage erstaunte mich, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mir kein Wort glaubte und sehr mißtrauisch war.
Später auf der Landstraße, Beine angezogen in dem bequemen Beifahrersitz, erzählte sie ausdauernd und viel über das Leben in Osteuropa. Über den EU-Beitritt, über die veränderte Beziehung, zu den Nicht-EU-Ländern an der Ostgrenze Polens. Litauen und Weißrußland, die ärmer waren als Polen. "Es wird viel geschmuggelt an der Ostgrenze, sogar Wodka, Hektoliter um Hektoliter durch Gartenschläuche gepumpt, aus Weißrußland nach Polen. Mitten in der Nacht, an der grünen Grenze, das Verlegen der Schläuche dauert ein paar Minuten. Dann wird der Wodka, der in Weißrußland billiger ist als in Polen, durch die Schläuche gepumpt. - Ein paar Nächte später an einem anderen Ort wieder genau das gleiche. Dem Zoll immer ein paar Längen voraus.
Auch sonst erzählte mir Katharina, inzwischen waren wir per Du, sehr viel. Eine meiner wenigen Stärken ist das Zuhören. "Ich habe immer wieder diese schrecklichen Schmerzen. Ich war schon bei einigen Ärzten, alles wurde untersucht, aber geholfen hat alles nichts. Bei naßkaltem Wetter ist es besonders schlimm. Vor allem im Herbst und jetzt anfangs März bin ich manchmal wie gelähmt. Nachts im Bett kann ich nicht schlafen und am Tag, wenn ich meine tausend Pflichten erfüllen soll, fühle ich mich wie gerädert. Ich mit meiner chronischen Bronchitis wusste nur zu genau wie das ist. So entwickelte sich unsere spontane Freundschaft auf wunderbare Weise auf dem Fundament gemeinsamen Leidens und einer gemeinsamen Wegstrecke. Wir entdeckten noch viele Gemeinsamkeiten. Die Freude am Erwachen der Natur, Musik hören und Bücher lesen.
"Wie kommst Du eigentlich von Litauen zurück nach Deutschland?" Ähm", es fiel mir wie Schuppen von den Augen, daran hatte ich noch keinen Gedanken verschwendet. "Ja, vermutlich mit der Eisenbahn", antwortete ich nach einer kleinen Pause". "Dann musst Du ganz sicher in Warschau umsteigen; wenn Du willst können wir uns dort am Bahnhof treffen."
Danach plauderten wir gemütlich weiter über alles mögliche, während wir immer weiter nach Osten fuhren. Ich fühlte mich so wohl und zufrieden, dass ich komplett vergaß in was für einem Wagen ich saß. Das Auto war gestohlen und ich hatte bis jetzt einfach Glück gehabt. Irgendwann musste sie aussteigen, aber nicht ohne mir vorher ihre Handynummer gegeben zu haben. "Sende mir eine SMS, sobald Du weißt wann Du in Warschau ankommen wirst."
Je näher die Grenze zu Litauen kam, desto unruhiger wurde ich. Würde ich wieder so locker über die Grenze kommen wie vor ca. zwölf Stunden. Inzwischen war es mitten in der Nacht und ich war hundemüde. Eigentlich müßte ich längstens Hunger haben. Aber während dem kurzen Glück mit Katharina, diesem wunderschönen, lockeren Gespräch, das mich so beschwingt hatte, hatte ich nicht nur meine bleierne Einsamkeit, sondern auch alle Hunger-
gefühle vergessen. - Und jetzt kam die Angst vor der Grenzkontrolle. Mein Bauch zog sich zusammen, das Atmen fiel mir schwer. Immer näher kam die Grenze zu Litauen. Ich fing an zu Leiden, ich war buchstäblich krank vor Angst. - Dann war ich plötzlich in Litauen. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Der Beamte an der Grenze hatte mich einfach durchgewunken. Ich fühlte mich wie ein prall gefüllter Luftballon aus dem man die Luft raus-
läßt. Ich hatte es geschafft. Der ganze Rest ging wie von selbst. Ich traf meinen Verbindungsmann auf der Landstraße wenige Kilometer vor der Hauptstadt, seine Telefonnummer fand ich in meinem Schuh versteckt. Ich sah fürchterlich aus, müde und unrasiert, aber unglaublich erleichtert. Zum Glück sprach er gut Englisch, er fuhr mich in die Stadt, zahlte mir die 1000,-- Euro - das war´s.
Nach einer ausgiebigen Dusche und einem guten Essen musste ich erst einmal schlafen. Inzwischen war es Mitternacht. Das Zimmer war normaler Standard mit Dusche und Prospekt in Englisch auf dem winzigen Tisch. Am nächsten Morgen bezahlte ich die Rechnung, Geld hatte ich genug, machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Irgendwie schaffte ich es ein Ticket zu bekommen: Berlin einfach mit 24 Stunden Aufenthalt in Warschau. Meine SMS wurde von Katharina höflich bestätigt, fast zu höflich. Ich bekam irgend eine Vorahnung. Nach meiner Ankunft in Warschau musste ich lange warten. Während dieser Zeit brach wieder einmal alles über mich herein. Völlig allein in einer fremden Stadt wurde mir, wie schon so oft diese absolute Bedeutungslosigkeit bewusst. Wozu das alles, für wen.
Wie soll ich meine Gefühle schildern ohne meine Krankheit, oder meine Gesundheit zu beschreiben. Alles mögliche habe ich, weiß der Teufel wieso. Wenn das eine Wehwehchen vorbei ist, z.Bsp. eine offene Stelle im Mund, dann beginnt meine Haut an den Füßen zu jucken. Überall tut mir irgendwann irgend etwas weh. Am einen Ort wird es besser, aber nur um an einem anderen Ort schlimmer zu werden. Überall wo ein Austausch stattfindet, ein Austausch zwischen der Außenwelt und meiner Innenwelt, bin ich besonders empfindlich. Die Haut, die Lunge, der Mund. In der Lunge ist das Leiden so hartnäckig, der Schaden
so bedeutend, das Problem so chronisch, dass ich mir eingestehen muss, jetzt mit Ende 40, ich habe mein Leben nicht in die Hand genommen und aktiv gestaltet, sondern mein Leben wurde bestimmt und geprägt von meinem Lungenleiden, meiner Kurzatmigkeit.
Es ist von enormer Bedeutung immer und überall der Schwächste zu sein. Das geht als Kind los, "die Flasche ist zu nichts zu gebrauchen" - bis zum Leben als Erwachsener. Im Beruf immer die eigenen Grenzen zu spüren, in der Liebe, in der Beziehungsfähigkeit. Einfach überall und immer. Sport kann ich nur alleine treiben. Bei mir gelten eigene Maßstäbe! Wer schlechter drauf ist als ich, gilt als behindert. - Ich schalte den Fernseher ein, sehe und höre einen Mann der von seinem Leben erzählt, man spürt durch seine Stimme, seine Haltung und seinen Blick in den Augen, dass er weiß was es bedeutet chronisch krank zu sein. Da der Beitrag wohl schon einige Minuten im Gange ist, weiß ich nicht was für eine Krankheit der Mann hat. Trotzdem fühle ich mich sofort gefangen von seiner Stimme und seinem Gesichtsausdruck --das bin ich! Im gewissen Sinne ist mir dieser Mensch dermaßen vertraut, dass ich mich innert Sekunden mit ihm verbunden fühle. Das kann Fernsehen - unglaublich! Was für eine Kraft von diesem Medium ausgeht.
Wie ist das Leben. Ein Bild geht mir immer wieder durch den Kopf. Ein Rudel Wölfe, geplagt vom Hunger, rasen durch die eiskalte Winternacht. Sie jagen gemeinsam. Einer der Wölfe kann nicht mehr und bricht erschöpft zusammen. Die andern stürzen sich auf ihn und zerfleischen ihn. So ist das Leben. Ich liege am Boden und die andern stürzen sich auf mich. Das menschliche Ideal, das Einander helfen und Zusammenstehen gibt es nicht, höchstens innerhalb einer Familie. Im größeren Rahmen nur dann, wenn alle satt und vollgefressen sind. Die schlimmsten sind die, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Intolerant und egoistisch. Fundamentalisten eben, aus welcher Ecke auch immer, Christen, Sozialisten, Feministinnen.
"Hast Du lange auf mich gewartet?" Auch dieses mal bin ich völlig überrascht und falle aus allen Wolken. Gestern in diesem Autobahnrestaurant und heute im Bahnhof. "Hallo Katharina, keine Ahnung wie lange ich gewartet habe, der Zug ist ungefähr um die Mittagszeit hier in Warschau eingetroffen, seither sitze ich hier, versunken in meinen Gedanken. Wie spät ist es eigentlich?" Was für eine Frage, Bahnhöfe sind voll von Uhren, es war kurz nach eins. "Komm ich zeige Dir ein bisschen von meiner Stadt, ich habe ca. 2 Stunden Zeit." "Nur zwei Stunden?" fragte ich enttäuscht. "Ja, leider. Sei mir nicht böse, aber ich habe tausend Sachen zu erledigen." Es traf mich wie ein Stich ins Herz. Ich hatte mir unser Treffen ganz anders vorgestellt, Hand in Hand durch die Stadt schlendern, gemeinsames Abendessen und anschließend in ihrer Wohnung vögeln bis der Arzt kommt.
