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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Helena

© Frank Moné


Stefano sah auf seine Armbanduhr. Viertel vor Fünf. Die letzte viertel Stunde bis zum Feierabend war immer die schlimmste. Sie dehnte sich schier endlos und das seit fast zwei Wochen schon. Denn Stefano hat noch etwas vor. Er wollte Helena treffen. Ein richtiges Date war es eigentlich nicht, aber er freute sich trotzdem darauf.
Stefano trat aus dem Bürokomplex hinaus auf die sonnendurchglühte Hauptverkehrsader der großen Stadt. Er musste sich beeilen, die nächste U-Bahn zu bekommen, sonst würde er sich um eine halbe Stunde verspäten. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihm körperliches Unbehagen.
Geschafft. Noch zwei Häuserblocks und er konnte Helena schon von weitem sehen. Er ging nie direkt auf sie zu. Das widersprach seiner introvertierten Art. Hatte er diese Straße erst einmal betreten, ließ er sich Zeit. Schlenderte erst mal an ihr vorbei, um das Gefühl, diese Gewissheit, wiederkehren zu können, zu genießen. Einmal. Zweimal. Aber dann hielt er es nicht mehr aus. Keine zwei Meter vor ihr blieb er stehen und genoss ihr Lächeln, das immer freundlich, immer offen, immer so ehrlich war.
Er fing immer oben an, sie zu bewundern. Sein zärtlicher Blick berührte ihr golden schimmerndes Haar, das lang und glatt bis auf ihre Schultern fiel. Ihre Augen strahlten in einem blauen Glanz, wie man es nur von den Ansichtskarten der Karibik kannte. Er folgte den Konturen ihrer hohen Wangen, liebkoste mit seinem Blick ihre kleine, gerade Nase und saugte sich an diesen herrlichen, vollen, nicht zu roten, Lippen fest. Er stellte sich vor, sie zärtlich mit den seinen zu berühren und die Schmetterlinge in seinem Bauch begannen mit ihrem Tanz.
Dieser zerbrechlich-filigrane Hals, dem man die Majestät ansah, mit welcher er ihr wunderschönes Haupt trug. Diese schmalen Schultern, übergehend in so wohl geformte Arme, die Haut rein und samtig schimmernd. Endend in die zärtlichsten Hände die er sich träumen konnte.
Jedes Mal, wenn er in seiner Bewunderung an diesem Punkt gelangte, sah er schnell weg. Beobachtete das Treiben um ihn herum. Mehr aus Alibi denn aus Interesse. Um sich abzulenken, sich vorzubereiten.
Dann wandte er seine Augen wieder Helena zu. Sie wanderten in ihren Ausschnitt, fuhren erregt die Formen ihrer großen, spitzen Brüste entlang. In Gedanken streichelte er mit seinen Händen ihre Arme, berührte leise, wie zufällig, diese dunklen, festen Knospen, die deutlich den Stoff ihrer Bluse spannten.
Er erschrak über die gewaltigen Gefühle, die urplötzlich, Feuerwellen gleich, seinen Körper durchfluteten und das Blut in seinen Unterleib pressten. Tausende kleiner Schweißtropfen versuchten seinen heißen Körper zu kühlen, während er, in Gedanken, ihren flachen Bauch küsste, weiter wanderte, hinab zu diesem verheißungsvollem Dreieck, in das er seine Männlichkeit wünschte.
Aber ... durfte er solche Gedanken denken? Solche Gefühle fühlen? Würde das nicht ihre, von den Göttern verliehene, Unschuld beschmutzen?
Dreckig kam er sich vor, nicht würdig, auch ihr solcherlei Regungen zu unterstellen.
Dennoch. Diese perfekten Füße. Die schmalen Fesseln. Diese alles versprechenden Schenkel, auch wenn sie ungeöffnet blieben. Gekrönt von einem kleinen, festen Po, dessen Anblick ihn schwindeln ließ.
Ein beleibter, älterer Mann schob sich in sein Blickfeld. Versteckte Helena vor Stefanos Begierden. Auch er bewunderte Ihre Vollkommenheit. Hob eine Hand in ihre Richtung. Und sofort entflammte Stefanos Eifersucht. Heiß explodierte sie in seinem Innern. Verbrannte sein Herz. Raste verzehrend durch seine Adern.
Doch der Mann ging, Helena mit einem letzten Blick genießend, wieder weiter.
So unendlich lange Beine. Darin eingebettet ihr sanfter, unbehaarter Hügel. Diese Lippen, welche, verlockend feucht, ihn zu rufen schienen.
Helena. Willst du mit mir kommen? Darf ich für dich da sein. Alles für dich tun?
Er hätte sie gerne gefragt, doch in ihm bohrte die Angst, dieses engelsgleiche Wesen mit einem unbedachten Wort zu verletzen, mit einer unpassenden Geste zu vertreiben.
Obwohl völlig unsinnig, stellte er sich doch jedes einzelne Mal wieder die gleiche Frage: Würde sie auch für ihn so empfinden können? Nein. Unmöglich. Egal wie er aussah, egal was er darstellte, egal wie viel er ihr würde bieten können, niemals würde sie das Gleiche für ihn empfinden.
Helena konnte das nicht. Keine Schaufensterpuppe konnte das.



Eingereicht am 04. Juli 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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