Mein Onkel Vicente, den wir Winni nannten, um seinen Namen nicht zu verhunzen, liebte keine Frauen. Männer wohl auch nicht. Er war unser Onkel Winni, der keinen brauchte. Ein sexuelles Neutrum. Dachte ich. Wie das Seepferdchen, das sich selbst genügt. Tatsächlich hat er sein Leben gelebt, um für uns da zu sein. Für die billig beschmierten Frühstücksstullen seiner Stiefmutter Oma Gerda Nord hat er auf süße Küsse verzichtet. Jetzt ist er tot. In seinem Grab liegt der Eisbär aus Plüsch, den er mir versprochen hatte. Hab ihn da hinein geschmissen, trotzig, starr, weil ich nicht flennen wollte, obwohl mir da was im Hals steckte, das mein Hirn fressen wollte. Der Pfarrer guckte böse, vielleicht war er aber auch nur angerührt von einer Stimmung, die er nicht kannte. Von einem warmen Gefühl, das Frühling verspricht und in den Lenden eines Abgestorbenen nicht mehr existieren darf. Hermi Weißmüller, die Winni nach dem Tod von Oma Nord immer ein frisch belegtes Brötchen auf die Fußmatte gelegt hat, immer im Papiertütchen, weil sie Plastik hasste, hat bitterlich geweint. Pfarrer Hansen dachte vielleicht, sie sei seine heimliche Geliebte gewesen. Und ich, die mit dem Eisbären, noch eine dazu. Eine frische mit echten Zähnen. Alter Schlawiner. Pfarrer Hansen heulte zur Sonne, wie sie das machen, wenn sie müssen. Ich musste nicht, dachte an mein Versprechen, mit ihm nach Amerika zu fliegen, da wollte er hin. Sprach kein Wort Englisch, war aber der Beste im Kreuzworträtseln. Kannte alle Politiker beim Vornamen, kaufte mir mein erstes Gold, das um meinen Hals hing und dort immer noch hängt, obwohl das Schwere, Auffällige es bescheiden macht, das Mode wurde. Ich bettelte ihm meinen Käfer ab, der grün mit dicken Angeberreifen war, schwor ihm, zu dolmetschen wie der Teufel, wenn wir erst einmal da sind, irgendwo auf dem Highway, wo wir Sommer atmen können. Hat Winni die Jahreszeiten wittern können? Vicente Enrique Llano-Garcia, das schmilzt auf Zungen, die kühl und nordisch sind. Er klang so verheißungsvoll, er war schön. Ist abe nie dem Ruf der Wildnis gefolgt. War unser zweiter Vater, hat meiner Mutter die Wange gestreichelt, wenn sie allein war und gegen den Wind anschrie. Seiner Schwester. Vielleicht hat er sich sein Glück gesucht, geholt, irgendwo in schmuddeligen Hinterzimmern, wo Liebe versprochen wird. Schäme mich dafür, daran zu denken, wie er sich Sex besorgt hat. Denke, auch er hat nachts das Verlangen gespürt. Nachts, wenn der Kopf herumspukt und nach unserer Lust greift wie ein Alptraum mit langen Krallen, der sich festbeißt in uns, bis wir vor Wonne glänzen und schreien. Schwitzen im banalen Strahl einer Taschenlampe. Bis wir merken: Das ist gar kein Horror, der da lacht, wenn wir brüllen und es herrlich finden.
Warum wünscht sich ein Mädchen in einer Leichenhalle zu liegen und aufzuwachen in einem weißen Nachthemd aus Spitze, das dem Totenhemd ihrer Tante ähnelt? Wer ist der Tote Mann auf dem Bett, in dessen Hals ein Schraubenzieher steckt? Wem gehört der Ring, der im Garten unter einer Zeder vergraben wurde? Kann ein harmloser Teddybär zum Mörder werden? Warum kann es verhängnisvoll sein, ein Einmachglas fallen zu lassen oder als Kind an seinem Zeh zu lutschen? Wer waren die Personen, die auf dem alten Gemälde ohne
Augen dargstellt sind und was ist ihr Geheimnis? …
Karin Reddemanns Geschichten erwecken alltägliche Ängste und düstere Bilder und entführen den Leser in eine verstörte und verstörende Welt.