Der kleine Burgherr
© Herbert Schick
"Baust du mir eine Burg?"
Andreas wird etwas unsanft aus seinen Träumen gerissen. Er sitzt gerade auf einer Bank am Flussufer und genießt einen angenehm warmen Sommernachmittag, in dem Versuch, den Stress von sich abzuschütteln, den er gerade während seiner Prüfung hat. Er ist momentan dabei, seine Ausbildung abzuschließen, und nun versucht er, nach einem Vormittag gefüllt mit Fragen und Lösungsansätzen seine Seele etwas baumeln zu lassen. Andreas stellt sich gerade vor, wie das kommende Wochenende verlaufen wird, an dem er mit seiner
Freundin verabredet ist. Sie haben vereinbart, nach der Prüfungszeit ein paar Tage völlig alleine und ungestört miteinander zu verbringen, und dafür war das folgende Wochenende gerade dazu angebracht, da seine Eltern während dieser Zeit verreist sein werden. Andreas stellt sich vor, wie Simone am Freitagabend vor seiner Haustür steht, während auf dem Wohnzimmerboden vor dem Kamin eine Flasche Sekt kühlgestellt ist. In den vergangenen Wochen hatte Andreas sehr wenig Zeit für Simone, da er sich voll und ganz auf
seine Abschlussprüfung konzentrieren wollte. Seine Freundin hatte dafür Verständnis, und deswegen hat er ihr ein Wochenende versprochen, an dem sie nur für sich alleine sein werden, um die vergangene Zeit ein wenig nachholen zu können. Und während er nun so gedankenversunken auf der Bank sitzt, die Beine von sich gestreckt, sich etwas zurückgelehnt und die Augen geschlossen hält, während er sein Gesicht der Sonne zuwendet, steht plötzlich ein kleiner Junge von gerade mal 6 Jahren vor ihm und reißt ihn mit seiner
klaren hohen Kinderstimme in die Realität zurück. Andreas benötigt eine Sekunde, um sich erst mal wieder darüber bewusst zu werden, wo er eigentlich ist, als er vor sich einen Buben mit blonden, etwas wuscheligen Haaren sieht, der mit einer Kinderschaufel in der Hand einen Meter von Andreas entfernt steht.
"Sprichst du mit mir?", will Andreas wissen, etwas erstaunt über den Jungen.
"Klar spreche ich mit dir", entgegnet der Kleine und redet mit leuchtenden, etwas erwartungsvoll wirkenden Augen weiter: "Baust du mir eine Burg?"
"Wie meinst du das? Wo soll ich dir eine Burg bauen?"
Andreas denkt bei diesem Anblick sofort an das Märchen vom kleinen Prinzen, der mitten in der Wüste einen Piloten darum bittet, ihm ein Schaf zu zeichnen. Und nun steht ein ebenso kleiner Junge vor ihm und will eine Burg haben.
"Na da drüben. Wo denn sonst." Der kleine Junge zeigt mit seiner Hand auf einen Sandkasten, der etwa 15 Meter von Andreas entfernt ist.
Andreas schaut sehr ungläubig erst auf jenen Sandkasten, dann zu dem Jungen zurück und blickt diesen sehr erstaunt an.
"Meinst du jetzt etwa tatsächlich mich?" Andreas hofft, mit dieser Frage den Jungen dazu zu bewegen, seine Idee schnell wieder zu vergessen und jemand anders zu belästigen, denn jetzt im Sandkasten zu spielen ist so ziemlich das Letzte, worauf Andreas Lust hat.
"Natürlich meine ich dich. Du hast doch gerade Zeit, oder weswegen sitzt du hier so rum und machst nichts?"
"Na hör mal, nur weil ich hier sitze, heißt das noch lange nicht, dass ich nichts mache!" Andreas möchte dem Jungen, der wohl etwas vorlaut zu sein scheint, mit etwas deutlichen Worten seine Meinung sagen über dessen Art, doch das vermeidet er und meint lediglich in einem abweisenden Tonfall: "Nein, du, dazu hab ich echt keine Lust. Such dir doch einen anderen Spielkameraden."
"Ach Mann ...", sagt der Junge nun in einem enttäuschten Tonfall und senkt dabei seinen Blick auf den Boden. "Keiner spielt mit mir."
Andreas bekommt bei dieser Reaktion sofort ein schlechtes Gewissen über die Enttäuschung, die er dem Jungen eben bereitet hat und ärgert sich gleichzeitig wieder mal über seine Art, sich leicht von jemandem zu etwas überreden zu lassen, denn solche Enttäuschungsreaktionen lassen die Meinung von Andreas sehr schnell ändern. Er sieht in die Augen des Buben und denkt sich, wie bescheuert es wohl aussieht, wenn er sich zusammen mit ihm in den Sandkasten setzt. Doch dann denkt sich Andreas, dass er tatsächlich in
den nächsten Stunden nichts Besseres zu tun hat und gibt sich einen Ruck. "Na gut, wenn du willst, dann komm ich ein paar Minuten mit."