Der Faden war gerissen, sie kam mir vor wie eine Fremde. Gestern nachmittag waren wir uns so nahe, konnten so gut miteinander reden, aber jetzt erzählte sie mir mit gespielter Freund-
lichkeit und gequältem Lächeln irgend etwas über Häuserzeilen und Kirchen. Nicht uninteressant, aber das wollte ich nicht von ihr hören. Dafür hätte ich an einer Sightseeing-Tour teilnehmen können. Ich war völlig geknickt und wusste nicht was ich sagen sollte. Nach ca. 90 Minuten war ich froh, dass sie mich stehen ließ.
Ich ging allein durch die Stadt, verletzt in meiner Eitelkeit und schwer enttäuscht. Irgendwie kam ich in eine Straße voll mit Bordellbetrieben. Irgendwo bezahlte ich dreissig Euro und was ich dafür bekam war der Himmel auf Erden. Einfach geil und unheimlich billig. Danach fühlte ich mich richtig gut.
Für einen Moment.
Nach einem bescheidenen Abendessen und einer einsamen, traurigen Nacht in einem Hotelzimmer nahm ich den Zug, der mich zurück in meine einsame, stille und kleine Wohnung brachte.
Meine dreitägige Abwesenheit war niemandem aufgefallen. Ich bezahlte ein paar Rechnungen, ging einkaufen und meldete mich bei dem Taxifahrdienst. Wenn man bereit war mitten in der Nacht zu fahren, dann bekam man fast immer einen Teilzeitjob. Mindestens vorübergehend ließ sich das aushalten.
Als das geregelt war ging ich wieder mal in meine blöde, verrauchte Kneipe mit der unfreundlichen Bedienung. Ich freute mich auf meinen Kaffee, der hier immer gut schmeckte. Ich sah mich um, jetzt um 15.00 Uhr war das Lokal nicht so voll wie sonst. Auf einem der Tische lag eine Zeitung. Ich blätterte etwas gelangweilt. Eigentlich war mir fast alles egal. "Ca. 40 - jährige Frau im Weiher im Stadtpark ertrunken." - Was! Um Gottes Willen, was war Wirklichkeit und was hat sich nur in meinen Tagträumen abgespielt. Hatte ich ihre verzweifelt ausgestreckte Hand wirklich in der Luft stehen lassen. Hatte ich mich wirklich umgedreht und war weggegangen ... und hatte sie ihrem Schicksal überlassen in der eisigen Kälte...? ihr jede Hilfe verweigert...?
Ich wusste, dass meine Wahrnehmung gestört war und dass ich manchmal Wirklichkeit und Phantasie nicht auseinanderhalten konnte. Schon viele hatten mich als Psychopathen bezeichnet. Trotzdem, ich konnte es immer noch nicht glauben! Und wenn es so wäre, gab es Zeugen? Sie hatte aus Leibeskräften um Hilfe geschrieen. Hatte ich sie sogar ins Wasser gestoßen? Ich wusste es nicht, ich wusste überhaupt nichts mehr. Irgendwo in meinem Hinterkopf hörte ich noch ihr: "Bitte hilf mir!"
Plötzlich fühlte ich mich ertappt. Verstohlen sah ich mich um. Aber ich sah nur die gleichen, dumpfen Gesichter wie immer in "meiner", blöden Kneipe. Ein paar wirkten leicht verblödet, mit roten Nasen und runden Bäuchen.
3.Kapitel
Nach ein paar ruhigen und gleichförmigen Tagen bekam ich ein SMS von Katharina. "Lieber Peter, sei mir nicht böse wegen unserem nicht so schönen Treffen in Warschau. Nächste Woche werde ich in Deutschland sein. Bitte ruf mich an. Gr. K." Was war das jetzt? Ich war völlig verblüfft überhaupt noch mal von dieser Frau zu hören. Was wollte sie? - Nach ein paar weiteren, langweiligen und ereignislosen Tagen; die Polizei war offensichtlich noch nicht auf mich aufmerksam geworden, traf ich Katharina am Bahnhof in Hannover. "Ich freue mich so, Dich zu sehen!" Ich glaubte ihr kein Wort - und wurde nur umso mißtrauischer, je freundlicher sie mich anschaute. Genau so wie bei dem alten Bekannten, der mir vor einer Woche dieses illegale Geschäft vorgeschlagen hatte, das ich mit viel Glück schadlos überstanden hatte. Sie führte irgendwas im Schilde, etwas ungutes, das war mir klar. Meine Selbstzweifel krochen wie Gift durch meinen Körper, wenn jemand freundlich ist zu mir, dann wird es gefährlich, oder teuer.
"Schön, ich freue mich auch!" - log ich. "Wie lange wirst Du in Hannover bleiben?" - "Leider nur bis morgen, aber daran möchte ich noch nicht denken. Danke, dass Du mich abholst. Vielleicht zeigst Du mir Deine Stadt." "Das mache ich gerne, kein Problem, hast Du schon einen Platz zum Uebernachten?" "Nein, aber ich habe meinen Schlafsack dabei - und habe mir gedacht, dass ich vielleicht bei Dir..." Ach so war das also, tausend Erinnerungen stiegen wie Gift in mir hoch. Tausend Entäuschungen, Hoffnungen die ich mir gemacht habe - und die nie erfüllt wurden.
Später am Abend, in meiner kleinen Wohnung, wir plauderten ungezwungen, fragte sie mich: "Hat der Transport und die Übergabe des teuren Wagens eigentlich gut geklappt?" "Sogar perfekt - und ich habe dabei auch Geld verdient." "Das freut mich für Dich, ehrlich." "War das eigentlich alles legal?" "Na ja, wie man´s nimmt", sagte ich etwas schläfrig vom Rotwein.
Damit hatte ich zum erstenmal zugegeben, dass ich geschmuggelt hatte. "Das habe ich mir gleich gedacht - sogar schon in dem Autobahn-Restaurant, in dem wir uns getroffen haben. Schmuggel ist in Osteuropa so häufig, ich wäre erstaunt gewesen, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre."
"Würdest Du das nochmals machen?" - "Wie bitte?" "Ja, zum Beispiel mit Kunstgegenständen, genauer gesagt mit Ikonen, christliche Kunst, dafür gibt es in Deutschland einen Markt." "Ikonen, das sind doch diese auf Holz gemalten Christusbilder?"
"Genau, oder Mutter Maria umrahmt von Engeln, oder Szenen aus den vier Evangelien. - Was weiß ich, es können auch irgendwelche Heilige sein." - Diese Bilder stammen aus Rußland und sind Jahrhunderte alt. Sehr wertvoll, sag ich Dir. - Die Tradition der Ikonenmalerei ist noch viel älter und läßt sich zurückverfolgen bis zu den Kopten im Sinai. Von dort hat sich diese Tradition über Byzanz und den Balkan bis nach Rußland ausgebreitet. - Ja, und dort werden heute diese wunderschönen Bilder geklaut und nach Westeuropa verkauft, eigentlich zynisch, denn diese Bilder wurden ursprünglich nicht primär als Kunstform, sondern als Teil der Liturgie verstanden." - Aber so ist es eben, wir Menschen im 21. Jahrhundert glauben nur noch an das schnelle Geld und das erbärmliche bisschen Luxus, das wir uns damit kaufen können." "Wie kommst Du eigentlich auf mich?" fragte ich, nachdem sie ihr spannendes Referat beendet hatte. "Wieso nicht, Du hast ein Auto von Westen nach Osten geschmuggelt und Du hast Geldprobleme. Ich kenne einen Hehler in Polen und der hat sehr gute Kontakte nach Deutschland. Nur der Transport ist immer wieder eine heikle Angelegenheit. Dazu braucht es immer wieder andere. Wenn jemand das zu häufig macht - wird er eines Tages geschnappt. Die meisten machen das nur zwei-, dreimal, verdienen sich schnell ein paar hundert Euros und verschwinden dann wieder in der Anonymität. So läßt sich die Polizei auch immer wieder austricksen.
