Träume eines Freizeitcowboys
© Wolfgang Scholmanns
Ein doch schon etwas eigenartiger Typ. Ca. 180 cm groß und bestimmt 150 kg schwer. Jeden Abend steht er hier an der Theke und trinkt entweder Mineralwasser oder an manchen Tagen auch Bier. Immer trägt er eine Lederweste, Jeans und einen von diesen großen Cowboyhüten. Hals und Brust zieren eine mächtig dicke Kette mit einem Medaillon und seine Finger sind mit protzigen Ringen geschmückt. Was mir auffällt ist, dass seine Fingernägel so schwarz sind, als hätte er gerade mit bloßen Händen eine Leiche verbuddelt.
Das Auffälligste an ihm ist jedoch der riesige, geschwungene Schnurrbart, dessen Spitzen fast bis zu den Augen reichen. Er sitzt immer alleine hier und meistens auch auf dem gleichen Platz. Das ganze Geschehen um ihn herum scheint ihn nicht zu interessieren denn seine Nase hat er tief in einen Westernroman versenkt. Nur ab und zu wandert sein Blick die Theke entlang, so als würde er jemanden erwarten. "Na, heute Abend ist wieder Mineralwasser an der Reihe?", frage ich ihn. "Ja, mein Gaul steht
draußen und der mag es nun mal ganz und gar nicht, wenn ich Alkohol trinke", schmunzelte er. "Dein Gaul"? "Ein 69er Ford Mustang, ich nenne ihn liebevoll meinen Gaul, " sagte er. "Ach so, " erwiderte ich." "ich dachte schon du hättest ein Pferd hier draußen vor der Kneipe angebunden. Scheinst ja ein Westernfreak zu sein!" "Westerfreak? Ja, ich beschäftige mich schon seit meiner Jugend mit allem, was mit dem - Wilden Westen - zu tun hat. Zu meinem dreizehnten
Geburtstag bekam ich ein Buch mit dem Titel - Der Wilde Westen wie er wirklich war - geschenkt und von dieser Zeit an fesselt mich dieses Thema. Manchmal, wenn ich so in einen dieser Westernromane vertieft bin, fühle ich mich so in diese Geschichten hineinversetzt, als ob ich tatsächlich bei den Geschehnissen dabei wäre." "Kann ich gut nachvollziehen", sagte ich. "Mir geht's manchmal auch so wenn ich ein Buch lese." "Welche Art von Literatur liest du denn?" fragte er. "Nun
ja, das kommt immer darauf an in welcher Gemütsstimmung ich mich gerade befinde. Manchmal sind es die wunderschönen Geschichten von Hermann Hesse, besonders die wo er über das schreibt, was für ihn Glück bedeutet oder Werke von Thomas Mann, Ingeborg Bachmann und noch so einigen anderen Schriftstellern. Manchmal greife ich mir aber auch ein Comic-Heft." "So so", sagte er. "Also Hesse und Mann. Steppenwolf, Unterm Rad, Narziss und Goldmund oder das Glasperlenspiel. Buddenbrooks, Tonio Kröger,
Der Zauberberg usw." Ich war erstaunt, dass er diese Buchtitel alle kannte und forschte nach. "Hast du die etwa alle gelesen?" "Nicht alle aber einige schon. Meine Eltern waren große Verehrer dieser beiden Schriftsteller und diskutierten oft über Inhalte aus deren Büchern. Irgendwann wurde ich neugierig und holte mir Hesses Steppenwolf aus dem Bücherregal. Nach und nach verschlang ich einige Hessewerke und ich muss sagen, sie gefielen mir alle ausgezeichnet. Auch die Werke von Thomas Mann
haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen." Da hatte ich ja den richtigen Gesprächspartner gefunden. Dieser Westernfreak hatte also einige Werke von meinen Lieblingsschriftstellern gelesen. Da kann man doch mal wieder sehen, dass dieses alte Sprichwort - Du kannst den Menschen nur vor den Kopf gucken - sich mal wieder bewahrheitet hat. Hätte doch niemals vermutet, dass dieser Freizeitcowboy sich mit solcher, für so viele langweilige, Literatur beschäftigt hatte. "Da du vorhin das Thema Glück