"Au ja, das wäre toll..."
In den Augen des Jungen erstrahlt plötzlich eine ansteckende Freude, und er nimmt Andreas an der Hand, um ihm direkt in die Sandkiste zu führen in der Annahme, Andreas würde ohne ihn den Weg nicht finden. Während die beiden zum Sandkasten laufen, erklärt der Junge Andreas ganz genau, wie die Burg aussehen soll, die sie nun bauen, mit einem großen Palast, einem mächtigen Turm, einer großen Mauer und natürlich einem Burggraben, den man danach noch mit Wasser füllen muss. "Und eine Zugbrücke musst du mir
auch bauen, die ist ganz wichtig, damit die bösen Feinde nicht in die Burg einbrechen können.", sagt der kleine Junge am Ende seiner Burgbeschreibung.
Andreas fühlt sich etwas fehl am Platz, hat er doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Sandkasten gespielt. Aber er versucht, sich nichts davon anmerken zu lassen, dass er am liebsten sofort gehen und den Jungen sich selbst überlassen würde. Als die beiden im Sandkasten angekommen sind, bekommt Andreas von dem Jungen eine Schaufel in die Hand gedrückt.
"Wir müssen jetzt erst mal hier in der Mitte ganz viel Sand auftürmen, das wird dann der große Palast, und neben ihn bauen wir dann den großen Turm. Das macht bestimmt Spaß."
Andreas kostet es Mühe, seinen Widerwillen zu überwinden, und er beginnt, langsam und zaghaft nach den Anweisung eines kleinen Kindes Sand auf einen Haufen zu schaufeln. Er fühlt ein leichtes Unbehagen in sich, als er daran denkt, welchen Anblick er mit dieser Sandschaufel in der Hand den übrigen Passanten bietet. Aber dem Jungen scheint er eine große Freude zu bereiten, denn er ist mit einem großen Eifer beim Spiel, und Andreas erkennt ein glückliches Lächeln in seinem Gesicht.
"Wie heißt du eigentlich?", will der Junge wissen.
"Ich bin Andreas."
"Mein Name ist Tom. Wohnst du schon lange hier?"
"Nein, gar nicht. Ich bin nur bis morgen hier."
"Wieso das? Bist du auf Besuch bei jemandem hier?" Tom stellt seine Fragen, ohne mit dem Schaufeln aufzuhören.
"Nein, ich schreibe gerade meine Abschlussprüfung. Und wenn ich morgen den letzten Teil geschrieben habe, fahre ich wieder nach Hause."
"Ach so."
Andreas betrachtet aus seinen Augenwinkeln heraus den Jungen und erinnert sich plötzlich selbst an seine eigene Kindheit zurück, als er noch mit Elan im Sandkasten gespielt und mit seinen Freunden Burgen und Türme gebaut hat.
Tom ist mit einem Eifer und einer beachtlichen Perfektion dabei, aus dem unförmigen Haufen Sand, der sich gerade mitten im Sandkasten befindet, ein Gebäude zu formen. Und Tom beginnt dabei, Andreas zu beschreiben, wo das Burgfräulein sein Zimmer hat und wo sich der Thronsaal befindet. "Und da bauen wir jetzt den großen Turm hin. Weißt du, jede Burg hat einen großen Turm, wo sich die Leute hinflüchten können, wenn Feinde da waren"
"Ich weiß, das ist der Bergfried."
"Wie heißt das?" Tom konnte den Worten von Andreas nicht ganz folgen, und Andreas erklärt dem kleinen Jungen, wie der Turm genannt wird, den Tom als den großen Turm beschreibt.
"Echt? Ich hab gar nicht gewusst, dass der einen eigenen Namen hat. Klingt irgendwie lustig: Bergfried." Das Wort Bergfried hat Tom ganz lang gezogen, so als wolle er dieses langsam noch mal für sich aufsagen, damit er es sich merken kann.
"Klar hat der einen eigenen Namen, so wie überhaupt alles an einer Burg einen eigenen Namen hat.", entgegnet Andreas. "Die äußere Mauer zum Beispiel wird Wehr- oder Ringmauer genannt. Und das Burgfräulein hat übrigens kein Zimmer, sondern eine Kemenate."