- Nach einer längeren Pause, in der wir schweigend in meinem, kleinen, schäbigen Wohnzimmer saßen und an unseren Gläsern nippten - ich kam schon wieder in Versuchung mir eine wunderschöne, zärtliche Fortsetzung des gemeinsamen Abends vorzustellen; nur um dann einmal mehr enttäuscht zu werden - sagte sie plötzlich: "es kursieren übrigens sehr viele Fälschungen von Ikonen". Damit war ich wieder auf dem Boden der Tatsachen angelangt. Meine erotischen Träumereien waren weggeblasen. "Der Handel mit Ikonen ist zu einem Riesengeschäft geworden, sogar Terroristen nutzen diese Möglichkeit Geld zu verdienen. - Die Mafia sowieso!" - "Was genau müßte ich dabei tun?" - "Du leihst Dir einen Wagen hier in Deutschland fährst nach Polen bis östlich von Posen - wir könnten uns in der gleichen Autobahnraststätte treffen wie vor zwei Wochen, ich übergebe Dir das Paket, Du fährst zurück nach Deutschland und erhältst von mir zum richtigen Zeitpunkt per SMS die Zieladresse. So einfach ist das, 500, Euro im Voraus, 1000, Euro bei Lieferung. Wenn sie Dich schnappen erzählst Du ihnen irgendwas, zum Beispiel, du hättest diese Bilder auf einem dieser unzähligen Basare gekauft, die seit der Wende in Polen erstanden sind - und hättest dir nichts dabei gedacht."
Einen Moment lang saß ich völlig verwirrt in meinem Wohnzimmer. Was war das jetzt schon wieder? - War ich jetzt völlig am Durchdrehen, hatte ich mittlerweile jeden Anstand verloren. Klar, schon im alten Ägypten wurden Gräber ausgeraubt von skrupellosen Menschen. - Aber christliche Kunst stehlen und verkaufen - ich als kleiner Handlanger dazwischen. Wie viele Menschen hatten wohl über lange Zeit vor diesen Bildern kniend gebetet und Gott um Beistand angefleht. "Bitte lieber Gott, mach dass meine Kinder nicht verhungern müssen!" - und jetzt sollte ich ruchloser, egoistischer Rumtreiber mit dem Transport dieser Kunstwerke, die viel mehr waren als Kunstwerke, nämlich Hoffnungsträger verzweifelter Mütter und Väter, Geld verdienen. Es war zum Kotzen! "Ich glaube ich hätte ein schlechtes Gewissen." "Wie bitte?" - "Ja, ein schlechtes Gewissen, das sind doch viel mehr als nur Kunst-gegenstände" - ich erklärte ihr meine Gedanken und meine Skrupel. "Weißt Du, als ich vor zwei Wochen das teure Auto geschmuggelt habe hatte ich kein schlechtes Gewissen, höchstens Angst, dass ich erwischt werde. Teure Autos sind der Inbegriff von gesellschaftlichem Erfolg und Kapitalismus in Reinkultur. Das ist eine ganz andere Geschichte als christliche Kunst. Damit verbinde ich tausend Bilder in meinem Kopf, die alle mit dem Hoffen und Leiden der Menschen zu tun haben. Viele davon unschuldige Opfer ihrer Zeit und der Umstände in denen sie gelebt haben." "Mann oh Mann, was bist Du für ein Mensch, das habe ich mir noch keine Sekunde lang überlegt", sagte Katharina. "Du bist doch im gewissen Sinne auch ein Opfer, ein Opfer der veränderten Arbeitswelt, das hast Du mir vor zwei Wochen selber gesagt." "Ja, aber ich muss nicht hungern." "Na ja, wie du meinst - ich kann dich nicht dazu zwingen Geld zu verdienen." - und überhaupt ich bin inzwischen hundemüde, ich glaube ich lege mich schlafen."
Es war eine ruhige Nacht, sie schlief auf meinem Sofa in meinem kleinen Wohnzimmer und ich nebenan in meinem noch kleineren Schlafzimmer. Am nächsten Morgen hatten wir noch Zeit gemeinsam zu frühstücken.
4. Kapitel
Irgendwann waren meine Skrupel weggewischt, etwa in dem Tempo in dem ich meine Geld-reserven aufgebraucht hatte. Ich sandte Katharina eine SMS nach Polen: okay ich bin dabei, wann können wir uns treffen? -So schnell wie möglich, ich habe die Ware. Gr K - war ihre Antwort. Wir verabredeten uns für übermorgen in der Autobahnraststätte in Polen, ich benachrichtigte den Taxifahrdienst, dass ich die nächsten Tage keine Zeit hatte und lieh mir einen Kleinwagen. Dann erledigte ich noch ein paar private Kleinigkeiten, ging auch wieder einmal in die blöde, verrauchte Kneipe, in der alles begonnen hatte, las in der Zeitung, dass die Polizei betreffend der toten Frau im Weiher des Stadtparks noch nicht weiter gekommen war und vor einem Rätsel stand. Nach ein ruhigen Nacht und angenehmer Post im Briefkasten, meine Exfrau hatte seit Monaten zum erstenmal wieder etwas von sich hören lassen und ein paar Zeichnungen und Fotos meiner beiden Kinder beigelegt, stieg ich ins Auto und fuhr los. Vielleicht war ich ja doch nicht so ein Monster. An der Grenze wurde ich scharf kontrolliert, aber ich hatte (noch) ein gutes Gewissen. Sogar meine Geldbörse wurde kontrolliert. Die Beamten sagten zwei Sätze zu mir in Polnisch - ich verstand kein Wort, nickte nur - und durfte weiterfahren.
Hallo Katharina, schön dich wiederzusehen! Wir küßten uns, zum allerersten mal. Schlagartig wurde ich geil. Innerhalb von Sekundenbruchteilen stellte ich mir alles mögliche vor, eine wahre Orgie durchflutete mein Hirn, meine Phantasien nahmen mich völlig gefangen. - Ich wusste nicht mehr wo vorn und hinten war und wollte nur noch eins.
"Ich habe das Paket in meiner Umhängetasche", sagte sie, nachdem sie sich aus meiner, geradezu verzweifelten, Umklammerung gelöst hatte. "Peter, nimm dich zusammen - es darf uns niemand sehen, das wäre zu gefährlich." "Mein Gott, du bist jedesmal so brutal, es ist einfach grauenhaft", sagte ich völlig geknickt. "Was ist, willst Du Geld verdienen, oder nicht?" fragte sie mich. Ihr scharfer Tonfall erschreckte mich. "Wir müssen vorsichtig sein, was wir hier machen ist strafbar, diese beiden Bilder sind gestohlen, Du weißt das." "Ja, natürlich weiß ich das, aber andererseits, ja du gefällst mir eben - und ich habe gehofft, dass wir uns ein bisschen länger sehen. ...und nicht nur ein Paket übergeben, zwei Sätze sprechen und das war´s dann." "Vielleicht ein ander mal, sei mir nicht böse." - "In dem Paket sind zwei Bilder" sagte sie mit leiser Stimme "und eine Glückwunschkarte". "Wenn du die Glückwunschkarte ganz genau anschaust, entdeckst du auf der Rückseite eine Adresse in Berlin, dort fährst du hin und übergibst das Paket. du wirst dort in ca. 5 Stunden erwartet. Der Vorschuß ist auch in dem Paket, den Rest bekommst du in Berlin." - Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: "Tu mir einen Gefallen und reiß dieses Paket nicht auf, nicht jetzt - du kannst mir voll vertrauen." - Sie stand auf küßte mich auf die Wange, sagte noch: "Wir bleiben in Kontakt" - und dann war sie verschwunden.
Hier stand ich wie ein begossener Pudel, durchnäßt bis auf die Knochen, schutzlos und einsam. Hier hatte ich nichts verloren und fühlte mich wie im falschen Film. Dazu hatte ich ein Paket in der Hand, das ich ganz schnell wieder loswerden wollte. Ich gönnte mir einen Kaffee und ein Brötchen und machte mich auf den Rückweg. Eigentlich gäbe es in Osteuropa für mich als kulturell interessierten Menschen, der zusätzlich eine Schwäche für große Natur-
landschaften hat, viel zu entdecken. Doch bis jetzt habe ich meine beiden Abstecher nach Osten nur als puren Streß erlebt. Immer auf der Hut, die Angst im Nacken kontrolliert zu werden.
Irgendwann fuhr ich auf einen ruhigen Rastplatz, sah mich verstohlen um und öffnete das Paket. Meine Neugier konnte ich nicht zurückhalten. Die Bilder waren wunderschön, das eine zeigte die thronende Muttergottes mit dem Christuskind, das andere die Verkündigung des Erzengels an Maria. Leuchtende Farben und präzise Striche, ich war tief berührt. Christliche Kunst vom Feinsten, ich spürte den mahnenden Finger meines Gewissens, ich glaube Gott sprach zu mir in diesem Moment. - Das Geld und die Karte fand ich auch, die Adresse fand ich auf der Rückseite. Ich freute mich riesig über die 500,- Euro. Das war in etwa der Betrag, der mir monatlich nach Leistung sämtlicher, finanzieller Verpflichtungen, inklusive Alimente, zum Leben blieb. - Nach einer kurzen Pause, durch das Dröhnen der Schnellstraße hörte ich einige Vögel singen, gab ich mir einen Ruck und fuhr nach Berlin. Auch dieses mal war die Grenze kein Problem - ich hatte bewusst das Paket auf dem Beifahrersitz liegenlassen und nicht etwa versteckt. Die Fahrt klappte reibungslos, ich fand die Adresse in Berlin und übergab das Paket. Der Mann, der mir dafür einen Briefumschlag mit den versprochenen 1000,-- Euro in die Hand drückte, war mir spontan unsympathisch. Er sah so richtig primitiv und kriminell aus, ein selbstherrlicher Macho, ein Arschloch eben. Angewidert suchte ich das Weite - und freute mich über das viele Geld. Endlich, endlich, seit einigen Jahren hatte ich zum erstenmal Geld über. Viel Geld für meine Verhältnisse. Bloß nicht auffallen, ganz normal weiterleben. Alle die mich kannten, wussten, dass ich dauernd pleite war.
