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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Gisell

© Frank Moné


Es war Liebe auf den ersten Blick. Und ich habe es nie bereut. Bis heute liebe ich ihre einfache, schlichte Art. Diese vorhersehbare Dynamik, die ich noch nie bei einer anderen gefunden hatte. Vor ihr.
Gisell hat mich nie enttäuscht. Und wenn mal was schief gelaufen ist, war es immer ein Versäumnis meinerseits. Doch habe ich nie einen Vorwurf gehört. Sie erträgt mich so wie ich bin, mit immer dem gleichen, verzeihenden Lächeln.
Ich versuche ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Es ist nicht schwer, sie stellt keine hohen Ansprüche. Gisell ist genügsam und dankt es mir mit absoluter Treue. So wie ich nie einen Gedanken an eine Andere verschwende.
Einmal ging es ihr wirklich schlecht. Ja, wir kommen alle ein Mal in die Jahre und viele meinten, ich solle mich doch mit dem Unvermeidlichen abfinden. Ich aber setzte Himmel und Hölle in Bewegung, ließ nur die besten Spezialisten zu ihr und diese bewirkten auch tatsächlich ein kleines Wunder. Keiner kann sich meine Freude und Erleichterung vorstellen, als die Enddiagnose "Alles wieder ok" lautete. Ich dankte Gott und allen Engeln.
Vor zwei Tagen stellte Gunther mir seine neue Flamme vor. Nadine. Italienerin? Man sah ihr an, was allein ihr Outfit kostete. Ich wollte nicht wissen, was eine von ihrer Rasse und Klasse an Unterhaltung verschlang. Ein Blick auf ihr Fahrwerk ließ mich schwindeln und ihr Vorbau war in der Tat der Traum eines jeden Mannes. Sie stand nur da, aber das reichte schon, um mit jedem zu kokettieren, der ihren Weg kreuzte.
Gunther nahm mich zur Seite und sagte leise: "Mensch, Frank. Wo Nadine herkommt, gibt es noch andere dieses Kalibers. Ich mach dich mit ihnen bekannt. Vergiss doch Gisell. Mit so einer kannst du niemals in die höheren Kreise aufsteigen. Gisell wird deinem Stand doch nicht gerecht. Ohne Quatsch, was glaubst du, was die anderen für Augen machen werden, wenn du mit einer solchen Schönheit auftauchst? Überleg es dir. Ok?"
Ich habs mir überlegt. Lange und gründlich. Und habe mein Urteil gefällt.
Ich ging in die Garage und erfreute mich an Gisells Anblick. Sie war alt und verbeult, aber ich liebe sie wie am ersten Tag.



Eingereicht am 11. Juli 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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