im Zusammenhang mit Hesses Empfinden für Glück angesprochen hast, muss ich dich doch mal fragen ob du sein Gedicht - Glück - auch kennst", sagte er plötzlich und schmunzelte. "Jetzt bin ich aber überrascht", erwiderte ich. "Das ist mein Lieblingsgedicht!" "Überrascht mich gar nicht", sagte er. Es ist auch meines und bestimmt auch das vieler anderer Menschen. Es hat etwa, dass man in den süd-, ostasiatischen Philosophien wieder findet, diese Loslassen usw.". " Ja, finde
ich auch"! stimmte ich ihm zu. Er zeigte mit seinem Finger auf meine Brust, auf der sich ein an einer Kette hängendes Amulett mit dem Yin und Yan Zeichen befand. " "Warum trägst du dieses Zeichen? Weißt du um seine Bedeutung?" "Na klar", antwortete ich. Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit dem Taoismus und auch mit dem Buddhismus. Die älteste Idee der chinesischen Philosophie, die in allen Bereichen der Kunst und Wissenschaft vorkommt, ist die Einteilung in Yin und Yang. Yin
und Yang entstehen aus dem einen Ursprung und bringen dann ihrerseits die enorme Vielfalt der Erscheinungen, einschließlich des gesamten materiellen Universums, hervor. Um die verschiedenen Ebenen der Schöpfung rückwärts bis zum Ursprung zu durchlaufen, muss ein Mensch Gleichgewicht zwischen Yin und Yang herstellen. Dieses Prinzip gilt jedoch auch für weniger mystische Ziele. Für die Beseitigung von Hindernissen, die dem Glück im Wege stehen, für die Wiederherstellung der Gesundheit und Harmonisierung der familiären
Verhältnisse müssen sich Yin und Yang im Gleichgewicht befinden. Die ursprüngliche Bedeutung von Yang lautet: "Banner, die in der Sonne wehen"; Yin heißt "wolkig, bedeckt". Yin und Yang sind die zweithöchsten Kräfte des Universums. Sie sind nicht direkt wahrnehmbar, offenbaren sich jedoch durch ihre Eigenschaften und Manifestationen. "Hast dir schon ne ganze Menge Wissen über diese Philosophien angeeignet. Finde ich gut. Ich habe mich auch mal einige Zeit mit Buddhismus beschäftigt, aber
habe es dann wieder sein lassen. Ist mir zu realitätsfremd, in der heutigen Zeit". Ich wollte ihm meine Einstellung zum Buddhismus nicht näher erläutern und will auch niemanden bekehren. Jeder muss seinen Weg schon selbst finden und wenn er zum Glücke führt, dann scheint es ja auch der Richtige zu sein. Nun trat eine Zeit des Schweigens ein und ich dachte, dass er so wie ich über ihn, er auch über mich nachdenken würde. Er zündete sich ein Zigarillo an, zog genüsslich daran und beobachtete dann den ausgeblasenen
Qualm, der wie ein kleiner blauer Nebelschleier in der Luft schwebte. Nach einer Weile sagte er: "Würde jetzt gerne am East River sitzen, am Lagerfeuer weißt du? Ein wenig Countrymusic, eine Pfanne Bohnen mit Speck und um mich herum eine Herde Longhorns. Bin schon ein kleiner Spinner was"? "Wieso Spinner, jedem das Seine. Es ist doch schön, wenn man solche Träume hat. Wäre doch bedauerlich wenn man darauf verzichten müsste!" erwiderte ich. "Schön, dass du es so siehst. Nett dich kennen
gelernt zu haben". "Ja, bin auch froh jemanden wie dich kennen gelernt zu haben. Wir werden uns bestimmt noch des Öfteren hier begegnen und miteinander quatschen. Gesprächsstoff haben wir ja reichlich". Er grinste und winkte den Kellner herbei um seine Rechnung zu begleichen. "So, es wird Zeit. Ich bin im Landmaschinenbau tätig und da muss ich morgens immer früh raus. Wünsche dir noch einen schönen Abend". "Den wünsche ich dir auch. Dann bis zum nächsten Mal", erwiderte ich.
Eingereicht am 26. Juli 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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