Die nächsten Tage kaufte ich mir nur zwei, drei Teile zum Anziehen und eine Espressomaschine. Nachdem ich wieder mal richtig gegessen hatte, ließ ich mir die Haare schneiden und verwöhnte mich auch sonst noch ein bisschen.
Ich fuhr wieder Taxi, meistens nachts, schrieb wieder einmal ein paar Bewerbungen, in meinem ursprünglich erlernten Beruf als Buchhändler - und war nicht mal enttäuscht, dass sie, wie so viele vorher, zurück gesandt wurden. Nach etwa drei Wochen lebte ich wieder von Knäckebrot und Wasser und war, wie fast immer, einsam und sexuell frustriert.
5. Kapitel
Mit der Zeit gewöhnte ich mich wieder an mein karges und enthaltsames Leben. Eigentlich brauche ich nur wenig Geld. Jetzt im Frühjahr verbrachte ich wieder viel Freizeit mit dem Beobachten der einheimischen Vögeln, holte mir ein paar Bücher und las wieder mehr als auch schon - und versuchte nicht dauernd an Sex zu denken. Eines meiner Lieblingsbücher, "Der Fremde" von Camus, faszinierte und beeindruckte mich jedesmal von neuem. In Rom wurde ein neuer Papst gewählt, genau so konservativ wie sein Vorgänger. Obwohl ich mit der katholischen Kirche nichts am Hut hatte, berührte es mich doch sehr zu sehen, wie vielen Menschen das Sterben Johannes Paul II unter die Haut ging; - um sich eine Woche später mit Begeisterung über die Wahl von Benedikt 16 zu freuen - und ihm wie Fussballfans zuzujubeln.
Ich bin im gewissen Sinne auch ein gläubiger Mensch, aber gleichzeitig ein hin- und hergerißener Zweifler.
Ab und zu machte ich in meinem kleinen Auto einen Ausflug, um irgendwo in der Stille spazieren zu gehen und nachdenken zu können. Das Auto konnte ich mir grad noch knapp leisten. Einmal an einem Abend, ich saß schweigend in meiner kleinen Küche vor einer Fertigpizza, klingelte es. Mein erster Gedanke war, da draußen vor der Tür steht eine liebe Frau, die mit mir ins Bett möchte.
Es waren sogar zwei Frauen, allerdings in Polizeiuniform und sie fragten mich mit sehr bestimmten und strengen Ton, nach meinem Namen. Ich spürte schlagartig, jetzt wird´s ernst. Das Atmen fiel mir schwer, ich wurde buchstäblich krank, wie schon so häufig in meinem Leben. Irgendetwas hatte die Polizei herausgefunden. "Dürfen wir reinkommen?" - Was blieb mir anderes übrig. "Herr Keller, wo waren Sie heute vor sieben Wochen, um 21.00 Uhr?" "Heute vor sieben Wochen, ähm, keine Ahnung." "Dann helfen wir ihnen; sie wurden im Stadtpark in der Nähe des Weihers gesehen". "Ach so, das kann gut sein, dort gehe ich häufig spazieren", sagte ich ein Spur ruhiger. "An diesem Abend, genau zu diesem Zeitpunkt ist dort eine Frau zu Tode gekommen." "Jetzt wo sie das sagen, ich glaube es stand in der Zeitung. Aber ich begreife immer noch nicht was das mit mir zu tun hat." "Das werden wir ihnen gleich sagen, mit großer Wahrscheinlichkeit hat jemand nachgeholfen.." "Mord, um Gottes willen, das ist ja schrecklich". "Ja, und sie wurden dort gesehen." "Mein Gott, was soll das, da gehen auch andere Menschen spazieren. " "Das stimmt, aber vor sieben Wochen war anfang März und es war bitter kalt, vermutlich war der Park fast leer um diese Zeit." "Das mag ja alles stimmen, vielleicht war ich auch nur ein paar Minuten im Park, so genau weiß ich das auch nicht mehr." "Das würde auch schon reichen um jemanden ins kalte Wasser zu stoßen."
"Was soll das, wieso hätte ich das tun sollen?" "Das kann ich ihnen sagen, wir wissen nämlich inzwischen, dass sie die Tote gekannt haben. Sie heißt Sarah Meier und war mal ihre Arbeitskollegin bei Rosenberg und Partner." "Was Sarah ist tot, oh Gott, das habe ich nicht gewusst!" Und etwas später: " Ich habe schon mit vielen Menschen zusammen gearbeitet in verschiedenen Firmen - und soviel ich weiß leben die alle noch." "Außer Sarah Meier, die ist tot! Wir glauben, dass sie etwas damit zu tun haben." "Das ist doch gar nicht wahr, ich habe Sarah seit Jahren nie mehr gesehen, ich weiß auch nicht wo sie wohnt, es hat mich auch nie interessiert. Klar, Freunde sind wir nie geworden, aber was heißt das schon, ich habe nur wenige Freunde." "Na gut, das mag so sein, wir bitten sie morgen um 10.00 Uhr zu uns zu kommen, dann machen wir ein Protokoll. Sie wissen ja wo die Polizeidienststelle ist." Das war´s, dann waren beide ganz schnell wieder draußen. Ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Ich wälzte mich hin und her, schwitzte und war fürchterlich unruhig. Ich musste dauernd pinkeln. Als ich am nächsten Morgen bei der Polizei, zum erstenmal in meinem Leben, meine Aufwartung machte, fühlte ich mich völlig schwach und krank. Nach längerem Verhör, sie nahmen mich buchstäblich auseinander, mussten sie mich gehen lassen. Ich wusste selber nicht mehr, was in dieser Nacht ablief. "Ich glaube ihnen kein Wort, aber ich kann ihnen leider nichts beweisen" sagte die Beamtin zum Abschied, dann konnte ich wieder gehen. Sie war stinksauer und enttäuscht.
Jetzt hatte ich innerhalb von knapp zwei Monaten, dreimal unglaubliches Glück gehabt - und war unverdienterweise jedesmal ohne Schaden zu nehmen, davon gekommen. Auf dem Weg in meine, kleine, stille Wohnung machte ich Halt in der blöden, verrauchten Kneipe mit dem guten Kaffee. "Hallo" sagte mein alter Bekannter. "Hallo", sagte ich noch etwas benommen vom anstrengenden Gespräch mit der Polizei. "Du siehst gut aus, dir geht es offenbar prächtig", ergänzte ich. "Ja klar, mir geht es immer gut, du hingegen wirkst irgendwie erschöpft". "Das kannst du laut sagen, aber trotz allem herzlichen Dank, dass du meine finanziellen Probleme, mindestens vorübergehend, behoben hast. Im Moment ist allerdings wieder tote Hose, aber vor ein paar Wochen war es deutlich besser. Bei einem gemeinsamen Drink erzählte ich ihm detailliert, was sich während der letzten sieben Wochen abgespielt hatte. "... und dann haben sie mich, mit enttäuschten Gesichtern ziehen lassen." "Na ja, kümmere dich nicht mehr darum, ich wurde schon öfters verhört, aber wie du siehst, lebe ich in Freiheit - und es geht mir gut." Wir prosteten uns zu und lachten. Ich glaube in diesem Moment, so würde ich mich später erinnern, habe ich eine unsichtbare Grenze überschritten - und wurde wirklich kriminell.
