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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Erinnerung

© Orion


"Gib' mal das Brett hoch!", rief ich, während ich versuchte, meinen schönen, stabilen und langen Ast festzuhalten, den ich zuvor neben dem Weiher gefunden hatte. Von unten hörte ich Volker rufen: "Aber wie willst Du's festmachen? Darf man da Nägel reinschlagen? Das ist bestimmt verboten." Ob das nun verboten war oder nicht - die Vorstellung eines Brettes auf unserem Lieblingsbaum gleich neben dem Sportplatz war einfach zu gut, als dass sie von solch banalen Gedanken verdrängt hätte werden können. Eine Bank auf seinem Baum - so was hatte nun mal nicht jeder. Da konnte man bequem Ausschau halten nach möglichen Feinden und fiesen Sumpfmonstern - oder ab und zu mal in Ruhe eine saure Gummischlange vom Spar-Markt verdrücken. "Ey, schau' mal! Nächste Woche ist was Cooles im Yps!" Mein Bruder kam durch das hohe Gras und Buschwerk angelaufen und hatte unsere Lieblingslektüre in der Hand. "So eine Klebe-Hand - die bleibt überall hängen!" Ich nahm Volker das Brett ab und klemmte es zwischen zwei Äste - Nägel hatte ich ohnehin keine dabei. "Aber die verfusseln immer so schnell und wenn man sie dann sauber macht, kleben die nicht mehr", sagte ich und setzte mich auf meine schicke Baum-Bank. "Boah, schau mal!" Volker hatte anscheinend etwas Sehenswürdiges gefunden und stand gaffend vor dem kleinen Bächlein, dass hinter dem Baum floss. "Ist das eine Eidechse?" Mein Bruder kam zu ihm und auch ich kletterte von dem Baum - meine Zimmermannsarbeit war vorerst beendet. "Nein, das ist ein Molch oder so." Nachdem wir das arme Tier ein paar Minuten befummelt hatten - sah Volker auf die Uhr. "Noch 'ne halbe Stunde, dann kommt Knight Rider. Gehst Du noch mal in's Tor?" "Ja, wo sind meine Handschuhe?" Ich fand sie bei unseren Fahrrädern und während Volker den Ball aus seinem übergroßen aber sehr praktischen Gepäckständer-Koffer kramte, schlenderten ich und mein Bruder schon mal zum staubigen Fußballplatz. Es war ein wunderschöner Abend. Die Sonne stand tief - nicht mehr lange und es würde dunkel werden. Der Wald hinter dem Sportplatz rauschte und die alte rostige Walzmaschine leuchtete in einem zarten Orange neben dem Tennisplatz.

Jetzt, über 10 Jahre später, stehe ich an der gleichen Stelle. Die Abende sind schon lange nicht mehr so schön, oder ich bemerke es nur einfach nicht mehr. Der Sommer schien damals eine unfassbar lange Zeit zu dauern. Ich kann diese drei Kinder fast hören, die mir jetzt so fremd erscheinen. Der Baum ist nicht mehr da und ich sehe viel häufiger auf die Uhr als damals. Wieso ich gerade heute zu diesem Platz gekommen bin, weiß ich nicht. Vielleicht wollte ich nur noch einmal auf unserem Baum sitzen.



Eingereicht am 20. Juni 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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