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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Verlorene Kindheit

© Hannelore Sagorski


Gleichmäßig prasselt der Regen auf Bäume und Sträucher, fällt auf meinen Kopf, und vermischt sich mit den Tränen, die mir über die Wangen laufen. Alle anderen Beerdigungsgäste sind schon gegangen, aber ich wollte noch ein wenig bleiben, um mich in Ruhe zu verabschieden, von einem Bruder, den ich eigentlich nie richtig gekannt habe. Vor einer Woche wurdest du durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen, und es war mir nicht möglich, meinen inneren Frieden mit dir zu machen. Deshalb rede ich jetzt mit dir, und ich hoffe, du nimmst meine Worte mit, auf deine lange Reise in eine andere Welt.
Unsere gemeinsame Kindheit stand unter keinem guten Stern. Du warst ein gutes Jahr älter, und ich habe schon sehr früh gespürt, du musst etwas ganz Besonderes sein. Ständig drehte sich alles nur um dich, den Stammhalter, du warst der Sonnenschein unserer Eltern. Kam Besuch, wurdest du aufs herzlichste begrüßt. Man nahm dich auf den Arm, schleuderte dich in die Luft, um dich anschließend wieder aufzufangen. Ich wurde dagegen mit einem daher genuscheltem "Hallo Biene" begrüßt. Dabei habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als auch einmal durch die Luft zu fliegen. Als ich einmal zaghaft gefragt habe, ob ich auch mal fliegen darf, bekam ich zur Antwort "Du bist noch zu klein, und außerdem ein Mädchen". Das waren meine ersten Erinnerungen an unsere Kindheit. Richtig schlimm wurde es mit Beginn der Schulzeit. Da wir weit außerhalb des Ortes wohnten und jeden Tag fünf Kilometer mit dem Fahrrad durch die Feldmark zur Schule fahren mussten, bekam Mama kurzerhand beim Schulamt eine Sondergenehmigung, uns gemeinsam einschulen zu lassen. So wurde ich kurz nach meiner Einschulung gerade sechs Jahre alt, und die Schule war für mich nur ein großer Spielplatz. Du dagegen warst sehr diszipliniert, hast alle Aufgaben immer auf Anhieb lösen können. Es verging kein Tag mehr, an dem du mir nicht als Vorbild vor die Nase gehalten wurdest. Ich konnte den Satz "Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder" nicht mehr hören. Anfangs habe ich mir ja noch Mühe gegeben, aber du warst trotz all meiner Anstrengungen immer einen Tick besser. Dabei wollte ich doch auch nur ein bisschen Anerkennung, aber Lob hast nur immer du bekommen, und mich dabei auch noch frech angegrinst. Ich begann dich zu hassen, ja, an manchen Tagen hätte ich dich eigenhändig erwürgen können, vor allen Dingen dann, wenn du meine ganzen Schandtaten aus der Schule zuhause verpetzt hattest. Es verging kaum ein Tag an dem ich nicht nachsitzen musste, oder Strafarbeiten schreiben. Nur du warst Schuld an meiner Misere, und mein Hass steigerte sich von Tag zu Tag. In der Schule konnte ich dir nicht aus dem Weg gehen, wir gingen ja in die gleiche Klasse, aber in der Freizeit wollte ich mit dir nichts zu tun haben. So entfernten wir uns immer weiter voneinander. Auch die Ungerechtigkeiten zuhause, ich musste ständig helfen, aber dir hat Mama jede Kleinigkeit abgenommen, schließlich warst du ein Junge, und der hat es nicht nötig im Haushalt zu helfen. Oft habe ich mir gewünscht, auch ein Junge zu sein, habe bittere Tränen geweint, weil dieser Wunsch wohl nie in Erfüllung gehen würde.