"Hör mal, wir könnten auch eine größere Sache unternehmen - eine die wirklich Kohle bringt." sagte Max, mein alter Bekannter, hinter vorgehaltener Hand und mit verstohlenem Blick. "Was meinst du? - Irgendwie musst du konkreter werden, sonst verstehe ich nur Bahnhof." "Prostitution, mein Lieber, Frauen aus Ost-Europa, da ist das große Geld versteckt." "Wie bitte, du meinst ich soll hier ein Bordell eröffnen, ich bin doch nicht wahnsinnig." "Kein richtiges Haus aus Backsteinen und Dachziegeln, aber ein virtuelles Bordell, ein Portal im Internet, eine hammergeile website, die jeden Mann scharf macht. Du bist doch selber ein Mann, du weißt wie es ist. Pornographie und Prostitution wurde von Männern für Männer erfunden. ... und Frauen aus östlichen Nachbarländern, die kurz vor der Pleite stehen und scharf auf Kohle sind, gibt es wie Sand am Meer. - So einfach ist das." "Wir beide bleiben völlig versteckt im Hintergrund und zählen das Geld. Wenn die Kiste mal richtig läuft, dann werden wir nicht mehr fertig mit zählen." "Wie soll das funktionieren? - Ich meine, zuerst müßtest du doch ein paar Frauen anheuern, woher willst du die nehmen - und wo sollen die wohnen?" - Kein Problem, laß mich nur machen, ich habe meine Kontakte, das mit dem Wohnen, da habe ich mir gedacht, dass ein paar Wohnwagen die Lösung sein könnten. Die Arbeit könnte ich mir als Straßenstrich, oder als Begleitdienst für gutbetuchte, im Hotel logierende Herren, vorstellen." Wir mussten schon wieder lachen über unsere tollen Pläne. "Geld gibt es genug, man muss es nur einsammeln", sagten wir fast gleichzeitig. "Falls die Polizei, oder die Steuerfahndung uns in die Quere kommt, können wir die Wohnwagen schnell und unkompliziert woanders hinstellen." "Wie willst du eigentlich die sprachlichen Probleme anpacken?" "Was meinst du?" "Na ja, überleg´doch ´mal, angenommen eine kommt aus Lettland, die nächste aus Polen, Ukraine, oder woher auch immer, wie willst du mit diesen Menschen reden?" "Mein Gott, in Deutsch natürlich, die sind schließlich scharf aufs Geld, da müssen sie sich eben bemühen, so läuft das, wir sind hier in Deutschland". "Na gut wie Du meinst", sagte ich nach einer kurzen Pause und überlegte mir wie das gehen sollte. Vielleicht Katharina fragen, ob sie als Dolmetscherin arbeiten möchte, sie war eine gebildete Frau, ohne Zweifel. Vermutlich würde sie zornentbrannt sagen: "Mach deine schmutzigen Geschäfte alleine, du Menschenhändler.!" Ehrlich gesagt, ich hätte völliges Verständnis für diese Antwort. Das was wir hier planten, uns in allen Farben ausmalten und vorstellten, war nichts als häßliche Zuhälterei. Das war eine ganz andere Geschichte als Diebesgut zu transportieren. Als kleiner Fisch in einem Hehlerring riskierte ich vielleicht zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung, aber Zuhälterei, dafür gab es garantiert mehrere Jahre Zuchthaus. Und irgendwie war das auch gut so, noch war ich in meinem innersten ein anständiger, braver Mensch mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Aber genau so war ich ein Opfer der Globalisierung, der uneingeschränkten Mobilität und der flauen Konjunktur. Es war zwar ein Privileg in einem Europa zu leben, das seit nunmehr 60 Jahren in Frieden lebte, der Konflikt in Ex-Jugoslawien mal ausgenommen. Aber genau so hatten die vielen offenen Grenzen in Europa und die offenen Märkte der erweiterten EU auch die Arbeitsplätze beweglich gemacht. Jobs wurden nunmal an einem Ende abgebaut und am anderen Ende, vielleicht 1000 km östlich, wieder neu aufgebaut. Gewinner und Opfer gab es wie immer auf beiden Seiten. Viele Menschen im "alten" West-Europa hatten ein ungutes Gefühl in dieser sich, rasend schnell, verändernden Welt, das zeigten die Abstimmung zur europäischen Verfassung in Frankreich und Niederlanden ganz deutlich. Bloß nicht noch offenere Grenzen, nicht noch mehr Länder, die kulturell und mentalitätsmässig, so weit von Frankreich, oder Deutschland entfernt waren. Ohne jeden Rassismus darf man so weit gehen und sagen Rumänien, oder gar die Türkei wollte niemand in der EU.
"Woran denkst du eigentlich - du bist so still?" "Ach weißt du, mir gehen tausend Sachen durch den Kopf". Ich versuchte ihm eine kleine Zusammenfassung meiner Gedanken zu vermitteln. "Mein Gott, du bist ja ein richtiger, kleiner Hobby-Philosoph, ehrlich gesagt, ich interessiere mich nur für´s Geld. Früher habe ich mal als Bauzeichner gearbeitet, aber im Zeitalter von CAD gibt es diesen Beruf nicht mehr, als musste ich mir was anderes suchen." "Ich habe dann nochmals eine befristete Stelle für ein Jahr gefunden, aber leider kam eine ganz häßliche "Mobbing-Geschichte" dazu und ich musste nach einigen Monaten wieder gehen.
"Dann sind wir beide Opfer einer veränderten Arbeitswelt, aber auch Menschen die sich zu helfen wissen." "Genau, du sagst es!" ... und wir prosteten uns zu und lachten und fanden das Leben als Opfer gar nicht so schlimm. Wir waren dabei auch Täter zu werden, Täter der übelsten Sorte.
"Sag mal, wegen meinen Bedenken vorhin, ich kenne eine Frau aus Polen, sie ist sehr gebildet und sprachlich versiert, was meinst du, soll ich sie einweihen und fragen, ob sie bei uns als Dolmetscherin und vielleicht als Vertrauensperson mitmachen will? Denn du musst schon sehen, wenn eine blutjunge Polin, kaum erwachsen. weit weg von zuhause, ausgerechnet in einem Bordell arbeiten soll, dann hat die garantiert ihre Krisen und Alpträume." "Na gut, wenn du meinst, aber je mehr Leute Bescheid wissen, umso gefährlicher wird das ganze Unternehmen."
Irgendwie einigten wir uns. Ich fragte Katharina und er fragte jemanden der sich mit dem Erstellen von Internetseiten besser auskannte, als wir beide zusammen.
In der SMS schrieb ich: "Liebe Katharina, sende mir bitte deine Postadresse, ich möchte dir einen ausführlichen Brief schreiben." Ihre Antwort kam prompt und ich erläuterte ihr handschriftlich und detailliert unsere schweinischen Absichten. Ein paar Tage nachdem ich den Brief abgeschickt hatte, rief sie mich an. "Bist du dir bewusst auf was du dich einläßt?" fragte sie mich nach einem kurzen, nicht unfreundlichen Gruß. "Ja, ich weiß, darüber haben mein Bekannter und ich ausführlich gesprochen." "Ich bin unter gewissen Bedingungen dabei." "Was für Bedingungen?" "Ich mache mit als Beraterin und Übersetzerin" - und nach einer kleinen Pause "... und nicht als Objekt deiner Gier, das muss ganz klar sein." "Das geht in Ordnung" sagte ich kleinlaut, irgendwo in meinem Innersten hatte ich immer noch ein Fünkchen Hoffnung, dass Katharina und ich vielleicht doch noch zueinander finden.
Als wir uns zum erstenmal trafen, mussten wir erst einmal genau besprechen wer was macht. F. würde für uns die website erstellen, eine einmalige Zahlung mitnehmen und dann wieder verschwinden. Mit dem Betrieb hätte er nichts zu tun. Das war gut so. Er war ein stiller, vertrauenswürdiger Mensch, der ruhig seine Arbeit machte und keine Fragen stellte. Katharina war ein völlig anderes Kaliber, sie wollte gleich die Chefin sein und sich alles unter den Nagel reißen. "Hör mal, das Ganze ist unsere Idee!" sagten Max und ich wie aus der Pistole geschossen. "Du sollst für uns die Kontakte pflegen, die Damen anheuern und ihnen seelischen Beistand leisten. Dafür kriegst du 20% der Einnahmen. Max und ich sagen wo es lang geht und wir kassieren die restlichen 80%. So einfach ist das." "Das glaubst aber nur du!" Ihr agressiver Tonfall machte mich nervös, in Gedanken beneidete ich meinen Vater, er gehörte noch zu der Generation, in der Männer etwas zu sagen hatten. "Ich will die Hälfte" sagte Katharina und auf ihrem Gesicht, in das ich mich, vor Monaten, fast verliebt hatte, zeigte sich ein gemeines, falsches Lächeln. Ihre Geldgier war so offensichtlich, die roten Ohren und das Leuchten in ihren Augen, eiskalt und zum Kampf entschlossen. Ich war völlig verunsichert. Max unterstützte mich: "Wir finden auch jemand anders der Polnisch und Russisch spricht - so schwierig kann das nicht sein." Eine kurze Pause, die Anspannung war uns allen ins Gesicht geschrieben. "Also gut, 30% für mich, dann bin ich dabei" sagte sie nach ein paar Sekunden - und so bestimmt, dass wir beide wussten, das war ihr letztes Entgegen-
kommen. Mehr war nicht zu machen.
Innerhalb von zwei Wochen stand der Laden.