Und so beginnt nun Andreas, Tom langsam alles zu erklären, was er über Burgen kennt, während die beiden zusammen ihre eigene Burg aus Sand bauen. Tom hört ihm gespannt und interessiert zu und stellt allerlei Fragen zu dem, was Andreas ihm erzählt. Und Andreas findet plötzlich Gefallen daran, mit Tom eine Sandburg zu bauen und ihm dabei alles Mögliche dazu zu erklären. Andreas beginnt, Tom in für diesen Jungen verständlichen Worten zu erzählen, wie in früheren Zeiten Burgen gebaut wurden, wie die Menschen darin
lebten und welche Anstrengungen der Alltag mit sich brachte. Tom kann gar nicht genug davon hören und stellt Andreas immer weitere Fragen über dieses Thema. Er möchte alles wissen von den Rittern und den Königen.
Es sind bereits zwei Stunden vorüber, als Andreas eher beiläufig auf seine Armbanduhr blickt und darüber staunt, wie schnell die Zeit vergangen ist.
Seine anfangs ablehnende Haltung gegenüber dem Sandkastenspiel hat sich im Laufe der Zeit schnell in Spaß gewandelt. Andreas gefällt es nun regelrecht, mit Tom diese Burg zu bauen, die mittlerweile fast fertig ist und den gesamten Sandkasten einnimmt. Und Tom ist ebenso begeistert davon, nicht nur wegen dem Spiel, sondern auch, weil er viele neue Dinge über richtige Burgen gelernt hat.
Als Andreas gerade fragen möchte, wann Tom nach Hause muss, ruft dieser voller Begeisterung: "Hallo Tante Anni."
Andreas bemerkt, wie sich eine elegant gekleidete Dame mittleren Alters mit einem freundlichen Lächeln auf Tom zuläuft. Tom steht auf und rennt so glücklich, wie einfach nur ein kleines Kind glücklich sein kann, auf die Dame zu und fällt ihr in die Arme. Andreas hat erst geglaubt, sie wäre Toms Mutter, allerdings würde er sie dann wohl nicht mit ‚Tante' anreden.
"Sieh mal, was wir gebaut haben." Tom ist sichtlich stolz auf die Burg, die er zusammen mit Andreas gebaut hat.
Seine Tante beugt sich zu ihm herunter und nimmt ihn zärtlich und liebevoll in den Arm. "Sie haben sich wohl Zeit für meinen Neffen genommen. Haben sie vielen Dank dafür.", sagt die Dame mit einem freundlichen und weichen Ton zu Andreas.
Dieser ist mittlerweile aufgestanden und hat sich, während er ihr die Hand reicht, vorgestellt. "Das war fast ein Vergnügen."
Als Andreas gerade erklären wollte, wie es zu diesem gemeinsamen Spiel zwischen ihm und Tom gekommen ist, sagt Toms Tante zu Andres: "Mein Neffe lebt noch nicht sehr lange hier und hat deswegen noch kaum Freunde und Spielkameraden gefunden. Deshalb nochmals vielen Dank, dass sie sich ein wenig Zeit für ihn genommen haben."
Andreas wollte nun wissen, aus welchem Grund Tom bei seiner Tante zu leben scheint und bekommt eine Antwort, mit der er aufgrund Toms glücklichem Verhalten während der letzten Stunden nicht gerechnet hat. "Seine Eltern sind vor drei Monaten bei einem Verkehrsunfall gestorben, deswegen habe ich Tom zu mir genommen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn in ein Heim zu geben. Nun hoffe ich nur noch, dass er sich hier schnell einlebt." Und mit einem freundlichen Gruß verabschiedet sich die Dame und
geht mit Tom an ihrer Hand ihres Weges.
"Tschüss, Andreas.", verabschiedet sich auch Tom, mit einem fröhlichen Ausdruck in seinem Gesicht.
Einen Tag später ist Andreas wieder auf dem Heimweg. Er sitzt in seinem Zugabteil und betrachtet gedankenversunken die Landschaft, die an ihm vorbeifliegt. Den Stress seiner Prüfungsarbeit hat er endlich hinter sich gebracht, schließlich waren die Ergebnisse, die er von den Prüfern bekommen hat, zufriedenstellend. Nun freut er sich erst mal auf seine Freundin, mit der er endlich wieder mehr Zeit verbringen kann, und er freut vor allem erst mal auf das gemeinsame Wochenende, das vor ihnen liegt. Allerdings muss
Andreas auch immer wieder an Tom zurück denken, an diesen kleinen Jungen, der urplötzlich für einen kurzen Augenblick in sein Leben getreten ist und ebenso schnell wieder weg war, eine flüchtige Zufallsbekanntschaft eben, wie sie häufig irgendwo entsteht. Während man jedoch die allermeisten solcher Begegnungen schnell wieder vergisst, ist es hier anders. Denn Andreas wird diesen kleinen jungen nie mehr vergessen, trotz dieser sehr kurzen Begegnung. Denn während dieser geringen Zeit hat Tom ihm mit seiner unbekümmerten
Fröhlichkeit eines gelehrt, das Andreas für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen wird: man kann alles im Leben ertragen - wenn man das Lachen nicht verliert.
Eingereicht am 25. Juni 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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