Und der Weg zur Frau schritt unaufhaltsam voran. Als einer deiner Freunde, auf dem Schulhof, mal sagte "Mann, deine Schwester hat aber schon ganz schön große Titten" bin ich ausgerastet, habe mich auf ihn gestürzt, und ihn verprügelt, bis ihm das Blut aus der Nase lief. Anschließend bin ich nach Hause gelaufen, habe mich in meinem Zimmer ausgezogen, und vorm Spiegel betrachtet. Dein Freund hatte Recht, mein Busen war schon ganz schön groß. Aber ich wollte keinen Busen, und ich wollte auch kein Mädchen sein. Ich hasste diese Gestalt, die mir aus dem Spiegel entgegen sah. Die langen schwarzen Zöpfe, die sich über meinem Busen kringelten, einfach furchtbar. Ich holte eine Schere und schnitt meine langen Haare ab, so kurz es ging. Danach sah ich aus wie ein gerupftes Huhn, aber ich fühlte mich gut dabei. Als Mama mich so sah, schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Ab diesem Tag trug ich nur noch Hosen und weite Pullover, und wehe, einer der Jungen in der Schule machte eine dumme Bemerkung über mich, der bekam gnadenlos auf die Fresse. So schaffte ich es in kurzer Zeit, dass alle Jungen einen großen Bogen um mich herum machten. Für mich ein Triumph, denn ich hasste alle Jungen dieser Welt. Warum nur, waren sie so viel mehr wert als ein Mädchen.
Richtig frei fühlte ich mich aber erst nach Abschluss der Schule. Endlich konnte ich mich so geben wie ich war, brauchte keine Angst mehr zu haben, dass alles was ich sagte, oder tat, zu Hause wieder auf den Tisch kam.
Unsere Wege trennten sich, du gingst weiter zur Schule, und ich begann eine Lehre in einem Kaufhaus. Wir liefen uns nur noch selten über den Weg, und wenn, dann gingen wir wortlos aneinander vorbei. Du warst mir einfach egal, vielleicht ein Wurm, den man mit den Füßen zertritt. So habe ich jedenfalls damals empfunden. Gleich nach Ende meiner Ausbildung suchte ich mir ein eigenes Zimmer und zog aus. Ich wollte weg von zuhause, fühlte mich hier als Fremdkörper. Du warst zwar nicht mehr sichtbar, aber Mama erzählte ständig von dir, dem Supersohn, ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.
Meine Freundinnen hatten fast alle einen festen Freund, man traf sich nur noch selten, und so war ich immer mehr allein. Diese Zeit nutzte ich zum Nachdenken, und mir wurde nach und nach bewusst, dass es ja gar nicht deine Schuld war, wenn du gute Noten geschrieben hast, oder wenn Mama sich nur um dich gekümmert hat. Was konntest du dafür, wenn dir alle Herzen zugeflogen sind, während ich immer am Rand stand. So konnte ich im Laufe der Zeit meine Hassgefühle abbauen, und es gelang mir sogar unbefangene Gespräche mit einem Mann zu führen.
Zwei Jahre später lernte ich Bernd kennen. Er war der erste Mensch, bei dem ich gespürt habe, was es heißt, geliebt oder gelobt zu werden. Ein wunderschönes Gefühl, nach dem ich mich immer gesehnt hatte, und es war noch viel schöner als ich mir erträumt habe. Bernd wurde meine große Liebe. Wir heirateten und bekamen zwei Kinder. Geld hatten wir nie viel, aber wir waren zufrieden mit unserem Leben. Obwohl wir uns fast nie gesehen haben, wusste ich gut Bescheid über dich. Beim Besuch unserer Eltern gab es immer nur ein Thema, und das warst du. Ich sehe noch heute Mutters leuchtende Augen vor mir, wenn sie erzählt hat, dass du schon Marktleiter geworden bist, ein Haus gekauft hast, und mindestens zwei- bis dreimal in Urlaub gefahren bist. Mutter war sooo stolz auf dich, aber ich hatte eigentlich nur Mitleid mit dir. Du warst schon über vierzig und hattest es nicht geschafft eine Partnerschaft aufzubauen. Ja, Geld hattest du genug, aber du warst allein und einsam. So allein, wie ich früher. Nur ich konnte spüren, wie du dich fühlst, und es tat mir so weh. Gern hätte ich mich mit dir ausgesprochen, aber wenn wir uns trafen kam nur ein belangloses Bla bla zusammen. Die Mauer zwischen uns war einfach noch zu hoch. Ich habe gedacht, die Zeit wird's schon richten. Aber jetzt ist es zu spät, da liegst du vor mir, in diesem schrecklichen Eichensarg, und ich werde dir nie sagen können, dass ich dich im Grunde meines Herzens geliebt habe.



Eingereicht am 28. Juni 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


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