6. Kapitel
Lena stammte aus Polen und erzählte uns in Deutsch mit wunderschönem Akzent, dass ihr Vater so arm war, dass er seit Jahren in einem völlig verrosteten, fahruntauglichen Wartburg wohnte. Auf einem Parkplatz am Stadtrand von Warschau, die Mutter wohnte ganz in der Nähe in einer winzigen Wohnung, die dringend saniert werden müsste. Lena war fröhlich und machte einen klugen Eindruck und hatte wohl aus irgendwelchen Gründen ihre Ausbildung als Bürokauffrau nicht zu Ende gebracht. Über Umwege war sie an uns geraten. Katharina und sie lachten häufig zusammen. Sie würde also für uns arbeiten. 30% an Katharina, 40% an Lena, blieben 30% für Max und mich. Ca. zehn Kunden pro Tag, pro Kunde ca. 70 Euro machte für mich ca. 100 Euro pro Tag und "Mitarbeiterin". Astronomisch, ich freute mich riesig - endlich wieder einmal Kohle in der Tasche!
Coni war einfach nur blöd. Man sah es ihr an, auf den ersten Blick, sie sprach nur ihre Muttersprache, kein Englisch und Deutsch schon gar nicht. Katharina unterhielt sich ab und zu mit ihr in einem Tonfall, so wie wenn jemand mit einem kleinen Kind spricht. Sie hatte einfach begriffen, dass sie mit unserer Hilfe viel Geld verdienen konnte und ich war überzeugt, sie würde dafür spontan aus dem Bauch, ohne zu überlegen, irgend welchen Blödsinn kaufen. Sie sah nicht schlecht aus, da sie aber zweimal pro Woche ins Solarium ging, hatte sie diese unverkennbar, künstlich wirkende Moccabräune, die an ihr genau so blöd wirkte wie an allen anderen Solariumkunden. Aber eigentlich paßte die Hautfarbe zu ihrem Verstand.
Das waren unsere ersten beiden Mitarbeiterinnen, die im ersten Wohnwagen, den wir günstig kaufen konnten, ihrer Arbeit nachgingen. Max und ich waren, abwechselnd, immer in der Nähe. Wer weiß, was für Verrückte zu uns kommen würden. Die Reaktion auf unseren Internetauftritt war enorm, das Telefon läutete häufig. Bald plazierten wir ein Inserat im Gratisblatt: "Lena und Coni suchen eine liebe, verschmuste Kollegin."
Dann kam Jessica. Immer am schwatzen und schon nach ein paar Tagen überzeugt sie müsste alles auf den Kopf stellen. Sie sah unglaublich gut aus und konnte sich in jeder Lebenslage perfekt verkaufen. Sie dominierte so schnell und umfassend, dass Katharina schon anfing böse mit den Augen zu funkeln. Einmal hatten wir einen äusserst skurilen Kunden, der mit einem Engel bezahlen wollte, den er offensichtlich aus einer katholischen Kirche geklaut hatte. Ich musste lachen, als mir Jessica davon erzählte. Sie fand es aber gar nicht lustig und verabschiedete den Kunden mit den Worten: "Geh doch woanders ficken du geiler Bock!"
7. Kapitel
Die Wochen gingen vorbei, wir verdienten alle prächtig und Katharina und ich kamen uns, wenn auch nur zögernd, wieder etwas näher. Sie sah mich freundlich an mit ihren dunklen Augen, die zärtlich leuchten konnten wenn sie wollte, meistens wollte sie leider nicht, und sagte: "Es ist schön dich zu kennen." Dann lagen wir uns plötzlich in den Armen.
Am nächsten Tag, wir waren richtig glücklich und fühlten uns pudelwohl, fanden wir Zeit bei wunderschönem Frühsommerwetter einen Spaziergang zu machen. "Wie lange können wir dieses illegale Spiel, bei dem man sehr viel Geld verdient, noch machen." Sie schaute mich an und zögerte einen Moment mit der Antwort. "Ich glaube wir haben bis jetzt einfach Glück gehabt und sollten besser heute als morgen aufhören. Lieber arm und dafür im Rahmen der Legalität, als die nächsten Jahre im Gefängnis." "Das ist ganz genau meine Meinung," antwortete ich.
Max war völlig verblüfft, als wir ihm sagten, dass wir aussteigen wollten. "Unser Entschluß steht - und du solltest das gleiche tun, irgendwann fliegt der Laden auf und wir landen alle im Knast." "Tja, wenn ihr meint dann geht. Ich denke nicht im Traum daran aus diesem Schlaraffenland auszusteigen."
8. Kapitel
Aber wir waren draußen. Ich wusste genau, dass ich alleine, trotz dem vielen Geld das ich innert kürzester Zeit verdient hatte, irgendwann wieder pleite sein würde. Im Moment hatte ich richtig Geld - und da ich ein vorsichtiger Mensch war ohne Gier auf Luxus, also nicht etwa ein Arschloch mit Goldkette behangen, in einer Corvette Stingray, würde das Geld - es lag in bar unter meinem Wohnzimmerteppich - noch etliche Monate reichen. Das erzählte ich alles Katharina, inzwischen vertraute ich ihr völlig und sie sagte mir: "Wenn wir zusammen spannen, dann finden wir vielleicht auch im Rahmen der Gesetze einen Weg um längerfristig im Wohlstand zu leben. Aber jeder für sich alleine, werden wir sehr schnell wieder Probleme haben. du hier in Deutschland und ich in Polen. Vielleicht sollten wir zusammen ziehen. Was meinst Du?" "So richtig wie ein Ehepaar?" "Genau, wenn du mich heiraten würdest, dann könnte ich hier bleiben - und als ehemalige Sprachlehrerin finde ich vielleicht nochmals eine Teilzeitstelle. Du als Buchhändler - und als Taxifahrer, weil du im Buchhandel nichts mehr finden kannst, könntest ab und zu nachts fahren und ein bißchen dazu verdienen. So werden unsere Bargeldreserven noch lange reichen - und wir fallen nicht weiter auf, wenn wir mal schön essen gehen, oder ein paar Teile zum Anziehen kaufen." "Das hört sich richtig gut an, aber wenn ich an meine erste Ehe zurückdenke, dann packt mich das nachte Grauen - und ehrlich gesagt, habe ich null Bock auf heiraten. Tut mir leid, dass ich das so unverblümt sage, zumal ich dich richtig gern habe und du im Bett einfach toll bist, aber du weißt GEBRANNTE KINDER SCHEUEN DAS FEUER." "Mein Gott bist du blöd, merkst du nicht was wir hier für eine Chance sausen lassen wenn wir nicht heiraten. Dann muss ich sehr bald zurück nach Polen und dort finde ich nie mehr Arbeit." - "Ich meine, ich verlange ja nicht, dass du mich liebst bis ans Ende deiner Tage. Aber so könnten wir zusammen existieren, ohne jedesmal zusammen zu zucken, wenn irgendwo ein Polizist auftaucht."
Das ging noch eine Weile so weiter - und irgendwann hatte sie mich überzeugt.
Der Verwaltungsaufwand war enorm. Wir wollten, beide Ausländer, hier in Deutschland heiraten. Nach vielem Warten auf Dokumenten aus Polen und der Schweiz, hatten wir endlich alles beisammen und konnten zum Standesamt gehen und uns trauen lassen. Wir waren richtig glücklich und planten gemeinsam unsere nähere Zukunft. Eine fernere Zukunft mussten wir nicht planen, denn wir gingen beide auf die fünfzig. Für beide war es die zweite Ehe und wir mussten beide damit rechnen auf dem Arbeitsmarkt bald völlig überflüssig zu sein.
Nach längerer Suche fand Katharina eine befristete Halbtagesstelle in einer Sprachschule und unterichtete dort Russisch. In dieser Sprachschule, während einer Diskussionsrunde mit ihren Schülern, kam sie auf die Idee einen sogenannten "Herzkreis" zu gründen - und damit unsere Zukunft vielleicht doch langfristig zu sichern. Das geniale an dieser Idee beruht darauf Menschen zu finden die bereit sind als Einstieg in diese Geschenkrunde einen gewissen Betrag einzuzahlen, um damit in der Hierarchie eine Stufe höher zu kommen, also beispielsweise zwei Leute bringen zusammen 2000,- Euro - jeder 1000 - steigen dafür eine Stufe höher, gleichzeitig bringt jeder von ihnen noch vier Leute mit, die ebenfalls je1000,- Euro einzahlen. Damit steigen diese vier Menschen auf die Stufen, auf denen vorher die zwei ersten Zahler waren. Diese vier suchen wiederum in ihrem Bekanntenkreis Menschen, die ebenfalls, in der Hoffnung aufzusteigen, bereit sind zu zahlen. So geht das weiter und weiter, wer zuoberst angelangt ist kassiert eine Menge Geld - und scheidet aus. Das ganze hat einen Haken - es ist illegal! Genau wie die Sache mit den Kettenbriefen, oder sogenannt sichere Anleihen, mit auffallend hoher Rendite, die sich dann irgendwann als Flop erweisen.
Über diese Idee unterhielten sich Katharina und ich stundenlang, aus lauter Vorfreude bekamen wir beide rote Ohren und glühende Augen. Wir freuten uns wie kleine Kinder und merkten nicht, wie sich unsere Beziehung veränderte. Weg vom Verliebtsein und der erotischen, zärtlichen Zuneigung hin zur gemeinsamen Geldgier.
9. Kapitel
Einer der ersten, den wir überzeugen konnten bei uns mitzumachen war Max. Er war noch mehr als ich und Katharina überzeugt, dass sei eine todsichere Angelegenheit. Er zahlte 2000 Euro und stieg sozusagen quer ein, direkt unter uns. Mit Coni lief es genau gleich. Sie vergötterte Max vom ersten Tag, es war auch offensichtlich, dass sie nicht nur viel zu seinem erfreulichen Kontostand beitrug, sondern ihm auch diverse andere Gefallen machte. Auch von ihr kamen 2000 Euro.
Lena, die klügste unter unseren ehemaligen Mitarbeiterinnen, traute der Sache hinten und vorne nicht. "Das kann und wird niemals funktionieren! - Paßt bloß auf, dass niemand, aus lauter Wut und Entäuschung über das Nichtgelingen dieses Unternehmens, ausrastet und euch alle in riesige Schwierigkeiten bringt. - Später musste ich einsehen, dass ihre Warnung eine traurige, aber berechtigte Prophezeiung war.
Es gelang uns mehrere Leute an Land zu ziehen, die alle bereit waren 1000,-- Euro als Einstand zu zahlen. Wir gaben eine kleine Feier in einem Restaurant, es war ein wunderschöner Sommertag und wir verlegten die Party kurzerhand vom gemieteten Saal auf die Terrasse. Wir führten intensive Gespräche mit unseren Interessenten; - es waren eigentlich reine Verkaufsgespräche, die auf einer noch nie erprobten, diffusen und illegalen Idee beruhten, aber das wussten nur Katharina und ich. Während ich gerade einen kurzen Moment der Ruhe genießen konnte, stellte sich ein älterer Mann, ich schätzte ihn auf ende 60 zu mir. "Ich liebe diesen Moment anfangs Juli wenn sich das satte Grün des Frühsommers in ein trockenes, karges Gelb verwandelt und die Hitze grad noch erträglich ist." "Das finde ich auch ein wunderschöner Moment im Jahr" erwiderte ich. - Es dauerte nicht lange, dann waren wir in ein Gespräch vertieft und ich vergaß alles um mich herum. Plötzlich sagte er: "Letzten Winter habe ich meine Tochter verloren. Sie hieß Sarah und ist auf unerklärliche Art und Weise im Stadtpark zu Tode gekommen. Die Polizei zog sie aus dem Weiher".
Paff, das saß! Wie ein Schlag ins Gesicht! Ich zuckte zusammen und war völlig sprachlos.
Nach einem Moment der Stille und des ungläubigen Staunens fand ich meine Haltung und meine Stimme wieder. "Wie konnte so etwas schreckliches geschehen?" "Ich weiß es auch nicht und die Polizei ist mit ihren Ermittlungen nicht weiter gekommen. Wenn ich wenigstens wüsste was genau geschah, vielleicht könnte ich dann irgendwann diesen Schicksalsschlag und die Trauer verarbeiten. Nicht vergessen, das sowieso nicht, aber irgendwie lernen damit umzugehen und diesen Verlust zu akzeptieren. Sie war so eine tolle Frau, so tüchtig und zielstrebig und hat ihre männlichen Kollegen, wie sie mir immer wieder voll berechtigtem Stolz erzählt hat, alle links liegen gelassen. Sie war Abteilungsleiterin, hat also richtig Karriere gemacht in einer Branche in der Frauen zwar sehr stark vertreten sind, aber die meisten Chefsessel von Männern besetzt sind." Ich dachte mir meinen Teil und erinnerte mich sehr genau an die Zeit bei Rosenberg und Partner. Sarah tat alles, oder fast alles für ihren Erfolg. Zuoberst stand die Arbeit, die Karriere - alles andere kam erst später. Lügen und Kollegen bei der Chefin anschwärzen gehörte genauso dazu wie ihre Bereitschaft Leistung zu erbringen und Überstunden zu machen. Wenn jemand gegen sie war schwatzte sie ihn buchstäblich in Grund und Boden. Sie war nicht intelligenter als andere Menschen auch, aber sie konnte ausdauernd und gut reden. Und sie besaß so etwas wie Bauernschläue und einen Riecher für die Dinge, die mit wenig Aufwand große Wirkung erzielten. Die Idioten machten die ganze Arbeit, ich gehörte ganz klar zu den Idioten, und sie kassierte die Leistungsprämien.
Zu Sarahs Vater sagte ich nur: "Das tut mir sehr, sehr leid für sie, ein Kind zu verlieren, auch wenn es längst erwachsen ist, muss schrecklich sein."
Wir unterhielten uns weiterhin, plötzlich stand Katharina neben mir und unser Gesprächsfaden war von einer Sekunde zur nächsten unterbrochen. Nach einer kurzen Pause sagte ich zu Katharina: "Herr Meier hat mir gerade von seiner Tochter erzählt, die bei Rosenberg und Partner gearbeitet hat und die leider vor einigen Monaten ums Leben gekommen ist." "Oh, das tut mir leid" sagte sie und fragte mich: "Rosenberg und Partner - das kommt mir bekannt vor" - ich versuchte abzuwinken und sie zum Schweigen zu bewegen - aber ohne Erfolg. "Hast du nicht selber vor Jahren bei dieser Firma gearbeitet?" - SCHEISSE! - das sagte ich zwar nicht laut, aber ich dachte es. "Ähm ja, das stimmt, aber das ist schon eine Weile her." "Was, haben sie meine Tochter etwa gekannt?" fragte Herr Meier. "Ja, ich habe sie gekannt", musste ich leider zugeben. Ich hätte Katharina prügeln können. Mit Schrecken dachte ich an das stundenlange Verhör durch die giftige Polizistin. "Na das löst aber einiges in mir aus" meinte Herr Meier mit einem bösen Funkeln in seinen Augen. Ich weiß nämlich durch eine Indiskretion bei der Polizei, ich kenne dort seit vielen Jahren eine Sekretärin, dass einer der Hauptverdächtigen, falls es kein Unfall war, ein ehemaliger, männlicher Kollege ist." - Dann war Ruhe. - Ich war völlig verunsichert, Katharina fing an zu begreifen was sie wieder einmal für Scheiße gebaut hatte - und Herr Meier schwankte irgendwo zwischen Wut, Haß und tiefer Trauer über den Verlust seiner Tochter.
Sein Gehirn lief auf Hochtouren, man konnte es buchstäblich rauchen sehen. Dann sagte er: "Mein Vertrauen haben sie verspielt, ich werde überhaupt nichts einzahlen - und ich gehe jetzt!" - Nach einer Pause sagte er zur ganzen Runde, die friedlich beisammen stand in der Vorfreude auf zukünftigen Reichtum und Wohlstand: "Wenn ich sie wäre würde ich das gleiche tun, dieser saubere Herr hat vielleicht etwas mit dem Tod meiner Tochter zu tun." "Wie bitte? Was ist? Das kann doch nicht sein" sagte einige ganz erstaunt. Ich war im ersten Moment sprachlos. Dann gab ich mir einen Ruck. "Jetzt hören sie aber sofort auf, das ist alles erstunken und erlogen.!" "Ich kann ihnen leider nichts beweisen, Tatsache ist aber, dass sie meine Tochter gekannt haben, mit ihr zusammen gearbeitet haben - und das ist ganz wichtig, SIE HABEN SIE GEHASST!" "Ist doch gar nicht wahr!", rief ich mit sich überschlagender Stimme. "Woher wollen sie das wissen" "Ich weiß es nicht ganz genau, aber je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr Sinn machen die Erzählungen meiner Tochter. Sie hat öfters von ihrem Arbeitsalltag und Menschen in der Firma erzählt, nicht nur Gutes, weiß Gott. ... und immer wieder von einem Mann in ihrem Alter ein schleimiger Typ mit windigem Charakter!"
Das ging eine geraume Zeit so weiter - und nach ca. 20 Minuten waren alle, ALLE Inserenten WEG! Nur noch Katharina, Max, Coni und ich standen da und sahen uns betreten an. Wir waren buchstäblich erschüttert.
"Das darf nicht wahr sein, alles vermasselt - und es hätte so schön sein können", meinte Max nach einer Pause. "Das war Katharina´s Verdienst!" war meine laute und giftige Ergänzung. "Ja, ja, du bist sowieso ein superschlauer, wenn du mich nicht hättest, wärst du auch nie auf so eine tolle Idee gekommen". "Das wäre todsicher besser gewesen", antwortete ich und erwähnte die Tatsache, dass wir hier in dieser Stadt ganz sicher nie mehr irgend eine lukrative Sache anpacken konnten. Unser Ruf war ruiniert. "Sicher nicht unter unserem eigenen Namen, das ist klar und es tut mir auch leid, dass ich einen Satz zuviel gesagt habe, aber ich habe noch eine Idee in der Tasche." "Ach weißt du, bei deinen Ideen sind wir inzwischen vorsichtig!" "Auch gut, ich habe eine Idee, die ich alleine durchziehen kann. Nämlich als Fernheiler". "Ha, Ha, was soll das denn sein?" fragte ich. Sie war schon wieder voll Tatendrang und Zuversicht und sagte: "Zum Beispiel ein Inserat aufgeben mit etwa folgendem Inhalt - Kopfschmerzen, Krebsleiden, Liebeskummer - dipl. Parapsychologe mit langjähriger Erfahrung hilft schnell und günstig."
..."und du meinst da meldet sich jemand?" fragte ich mißmutig aber mit einer Prise Neugier. Eines musste ich Katharina lassen, sie war eine kluge Frau, trotz allen Fehlern wie ihre unsägliche Geldgier und ihrem herrischen Wesen. "Das könnte gut sein, ich habe einmal im Fernsehen eine Reportage aus der Schweiz gesehen, da hat es doch ein sogenannter Fernheiler mit Raffinesse und fiesen Tricks fertig gebracht seine Kundinnen und Kunden immer wieder zu ködern und mit seinem überzeugendem Auftreten eine Atmosphäre von Vertrauen und Abhängigkeit zu schaffen, so dass er ihnen nicht nur zehntausende, sondern sogar hunderttausende von Franken abnehmen konnte. Der Trick besteht darin, dass er sich während, sagen wir mal, 30 Minuten pro Tag auf das Problem seiner Kunden "konzentriert" und sich diese Zeit fürstlich bezahlen läßt - eine wirklich geile Idee, das hat mich völlig überzeugt. Diese Sache bringt dem dummen Kunden (der vielleicht unheilbar an Krebs leidet - und sich in seiner Verzweiflung an jeden Strohhalm klammert) überhaupt nichts. Der Fernheiler sagt seinen Kunden er müsse sich eben noch stärker und länger konzentrieren - und das koste eben noch mehr. So einfach ist das." "Das ist ja zum Kotzen - und eine grausame und zynische Gemeinheit" sagte Max wie aus der Pistole geschossen! "Meine Mutter ist vor einem halben Jahr an Krebs gestorben, zum Glück ist sie am Ende ihres Lebens nicht noch an so einen Drecksack geraten, sie hatte weiß Gott genug zu leiden" ... und nach einer, kleinen Pause sagte er noch "da bleibe ich lieber Zuhälter und verdiene mein Geld mit der Geilheit der Männer, da brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben", nahm seine schnucklige, allzeit bereite Coni an der Hand und ging zurück in sein Etablissement zum vögeln und Geld verdienen.
"Weißt du noch wie wir vor wenigen Wochen beschlossen haben aus den illegalen Machenschaften auszusteigen und gesagt haben "lieber arm und dafür im Rahmen der Legalität, als die nächsten Jahre im Gefängnis", sagte ich zu ihr. "Selbstverständlich erinnere ich mich daran" war ihre Antwort -"und ich habe ja noch die Arbeit als Russischlehrerin, aber ich finde es einfach so aufregend und prickelnd richtig Geld zu verdienen, mit richtig meine ich mindestens das drei-, oder zehnfache von dem was wir zusammen mit unseren legalen Teilzeitstellen verdienen". - "und das brave Leben ist einfach stinklangweilig", fügte sie nach einer Pause hinzu. - Das war der springende Punkt! Genau das war´s! Ich sagte zu ihr: "Du bist nicht nur geldgierig, sondern süchtig! Süchtig nach "fun and action". Wenn du nicht so gebildet wärst und vielleicht noch 20, oder 30 Jahre jünger, dann würdest du jeden Tag vor dem Computer hocken und irgendwelche blöden Spiele machen! Vermutlich ist deine erste Ehe aus diesem Grund gescheitert. Du hast einfach nur Ansprüche, an deinen Mann, an das Leben und die Gesellschaft. Wieso hast du mich geheiratet? Vermutlich nur um dein Land verlassen zu können und irgendwo nochmals einen richtigen "Kick" zu erleben. Bloß keine Langeweile, bloß nie erwachsen werden!" - Ich kam so richtig in Fahrt und schmiß ihr die Sätze nur so um die Ohren, und wusste genau, dass ich mir die meisten Vorwürfe selber machen könnte! - "So, jetzt reicht´s!" unterbrach sie mich "und was meinst du ist mit dir los!" Es ging gleich weiter: "Du kleiner Scheißer kannst nur noch ficken und Taxi fahren, hast mal irgendwann vor 25 Jahren einen Beruf gelernt, in dem du heute chancenlos bist. Dann schmuggelst du Autos, Gemälde, bist als Zuhälter unterwegs und die Idee mit dem Herzkreis hat dir auch nicht schlecht gefallen. Aber das ist ja alles vorbei - und du bist ja in deinem Innersten ein anständiger Mensch, wie du immer wieder betonst!"
- Weißt du was, ich werde jetzt hier wohl oder übel die Rechnung bezahlen, die Idee, oder besser die geplatzte Idee mit dem Herzkreis, geht schließlich auf meine Verantwortung, aber dann werde ich bis übermorgen von der Bildfläche verschwinden. "Und jetzt hau einfach ab, ich brauche 48 Stunden Abstand von dir!" - Sagte es, und ließ mich stehen.
Ich ging zurück in unsere gemeinsame Wohnung, hörte ein paar alte, traurige Lieder - und fing an zu heulen.
10. Kapitel
Irgendwann waren die 48 Stunden vorbei, ich hatte die ganze Sammlung an traurigen Liedern gehört (von Brothers in Arms bis zu Sometimes it snows in April) als Katharina zurückkam und sagte: "Peter du kannst hier bleiben, ich möchte mir eine eigene Wohnung nehmen, aber bitte, bitte laß dich nicht von mir scheiden, sonst muss ich zurück nach Polen". "So, du hast dich also entschieden", sagte ich völlig resigniert. "Allerdings, du bist zwar ein lieber Mensch, aber irgendwie klebst du wie ein Klotz am Bein. Ab und zu brauche ich vielleicht einen Mann für´s Bett, aber sonst komme ich alleine besser zurecht." - Das saß, jetzt wusste ich Bescheid, da gab es nichts mehr zu ergänzen.
So blieb ich halt alleine in unserer Wohnung, die zwar deutlich schöner und größer war als das Loch in dem ich noch vor ein paar Monaten gewohnt hatte, aber auch hier war es nach dem Auszug von Katharina schlagartig still, ganz, ganz still. Beklemmende Ruhe. Einmal mehr zurück geworfen auf mich selbst, ich lenke mich nicht gerne ab, bei mir läuft nicht immer der Fernseher, oder das Radio, das heißt aber noch lange nicht, dass ich dieses schutzlose, fast splitternackte, auf mich selbst reduzierte Dasein ohne Ablenkung und Zerstreuung gut verkraften kann. Manchmal macht es mich halb wahnsinnig!
Die Zeit vergeht, ich gehe einkaufen, putze und glotze täglich Tagesschau, funktioniere irgendwie und fühle mich einsam. Wozu lebe ich?
Anfangs August, während einem Spaziergang, am Rande der Stadt, vorbei an den Gärten der Vorstadt mit ihren riesigen Malven und Sonnenblumen, suche ich zum tausendstenmal die Antwort. Plötzlich sehe ich eine uralte Linde weit draußen am Rande eines Weizenfeldes.
Majestätisch steht sie da. Wie ein Symbol des Lebens, etwas außerhalb, grün und riesig. Um sie herum die gelben Felder, sie aber dunkelgrün, fest verankert, unbeugsam. Die stille Landschaft, im Sonnenlicht, sengend und flimmernd in der Mittagshitze, steht sie da mit ihrer Kraft wie ein Mahnmal, blickt mich an. "Wenn Du schon lange nicht mehr sein wirst, werde ich immer noch hier sein, vergiß das nie", sagt sie zu mir.
Ich betrachtete den Baum noch lange, beeindruckt, fast erschüttert über mein kleines bißchen erbärmlichen Lebens, aber auch erfüllt von seiner Ruhe und Beständigkeit. Wir kommen und gehen. So kurz und bedeutungslos. Trotzdem bringen wir es fertig Haß und Wut und Enttäuschungen zu sammeln, anzuhäufen über Jahre. Ich kann nichts vergessen - leider. Mein Gehirn ist voll mit schmerzenden Episoden, Menschen die schon lange aus meinem Leben verschwunden sind, ihr Haß und ihre Verachtung bleiben in mir drin, wie eingebrannt in meiner Haut.
Was bleibt ist diese eigentümliche, schwer zu beschreibende Trauer, die sich wie ein Leichentuch über mich legt - und die ich nicht abschütteln kann.



Eingereicht am 09. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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